Forschung
28.03.2017
Tiefe neuronale Netze
1. Teil: „Künstliche Intelligenz im täglichen Einsatz“

Künstliche Intelligenz im täglichen Einsatz

Roboter an der TastaturRoboter an der TastaturRoboter an der Tastatur
Jinning Li / Shutterstock.com
Systeme mit Künstlicher Intelligenz erledigen heute schon vieles besser als Menschen. com! professional spricht mit dem KI-Experten Jürgen Schmidhuber über die Möglichkeiten der Technologie.
  • KI: Jürgen Schmidhuber, wissenschaftlicher Direktor des Schweizer Forschungsinstituts für Künstliche Intelligenz.
    Quelle:
    FAZ/Bieber
Künstliche Intelligenz steht hoch im Kurs. Goo­gle, IBM und Co. geben sehr viel Geld für KI-Know-how aus. Warum? Weil Künstliche Intelligenzen schon heute vieles besser und schneller erledigen, als Menschen das je könnten.
Bewiesen hat dies unter anderem Jürgen Schmidhuber. Er ist wissenschaftlicher Direktor des Tessiner Forschungsinstituts IDSIA, das schon seit 1988 Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Artificial Intelligence (AI) betreibt. Heute zählt das „Istituto Dalle Molle di Studi sull’Intelligenza Artificial“ weltweit zu den besten Forschungsinstituten auf diesem Gebiet und seine Mitarbeiter haben schon viele Preise eingeheimst – zuletzt den Special-Award des Branchenverbands SwissICT.
Wir haben mit Jürgen Schmidhuber darüber gesprochen, was seine neuronalen Netze können, warum andere damit Geld verdienen und wo der Mensch dabei bleibt.
com! professional: Können Sie erklären, was Sie und Ihr Institut genau machen und wo Ihre Technologie eingesetzt wird?
Jürgen Schmidhuber: Wir entwickeln selbstlernende künstliche neuronale Netze – und die werden heute fast überall eingesetzt. 
com! professional: Geht es etwas genauer?
Schmidhuber: Unsere neuronale Deep-Learning-KI erledigt schon heute manche Aufgabe besser als Menschen. Automatisch entdeckt sie Tumorzellen in menschlichem Gewebe, erkennt Sprache, Handschrift oder auch Verkehrszeichen für selbstfahrende Autos, sagt Aktienkurse vorher, übersetzt Texte oder steuert Ro­boter für die Industrie 4.0. Google, Microsoft, IBM, Baidu und viele andere Firmen verwenden heute unsere Verfahren, die unter anderem die beste Handschrifterkennung, Spracherkennung, maschinelle Übersetzung oder Bilderkennung ermöglichen. Letztere kommt zum Beispiel bei selbstfahrenden Autos oder bei der Krebsfrüherkennung zum Einsatz. Milliarden Smartphone-Nutzer können unsere tiefen Netze tagtäglich einsetzen, etwa für Spracherkennung und maschinelle Übersetzungen. Unsere automatischen Problemlöser werden zusehends vielseitiger – und in ein paar Jahrzehnten wohl über mehr rohe Rechenkraft verfügen als alle Menschenhirne zusammen.
com! professional: Aber wie macht die Deep-Learning-KI das?
Schmidhuber: Ihr Kortex hat über 10 Milliarden Neuronen, jedes einzelne verbunden mit 10.000 weiteren. Einige davon sind Eingabe-Neuronen, die andere Neuronen mit Daten füttern (etwa Geräusche, Bilder, Berührungen, Schmerz, Hunger). Andere sind Ausgabe-Neuronen, die Muskeln aktivieren. Die meisten Neuronen liegen dazwischen und sind für das Denken zuständig. Gelernt wird durch das Stärken oder Abschwächen der Verbindungen zwischen den Neuronen. Ähnliches gilt für unsere künstlichen rückgekoppelten neuronalen Netze (RNN), die heute beispielsweise Sprache oder Handschrift erkennen, Autos fahren und so weiter.
com! professional: Es sind vor allem US-Firmen, die mit Ihrer Forschung Geld verdienen. Warum keine Schweizer?
Schmidhuber: Es ist wie beim World Wide Web. Das wurde auch in der Schweiz von einem Immigranten entwickelt, aber das große Geld macht man damit am „Pacific Rim“, an der Westküste Amerikas und der Ostküste Asiens. In der Schweiz ist die Grundlagenforschung sehr stark, aber es hapert am Wagniskapital. Es ist recht einfach, in der Schweiz eine Firma zu gründen, aber schwieriger, sie mit einheimischer Risikofinanzierung zu skalieren – vielleicht, weil die Schweizer Milliardäre konservativer investieren als die im Silicon Valley. Unsere eigene Firma NNAISENSE kriegt viele Anrufe vom Pazifikufer, doch kaum welche aus der Schweiz.
com! professional: Das KI-Unternehmen DeepMind wurde nur durch Ihr Institut ermöglicht und für über 600 Millionen Dollar an Google verkauft. Apple, IBM und Yahoo kauften ebenfalls Firmen, für deren Technologie Sie Grundlagen­arbeit leisteten. Seit letztem Jahr sind Sie selbst Start-up-Unternehmer. Ist es der Lockruf des Geldes? Oder weshalb wollen Sie nicht mehr nur forschen?
Schmidhuber: Wäre ich nicht Entrepreneur geworden, würden mir die großen IT-Firmen die besten Leute durch Traumgehälter abwerben. Mit einer Firma, deren Mitarbeiter einen derartigen „track record“ vorweisen können und die so ambitioniert wie unsere die ultimative, weltverändernde KI-Plattform schaffen will, hat man Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, die über die akademische Förderung hinausgehen.
com! professional: In diesem Heft (Seite 74) sagt Professor Toni Wäfler: „Wir stecken sehr viel Geld in Künstliche Intelligenz, um natürliche Intelligenz zu ersetzen. Sollten wir nicht eher mindestens gleich viele Mittel in die natürliche Intelligenz investieren und noch viel mehr, um diese beiden zu kombinieren?“ Was erwidern Sie darauf?
Schmidhuber: Es wird ja sowieso immer noch viel mehr Geld in natürliche Intelligenz gesteckt. Was meinen Sie, wie viele Tausende von Milliarden die weltweiten Bildungsprogramme kosten? Die paar Milliarden für KI-Forschung können da nicht mithalten. Das mit der Kombination natürlicher und künstlicher Intelligenz geschieht schon längst. Wer heute auf dem Handy per flotter Spracherkennung Zugang zu fast allem publizierten menschlichen Wissen hat (Wikipedia und so weiter), ist effektiv klüger als der, der vor wenigen Jahrzehnten erst eine Bibliothek zum Nachschlagen finden musste.
com! professional: Sie sagten einst, dann aufhören zu wollen, wenn Sie eine Maschine entwickelt haben, die klüger ist als ein Mensch. Nun sind Sie 53, in zwölf Jahren wären Sie in Rente. Frühpensionär werden Sie kaum noch, oder?
Schmidhuber: Na ja, das Rentenalter wird ja ständig erhöht, weil die Leute länger gesund bleiben. Wir werden aber in wenigen Jahrzehnten wirklich KI erleben, die den Menschen in fast jeder nennenswerten Hinsicht übertreffen werden.
com! professional: Gibt es etwas, bei dem Sie denken, dass die Maschine den Menschen nicht kopieren kann – oder sollte?
Schmidhuber: Oder sollte? Ja. Ich will aber lieber nicht darüber reden.
com! professional: Sagen Sie uns dann wenigstens, auf welche Entdeckung Sie besonders stolz sind?
Schmidhuber: Ich glaube, ich habe die simplen mathematischen Prinzipien von Neugier, Kreativität, Wissenschaft, Kunst und Humor begriffen, sodass wir nun künstliche Wissenschaftler und Künstler bauen können. Ich habe auch die ersten rekursiven Selbstverbesserer entworfen, die nicht nur was lernen, sondern auch, wie man den Lernalgorithmus selbst verbessert – als Grundlage einer Superintelligenz, deren einzige Grenzen die seit Gödel bekannten Grenzen des Berechenbaren sind.
Und ich bin natürlich stolz auf die tiefen rückgekoppelten neuronalen Netze, die mein Team mit meinen unglaublich tollen Doktoranden seit den frühen 90ern in München und der Schweiz entwickelt hat und die nun Milliarden von Nutzern zugänglich sind, etwa bei der Übersetzung von einer Sprache in die andere oder der automatischen Bildbeschreibung.
Zur Person
Jürgen Schmidhuber ist wissenschaftlicher Direktor des Schweizer Forschungsinstituts für Künstliche Intelligenz IDSIA und Professor für Artificial Intelligence an der Universität Lugano. Zuvor leitete er das Cognitive Robotics Lab an der TU München.
Außerdem ist er Mitgründer und Präsident von NNAISENSE, einem Start-up, das praxistaugliche KI-Systeme entwickeln will (https://nnaisense.com).
2. Teil: „Macht KI den Menschen ersetzbar?“

Macht KI den Menschen ersetzbar?

com! professional: Sie selber sagen, wenn Maschinen intelligenter werden als Menschen, könne man sie nicht mehr kontrollieren. Ihr Forschungsbereich wird daher mit viel Skepsis betrachtet. Zweifeln Sie nie am Kosten-Nutzen-Verhältnis Ihrer Arbeit?
Schmidhuber: Kaum. Vor Hunderttausenden von Jahren wurden nach der Erfindung des kontrollierten Feuers ähnliche Fragen gestellt. Es fiel damals auf, dass das Feuer sehr nützlich sein kann, denn es hält einen warm und man kann damit kochen. Aber es lassen sich damit auch Menschen verbrennen und Waldbrände verursachen. Daher wurde seinerzeit eine Ethikkommission eingesetzt, um die Pros und Kontras des Feuers abzuwägen. In ihrem Abschluss-Communiqué kam die Kommission zu dem Schluss, dass die Gefahren der neuen Technik zwar im Auge zu behalten seien, dass man aber dennoch mit der Weiterentwicklung des Feuers voranschreiten sollte, nicht zuletzt deswegen, weil der Fortschritt sowieso unaufhaltsam schien. So geschah es und deswegen sind wir heute hier und stellen uns wieder derartige Fragen.
com! professional: Mit KI werden heute schon Menschen getötet …
Schmidhuber: Das klingt schlimm. Mir wurde gesagt, dass auch unser LSTM (Long short-term memory) da eine Rolle spielt. Armeen nutzen natürlich Roboter. Viel mehr Angst muss man aber vor den alten Wasserstoffbomben haben. Eine einzige hat mehr Zerstörungskraft als alle konventionellen Waffen zusammen. Viele haben vergessen, dass es trotz dramatischer Abrüstung seit den 1980ern immer noch genug davon gibt, um die Zivilisation in wenigen Stunden auszulöschen, ganz ohne KI.
Allgemein gesprochen sind 95 Prozent KI-Forschung höchst menschenfreundlich. Man bemüht sich sehr, Menschen damit glücklicher oder gesünder zu machen – und abhängiger von ihren Smartphones.
com! professional: Wechseln wir zum Positiven. Was ist Ihr Lieblingsbeispiel für den Nutzen einer KI?
Schmidhuber: Unser preisgekröntes neuronales Netz lernte schon 2012, auf Mikroskopbildern von Brustgewebe Vorstufen von Krebszellen fast so gut zu erkennen wie sonst nur ein erfahrener Histologe. Viele, die bisher überhaupt keinen Zugang zu vernünftiger medizinischer Diagnostik hatten, werden wohl bald per Handy Bilder ihrer Krankheitssymptome an einen automatischen Arzt senden können, der nur bei Bedarf menschliche Experten hinzuzieht, die auf diese Weise viel mehr und auch weit entfernte Patienten werden betreuen können. KI kann heute schon Leben retten und verlängern.
com! professional: „Die Entwicklung wahrer künstlicher Intelligenz ist das letzte Bedeutsame, was man als Mensch noch leisten kann“, haben Sie mal gesagt. Warum so fatalistisch?
Schmidhuber: Das ist alles andere als fatalistisch – das ist vielmehr erhebend! Es eröffnen sich für das gesamte Universum neue, weit über den Menschen hinausweisende Perspektiven. KI werden das Sonnensystem und die Milchstraße in einer Weise kolonisieren und umgestalten, bei der Menschen nicht mal ansatzweise folgen können. Das Universum erklimmt nun bald seine nächste Stufe auf dem Weg zu höherer Komplexität. Es will intelligent werden und ohne uns als stolze Steigbügelhalter ginge das nicht.
com! professional: Wie sieht es mit Empathie aus – können Ihre KI auch (mit)fühlen oder werden sie das jemals können?
Schmidhuber: Sie haben alle Voraussetzungen. Sie verfügen über Schmerz- sowie Hungersensoren und versuchen, stets neue Wege zu finden, die Summe der Qualen bis ans Lebensende zu minimieren und die Summe der positiven Belohnungen zu maximieren. Das ist zwar leichter gesagt als getan – Kinder brauchen viele Jahre, bis sie gelernt haben, das in Eigenregie zu versuchen. Aber auch unsere KI verbessern sich kontinuierlich. Sie leben oft in Gesellschaft mit anderen KI, mit denen sie kollaborieren oder in Wettstreit treten können. Sie bekommen Angst vor denen, die sie bedrohen, und suchen die Gesellschaft derer, die gut zu ihnen sind. Dabei bilden sie sich auch prädiktive Weltmodelle, die Vorher­sagen über die anderen erlauben und damit Empathie ermöglichen, die sich zum Beispiel in Hilfestellung für andere ausdrückt. 
com! professional: Wie wirken sich KI auf die Arbeitswelt aus?
Schmidhuber: Sie meinen, was dann dem Menschen noch zu tun bleibt? Er wird wie bisher auch neue Wege finden, seinem Leben Sinn zu geben. Viele Tätigkeiten sind schon heute Luxusberufe. Länder mit vielen Robotern pro Einwohner wie Japan, Südkorea, Deutschland oder die Schweiz haben erstaunlich niedrige Arbeitslosenquoten. Es gilt mein alter Spruch aus den 80ern: Es ist leicht vorherzusagen, welche Jobs verloren gehen, aber schwer zu prognostizieren, welche neuen entstehen.
Wie viel kann man überhaupt rechnen?
Ein Menschenhirn vermag wohl nicht mehr als 1020 (eine 1 mit 20 Nullen) elementare nützliche Rechenoperationen pro Sekunde (op/s) auszuführen. Vermutlich viel weniger, sonst würden unsere Köpfe überhitzen. Alle bald 1010 Menschenhirne zusammen schaffen also höchstens 1030 op/s. Bremermanns physikalisches Rechenlimit (1982) liegt nun aber bei der vergleichsweise gigantischen Zahl von etwa 1045 op/s pro Milligramm Rechensubstrat.
Das Mooresche Gesetz (alle 18 Monate doppelt so viele Transistoren pro Chip) gilt nicht mehr, aber ein älteres Gesetz schon noch: Alle fünf Jahre wird Rechenkraft etwa zehnmal billiger. Das gilt, seit Konrad Zuse den ersten funktionstüchtigen programmierbaren Rechner der Welt baute.
Heute, 75 Jahre später, entspricht dies einem Faktor von 1015 oder einer Million Milliarden. Bald haben wir also billige Rechner mit der rohen Rechenkraft eines Menschenhirns – falls der Trend anhält, in 50 Jahren für denselben Preis die Rechenkraft aller 10 Milliarden Menschenhirne.
Der Bremermann-Grenze wird man sich dann im nächsten Jahrhundert annähern, also „sehr bald“, denn 100 Jahre sind nur 1 Prozent der 10.000-jährigen Zivilisations­geschichte. Eine Maschine kleiner als ein Stecknadelkopf könnte unter diesen Voraussetzungen also theoretisch eine der Mensch­­heit vergleichbare Gemeinschaft von 10 Milliarden Agenten simulieren, jeder ausgestattet mit einem künstlichen rekurrenten neuronalen Netz (NN) mit der rohen Rechenkraft eines Hirns, angesiedelt in einer virtuellen Realität, die noch 10 Milliarden Mal komplexer ist als die ganzen NN selbst. Man bedenke nun noch, dass die Erdmasse für 1030 Stecknadelköpfe reicht und die des Sonnensystems für 1036.

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