Business-IT
09.07.2023
Digitalisierungsstrategie für Deutschland
1. Teil: „Wenn die digitale Aufholjagd stockt“

Wenn die digitale Aufholjagd stockt

Shutterstock / Coffeemill
Die Corona-Pandemie hat hierzulande zu einem Digitalisierungsschub geführt. Doch aktuell stagniert die Entwicklung. Die Bundesregierung versucht, mit der Digitalstrategie Deutschland gegenzusteuern und das digitale Tempo zu erhöhen.
Das Online-Portal für die Terminvereinbarung zum Abholen des neuen Personalausweises funktioniert nicht. Anträge für Behörden lassen sich zwar online ausfüllen, müssen aber trotzdem ausgedruckt und per Post abgeschickt werden – solche Tücken und Schwächen der digitalen Verwaltung haben viele Bürger schon am eigenen Leib verspürt.
Dabei trat 2017 das Online-Zugangsgesetz, kurz OZG, mit dem Ziel in Kraft, binnen fünf Jahren das Gros der Verwaltungsleistungen digital abwickeln zu können, die man bis dato persönlich oder auf Papier beantragen musste, sei es Personalausweis, Führerschein, Fahrzeuganmeldung oder Kirchenaustritt.
Doch Ende 2022 waren von ursprünglich 575 geplanten digitalen Verwaltungsleistungen nur 114 Services umgesetzt, und das nicht einmal flächendeckend. Auch diverse aktuelle Studien und Indizes zeichnen ein eher tristes Bild vom Stand der Digitalisierung in Deutschland, und das sowohl für den öffentlichen Sektor genauso wie auch in der Wirtschaft.

Beschämende Stagnation

Ein Beispiel ist der Digitalisierungsindex 2022 zur Digitalisierung der Wirtschaft in Deutschland, den das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und IW Consult im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) erheben. Das zentrale Ergebnis lautet: Der Digitalisierungsindex stieg von 107,9 auf 108,9 Punkte, sprich die Wirtschaft in Deutschland ist im Jahr 2022 im Vergleich zum Jahr 2021 nur minimal digitaler geworden. Zum Vergleich: Von 2020 auf 2021 legte der Index immerhin noch um 8 Punkte zu.
Vorreiter der Digitalisierung sind wie im Vorjahr große Unternehmen mit 250 und mehr Beschäftigten, die ITK-Branche bei den Branchengruppen sowie regional die Bundeslandgruppe Süd mit Baden-Württemberg und Bayern. Den meisten Aufholbedarf haben kleine Unternehmen mit bis zu 49 Mitarbeitern, das Sonstige Produzierende Gewerbe (Wasser- und Energieversorgung, Bau und Entsorgung) sowie die geringverdichteten ländlichen Räume. Regional liegt die Bundeslandgruppe Nord (Bremen, Hamburg, Niedersachen, Schleswig-Holstein) hinten.
  • Entwicklung des Digitalisierungs-Index in Deutschland
    Quelle:
    Institut der deutschen Wirtschaft
Interessant: Den stärksten absoluten Zuwachs im Vergleich zum Jahr 2021 verzeichnet die unternehmensexterne Kategorie Gesellschaft. Sie bildet ab, wie digitalaffin die Bevölkerung ist und inwiefern sie digitale Produkte und Dienstleistungen nutzt. Die Gesellschaft bildet damit an sich einen entscheidenden Treiber des digitalen Fortschritts. Der Wert stieg von 113,6 auf 122,5 Punkte.

In Europa nur Mittelmass

Europaweit liegt Deutschland nur im Mittelfeld. Die Europäische Kommission veröffentlicht jährlich den Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI), der die Fortschritte der Mitgliedstaaten in den fünf wesentlichen Bereichen Konnektivität, digitale Kompetenzen, Internetnutzung durch Privatpersonen, Integration digitaler Technik durch Unternehmen und digitale öffentliche Dienste verfolgt. Deutschland lag hier 2022 mit einem Indexwert von 52,9  nur im Mittelfeld unter den EU-Ländern, genauer gesagt auf Platz 13. Führend sind die skandinavischen Länder Finnland und Dänemark.
Ernüchternd fällt auch das Fazit des Digitalreports 2023 des European Center for Digital Competitiveness aus: „Die großen Erwartungen an einen digitalen Neuanfang durch die Ampelregierung haben sich nicht erfüllt. Der Rückstand im Bereich der Digitalisierung scheint noch ausgeprägter als im Vorjahr und zum ersten Mal blickt eine Mehrheit der Befragten mit Pessimismus in die digitale Zukunft des Landes. Es fehlen konkrete Ergebnisse.“
Auch Lynn-Kristin Thorenz, Associate Vice President Custom Solutions Europe North bei IDC, ist der Meinung, dass Deutschland den Schwung aus dem Digitalisierungsschub infolge der Corona-Pandemie wieder verloren habe. Als wichtigste Ursache sieht sie die aktuelle Lage mit Themen wie dem Krieg in der Ukraine, Banken-Krise, Inflation oder steigenden Zinsen.
„Die damit verbundenen Unsicherheiten und auch ein enormer Kostendruck haben dazu beigetragen, dass die Digitalisierung hierzulande aktuell wieder etwas langsamer verläuft oder gar stagniert. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Anschluss verpassen. Die globale Wirtschaft digitalisiert sich in schnellem Tempo, insbesondere in den USA und in Asien. Die Welt um uns herum wartet nicht darauf, dass wir irgendwann bereit sind“, warnt Lynn Thorenz eindringlich. Und fordert: „Wir müssen digital aktiver werden.“
  • Pessimismus in Sachen Digitalisierung
    Quelle:
    Digitalreport 2023 des European Center for Digital Competitiveness
2. Teil: „„Das Mindset in Deutschland ist eher risikoavers““

„Das Mindset in Deutschland ist eher risikoavers“

Benjamin Brake ist Leiter der Abteilung „Digital- und Datenpolitik“ im Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Im Interview mit com! professional skizziert er die zentralen Punkte der Digitalstrategie der Bundesregierung und ihre Herausforderungen.
com! professional: Herr Brake, die Europäische Kommission veröffentlicht jährlich den Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI). Deutschland lag hier 2022 mit einem Indexwert von 52,9 nur im Mittelfeld unter den EU-Ländern. Wie bewerten Sie dieses Ergebnis?
  • Benjamin Brake Leiter der Abteilung „Digital- und Datenpolitik“ im Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV)
    Quelle:
    Privat
Benjamin Brake:
Ich kommentiere grundsätzlich keine Studien mehr, weil für die Ergebnisse immer die Fragestellungen und das Design der Studien entscheidend sind. Ich sehe hierzulande zwei große Hemmschuhe für die Digitalisierung. Zum einen haben wir in Deutschland eine Überregulierung im Digitalbereich; vor allem mittelständische Unternehmen stehen hier vor großen Problemen. Zum anderen ist das Mindset in Deutschland eher risikoavers. Das Speichern, Verarbeiten und Teilen von Daten etwa wird häufig als Risiko gesehen, dessen Auswirkungen es zu minimieren gilt. Wir sollten hier chancenorientierter denken, um die Digitalisierung voranzutreiben.
com! professional: Genau dafür hat die Bundesregierung eine Digitalstrategie entwickelt. Welche zentralen Bausteine umfasst diese Initiative?  
Brake: Die Digitalstrategie bildet ein gemeinsames Dach für die digitalpolitischen Schwerpunkte und Ziele der Ministerien. Grundsätzlich deckt sie drei zentrale Handlungsfelder ab: Vernetzte Gesellschaft, innovative Wirtschaft und digitaler Staat. Zur vernetzten Gesellschaft gehören beispielsweise Themen wie Glasfaser, Mobilfunk, Bildung in jedem Lebensalter, vernetztes Gesundheitswesen oder digitale Teilhabe für alle.
Innovative Wirtschaft umfasst Aspekte wie den Aufbau von Datenräumen zur Förderung datenbasierter Geschäftsmodelle oder zur besseren Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft, Förderung von Start-ups sowie von Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz (KI), das 5G- und 6G-Netz für den Mobilfunk, Robotik oder Quantencomputer. Das dritte Themencluster Digitaler Staat enthält Themen wie eGovernment, Open Data, digitalisierte Polizei oder Cybersicherheit.
com! professional: Das sind sehr viele unterschiedliche Themenfelder, bei denen man schnell den Überblick verlieren kann. Gibt es hier einen roten Faden beziehungsweise Prioritäten bei der Umsetzung?
Brake: Wir treiben ressortübergreifend digitale Hebelprojekte voran, von denen wir eine katalysatorische und beschleunigende Wirkung auf andere Projekte erwarten. Erstens sind das der flächendeckende Gigabit-Ausbau für schnelles Internet und die Verfügbarkeit von Daten als grundlegende Voraussetzung für die digitale Wertschöpfung. Zweitens geht es um offene und internationale Standards für den Aufbau von vernetzten Datenräumen etwa für Verkehr und Mobilität, um Anwendungen wie das automatisierte Fahren grenzüberschreitend nutzen zu können. Ziel ist hier, mehr neue datengetriebene Geschäftsmodelle zu ermöglichen. Drittes Hebelprojekt ist der Einsatz von sicheren und nutzerfreundlichen digitalen Identitäten sowie modernen Registern für digitale Verwaltungsleistungen.
com! professional: Welche Rolle spielen die Leuchtturmprojekte im Rahmen der Digitalstrategie?
Brake: Die digitalen Leuchtturmprojekte sind Vorhaben mit Signalwirkung. Sie sollen zeigen, wie die Digitalisierung das Leben der Menschen in Deutschland vereinfacht und verbessert. Jedes Ressort der Bundesregierung hat für die Digitalstrategie mindestens ein Projekt beigesteuert. Bis 2025 wollen wir sie umsetzen. Die Palette reicht vom Ökosystem für Mobilitätsdaten über die Elektronische Patientenakte und einer nationalen Bildungsplattform bis hin zum Zentrum für vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz.
Den Fortschritt der Leuchtturmprojekte überwacht der Beirat Digitalstrategie Deutschland, ein Gremium mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Der Beirat tagt einmal im Monat, jeweils zwei Ministerien stellen dann ihre Leuchtturmprojekte vor. Er soll als Echokammer dienen, externe Impulse setzen und für Transparenz sorgen. Der Fortschritt der Projekte wird nach den Sitzungen des Beirates dokumentiert und regelmäßig auf der Webseite www.digitalstrategie-deutschland.de veröffentlicht.
3. Teil: „Das will die Bundesregierung“

Das will die Bundesregierung

Vielleicht kann man ja sogar froh sein, dass die Wirtschaft unter dem Eindruck der aktuellen Ausnahmesituation keine Rückschritte bei der Digitalisierung gemacht hat. Umso wichtiger ist es gegenwärtig, zumindest die Rahmenbedingungen für die digitale Entwicklung hierzulande zu verbessern. Hier ist ganz entscheidend die Politik in Bund und Ländern gefragt. Die Bundesregierung hat dazu im letzten Jahr auch eine Digitalstrategie für Deutschland als „Wegweiser für den digitalen Aufbruch“ erarbeitet koordiniert vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr.
  • Die Digitalstrategie soll ein gemeinsames Dach für die digitalpolitischen Schwerpunkte und Ziele der Ministerien bilden. Sie gliedert sich in die drei Handlungsfelder „Vernetzte und digital souveräne Gesellschaft“, „Innovative Wirtschaft, Arbeitswelt, Wissenschaft und Forschung“ und „Lernender, digitaler Staat“.
  • Weitere zentrale Punkte sind die von Benjamin Brake im Interview beschriebenen Hebelprojekte und Leuchtturmprojekte sowie teilweise messbare Ziele, die bis 2025 erreicht werden sollen. Dazu gehören beispielsweise
  • Glasfaseranschlüsse bei der Hälfte aller Haushalte und Unternehmen
  • digitalisierte Verwaltungsleistungen mit Hilfe staatlicher, digitaler Identitäten
  • ein chancengleiches, barrierefreies Bildungs-Ökosystem als Angebot für alle Lebensphasen.
  • die Nutzung der elektronische Patientenakte von mindestens 80 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten und das E-Rezept als Standard
  • ein moderner Rechtsrahmen für die Nutzung von Daten und vernetzte Datenräume
  • sowie auf internationaler Ebene der Einsatz für ein Internet als freien, demokratisierenden Raum mit einer globalen, digitalen Ordnung auf Basis der Menschenrechte

Monitoring der Ziele

Laut Benjamin Brake vom BMDV überwacht die Bundesregierung den Fortschritt der Digitalstrategie kontinuierlich, um nachsteuern zu können. Der „Beirat Digitalstrategie Deutschland“ nimmt in seinen monatlichen Sitzungen vor allem die digitalen Leuchtturmprojekte der Digitalstrategie unter die Lupe. Er besteht aus 19 Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft und steht unter dem Vorsitz von Professorin Louisa Specht-Riemenschneider, Universität Bonn, und Thomas Koenen vom BDI.
Die zweite Säule des Monitorings bildet eine Datenbank, die Zwischenstände der insgesamt 135 Zielvorgaben der Digitalstrategie kontinuierlich erfasst und damit einen Überblick über den Status quo bietet. Diese Datenbank befand sich zum Redaktionsschluss noch im Aufbau. Die gemeinsame Datenbasis soll nicht nur für Transparenz sorgen, sondern auch Synergien zwischen den Bundesministerien ermöglichen.
Zum dritten soll im Rahmen des vom BMDV geförderten Forschungsvorhabens „Agora Digitale Transformation“ die Frage der Effektivität geklärt werden. Wirken sich die umgesetzten Digitalisierungsvorhaben tatsächlich positiv auf das Leben von Bürgerinnen und Bürgern aus? Die Ergebnisse der Studie an ausgewählten Digitalvorhaben werden wohl Ende 2023 veröffentlicht und zeigen auf, wo eventuell noch Anpassungsbedarf besteht.
Themenbereiche der Digitalstrategie
Die Digitalstrategie der Bundesregierung umfasst drei große Themenfelder mit 24 Unterkategorien:
Vernetzte Gesellschaft
  • Digitale Infrastrukturen
  • Bildung in allen Lebensphasen
  • Gesundheit und Pflege
  • Mobilität
  • Bauen
  • Digitale Zivilgesellschaft
  • Kultur und Medien
  • Teilhabe und Barrierefreiheit
Innovative Wirtschaft
  • Datenökonomie
  • Wissenschaft und Forschung
  • Standortentwicklung
  • Fachkräfte
  • Klimaschutz
  • Neue Arbeitswelt
  • Schlüsseltechnologien
  • Landwirtschaft
Digitaler Staat
  • Digitale Verwaltung
  • Open Data
  • Digitale Polizei
  • Digitale Justiz
  • Digitale Souveränität
  • Cybersicherheit
  • Verteidigung
  • Internationales

Bitkom: Gemischte Bilanz

Fabian Zacharias, Leiter Public Affairs beim Branchenverband Bitkom, bewertet das Monitoring der Ziele der Digitalstrategie und vor allem das Begleitgremium des Digitalbeirates sehr positiv: „Die Berichterstattung zu den Leuchtturmprojekten kann Transparenz liefern und zugleich für Umsetzungsdruck sorgen. Dadurch entsteht ein wichtiges Instrument, das Alarm schlägt, wenn Digitalisierungsprojekte zu langsam umgesetzt werden.“ Die Digitalstrategie der Bundesregierung sieht er als Schritt in die richtige Richtung und als verbindlichen Fahrplan, auf den sich alle Ressorts verständigt hätten.
„Dieser gemeinsame Schritt verpflichtet sie, bis 2025 ihre Hausaufgaben zu machen. Die Ziele sind realistisch und helfen, den Digitalisierungsstau aufzulösen, der in den letzten Jahren entstanden ist. Doch aktuell steht ein Großteil der Ziele nur auf Papier. Sie müssen noch umgesetzt werden. Und hier hapert es. Es gibt viele Projekte ohne Meilensteine und klaren Plan“, moniert Fabian Zacharias.
Als erstes Beispiel nennt er die digitale Identität als Basis für den Online-Ausweis und die Identifikation für digitale Verwaltungsleistungen und digitale Geschäftsmodelle, die 2023 kommen soll. „Hier gibt es bisher noch keine offiziellen Verlautbarungen. Das ist ein Problem. Hier stockt es. Denn bei digitalen Identitäten sind wir im Vergleich etwa zu Estland, Dänemark und mittlerweile auch Italien und Frankreich im Rückstand. Ein Hemmschuh für die Verwaltungsdigitalisierung ist hierzulande auch der Föderalismus, der bei der Digitalisierung eher ausbremst als fördert“, klagt Zacharias.
Dazu gehört auch der Pakt für die Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung zwischen Bund und Ländern, der Genehmigungsverfahren verkürzen soll, um Projekte in Bereichen wie Energiewende, Verkehr und natürlich auch der digitalen Infrastruktur deutlich schneller realisieren zu können. Auch hier läuft Fabian Zacharias nicht alles, wie es sollte: „Dieser Planungs- und Genehmigungspakt ist noch nicht beschlossen. Hier muss schnell eine Einigung her, um das Tempo auf die Straße zu bringen. Der Flaschenhals etwa beim 5G-Mobilfunk sind derzeit die Genehmigungsverfahren, nicht das Geld.“
Kritisch sieht er auch das geplante Digitalbudget, das wichtige digitale Projekte beschleunigen soll, und aktuell auf der Kippe steht. „Das Digitalbudget sollte eigentlich mit dem Haushalt 2024 kommen. Das ist reichlich spät, wenn man bis zum Ende der Legislaturperiode noch etwas bewirken will“, so Zacharias weiter.
Positiv bewertet er vor allem die Fortschritte bei der digitalen Infrastruktur rund um die Gigabit-Anschlüsse und den schnellen 5G-Mobilfunk. Beim Thema Konnektivität steht Deutschland im bereits oben erwähnten DESI-Ranking der EU-Kommission europaweit sogar auf einem sehr guten Platz 4.
4. Teil: „„Seit Jahrzehnten haben wir Digitalisierung als Nischenthema betrachtet““

„Seit Jahrzehnten haben wir Digitalisierung als Nischenthema betrachtet“

Alexander Rabe ist seit Januar 2018 Geschäftsführer des eco – Verband der Internetwirtschaft e.V. Im Interview mit com! professional erklärt er die Sicht des eco auf den aktuellen Status der Digitalisierung in Deutschland und die von der Bundesregierung entwickelte Digitalstrategie – und sieht letzlich nur wenig Licht und viel mehr Schatten.
com! professional: Herr Rabe, wo steht Deutschland bei der Digitalisierung in Europa und der Welt?
  • Alexander Rabe Geschäftsführer des eco – Verband der Internetwirtschaft e.V.
    Quelle:
    eco
Alexander Rabe:
Im europäischen Vergleich steht Deutschland aktuell auf Platz 13 von 27 EU-Ländern – also im schlechten Mittelfeld. Bei einem so starken Wirtschaftsstandort wie Deutschland wird da natürlich die Frage laut, woran das liegt. Aus meiner Sicht ist dieses Problem hausgemacht: Seit Jahrzehnten haben wir Digitalisierung als Nischenthema betrachtet. Schnelles Internet war lange Zeit ein Nice to Have. Erst mit der Corona-Pandemie hat die Debatte über die Bedeutung von digitaler Bildung und digitaler Verwaltung an Fahrt aufgenommen, während zum Beispiel in den Amtsstuben noch fleißig gefaxt wurde.
Digitale Vorreiter wie Estland machen uns vor, wie es besser gehen kann: Die Einführung einer elektronischen Identität fand dort bereits im Jahr 2000 statt, Internetzugang gilt sogar als Menschenrecht. Heute werden rund 99 Prozent der staatlichen Dienstleistungen online abgewickelt, von der elektronischen Stimmabgabe bei Wahlen bis hin zu Steuerdienstleistungen. Davon können wir in Deutschland aktuell nur träumen.  
com! professional: Welche Entwicklung sehen Sie positiv, wo sehen Sie Nachholbedarf?
Rabe: Nach einem Jahr Ampelregierung haben wir im Verband Ende vergangenen Jahres ein erstes Resümee gezogen: Auch hier sehen wir, dass insbesondere die Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen und Bürokratieabbau nur schleppend vorankommt. Das gilt zum Beispiel auch für die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes. Hier besteht als noch dringender Handlungsbedarf.
Etwas positiver hat sich dagegen durchaus die Dynamik beim Ausbau digitaler Infrastrukturen entwickelt. Mit ihrer im Juli 2022 veröffentlichten Gigabit-Strategie und dem Aufbau des Gigabit-Grundbuchs ist die Ampel ihrem Ziel eines beschleunigten Ausbaus gigabitfähiger Infrastruktur zumindest nähergekommen.   
com! professional: Wo müssen Bund und Länder Ihrer Meinung nach bei der Digitalisierung ansetzen, damit Deutschland auch künftig wettbewerbsfähig bleibt?
Rabe: Ich denke, wir brauchen vor allem mehr Lust auf Innovation. Digitalisierung sollte als Teil der Lösung zur Bewältigung der großen Zukunftsherausforderungen der Menschheit betrachtet werden. Das erfordert sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft ein verändertes Mindset.
Deutschland ist Technologie-ängstlich; die Politik spiegelt diese Situation letztlich wider. Auch muss die Politik mehr ressortübergreifend denken und handeln, raus aus den Silos, rein in neue, agile Formen des Miteinanders. Ungewohnt für politische Prozesse, aber notwendig, um mit den rasanten Entwicklungen der Digitalisierung mithalten zu können.
Hinzu kommt, dass das Thema Datenschutz bei uns in Deutschland so problembehaftet diskutiert wird. Wir haben mit der DSGVO einen europäischen Rahmen, aber wir leisten uns in Deutschland die Besonderheit 16 unterschiedlicher Interpretationen dieses einheitlichen Rahmens. Solche Auswüchse hemmen digitale Innovationen noch weiter und bringen uns im internationalen Wettbewerb sicherlich nicht weiter nach vorn.
com! professional: Würde ein dediziertes Digitalministerium auf Bundesebene den Durchbruch bringen?
Rabe: Unser Verband fordert tatsächlich seit Jahren ein Digitalministerium auf Bundesebene mit Federführung, ressortübergreifenden Kompetenzen und einem eigenen Digitalbudget. Das historische Momentum, ein solches auch wirklich einzurichten, hat die Ampelregierung leider verpasst.
Natürlich betrifft die Digitalisierung als Querschnittsthema verschiedene Bundesministerien. Doch was wir aktuell sehen, ist eine Verantwortungsdiffusion: Niemand fühlt sich so richtig zuständig. Das bringt uns als Standort entsprechend nicht voran und kostet zudem wertvolle Zeit in der Koordination der einzelnen, teilweise dann auch widersprüchlichen Regulierungsvorhaben.
5. Teil: „„Last Call: Germany““

„Last Call: Germany“

Der Digitalverband Bitkom selbst hat seine eigene Digitalstrategie 2025 mit dem Titel „Last Call: Germany – Letzter Aufruf: Deutschland!“ vorgelegt, um in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat digital voranzukommen. Das Papier soll ein Weckruf sein, liefert aber auch konkrete Handlungsempfehlungen, um zügig in die Umsetzung zu kommen. Kernpunkte sind unter anderem mehr Bildungskompetenz für den Bund, um die Digitalisierung der Schulen und die digitale Bildung der Schüler zu verbessern, sowie eine bessere Anerkennung und Förderung der Weiterbildung, um dem Fachkräftemangel zu begegnen.
Weitere Schlüsselfaktoren sind erstklassige digitale Infrastrukturen mit schnellen Glasfaser- und mobilen Datennetzen, intelligenten Verkehrs- und Energienetzen sowie leistungsfähigen digitalen Netze in Städten, Gemeinden und Behörden, eine funktionierende digitale Verwaltung („Unser Staat – digital by design“) sowie einen neuen, ganzheitlichen Ansatz in der Datenpolitik, um den Schutz persönlicher Daten und den Einsatz von Daten in eine funktionierende Balance zu bringen.
„Bei der Technologie- und Forschungsförderung müssen wir weg vom Gießkannenprinzip und Maßnahmen zielgenau fördern, um digitale Souveränität zu erreichen“, fordert Fabian Zacharias. „Wir haben beispielsweise in Bereichen wie dem autonomen Fahren oder in der Medizintechnologie gute Voraussetzungen für eine führende Position in der digitalen Weltwirtschaft. Wir sollten diese Technologien und Industrien weiterentwickeln und so unsere digitale Wettbewerbsfähigkeit stärken.“ Zudem rät er dazu, mehr auszuprobieren und nicht immer gleich eine 100prozentige Lösung liefern zu wollen: „Besser eine gute Lösung jetzt als eine perfekte Lösung in fünf Jahren.“

Zentrales Digitalministerium?

Grundsätzlich wäre laut Bitkom ein dediziertes Digitalministerium des Bundes sinnvoll, das alle Zuständigkeiten bündelt, sowie mit den notwendigen Rechten und Ressourcen ausgestattet ist, am besten mit einem Digitalvorbehalt bei neuen Gesetzesvorhaben. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Die Chance hätte am Anfang der Legislaturperiode bestanden. Aber möglicherweise richtet eine neue Bundesregierung ab 2025 ein entsprechendes umsetzungsstarkes Digitalministerium ein.
Laut Lynn-Kristin Thorenz von IDC müsste ein derartiges Ministerium alle digitalen Initiativen zusammenführen und orchestrieren. „Aktuell ist Digitalisierung im Bundesministerium für Digitalisierung und Verkehr leider nur ein Thema von vielen neben Bahn, Verkehrswende, Tempolimit. Das sind komplexe und umfangreiche Themen, hier fehlt der Fokus auf digitale Themen.“
IDC hat die Organisationsformen von Unternehmen untersucht, die bei der digitalen Transformation sehr erfolgreich waren beziehungsweise sind. Das Rezept war in den meisten Fällen der Start mit einer eigenen, neuen Abteilung beziehungsweise einer parallelen Geschäftseinheit, die viele Dinge rund um die Digitalisierung plante und in Einzelprojekten relativ schnell in die Tat umsetzte. „Diese zentrale Einheit gab dann Impulse für die Umsetzung von digitalen Projekten in den einzelnen Fachabteilungen und sorgte für die Koordination und strategische Planung dieser Vorhaben“, berichtet Lynn Thorenz. „Übertragen auf die Politik würde diese zentrale Geschäftseinheit dem Digitalministerium entsprechen, das dann Digitalisierungsprojekte in den einzelnen Ressorts anstoßen würde. Ein zentrales Digitalministerium könnte anschieben und für die notwendige Aufmerksamkeit sorgen. Aber der Zug ist für diese Legislaturperiode bereits abgefahren“, bedauert Thorenz.
6. Teil: „Fazit und Ausblick“

Fazit und Ausblick

An der Frage eines Digitalministeriums wird sich nicht entscheiden, ob Deutschland bei der Digitalisierung weiterkommt. Es wäre grundsätzlich schon ein Erfolg, wenn die Regierung ihre im Rahmen der Digitalstrategie angedachten Hebel- und Leuchtturmprojekte im vorgegebenen Zeitrahmen tatsächlich umsetzen würde. Nicht einmal danach sieht es derzeit aber leider aus. Auch bei der Digitalisierung der staatlichen Verwaltung gibt es großen Nachholbedarf. Die Bundesregierung muss hier die Entwicklung sicherer digitaler Identitäten und von Standards für digitale Verwaltungsanwendungen konsequenter und vor allem schneller vorantreiben.
Darüber hinaus notwendig sind klare Regeln und Standards für den Austausch und die Nutzung von Daten für den Aufbau datenbasierter Geschäftsmodelle oder mehr Rechte des Bundes gegenüber den Ländern bei der Digitalisierung des Bildungswesens. Letztendlich wird es auch am Geld liegen, inwieweit alle geplanten Maßnahmen umgesetzt werden. Das im Koalitionsvertrag geplante zentrale Digitalbudget ist erst für 2024 geplant und müsste eigentlich früher zugewiesen werden, um den digitalen Aufbruch nicht zu bremsen.
Leuchtturmprojekte
Die digitalen Leuchtturmprojekte sollen bis 2025 umgesetzt werden und zeigen, wie die Digitalisierung das Leben der Menschen in Deutschland vereinfacht und verbessert. Jedes Ressort der Bundesregierung hat für die Digitalstrategie mindestens ein Projekt beigesteuert. Hier eine Übersicht, darunter auch vier Projekte zum aktuellen Hype-Thema Künstliche Intelligenz:
  1. Ökosystem für Mobilitätsdaten: Dieses Ökosystem soll die Verfügbarkeit von Mobilitätsdaten verbessern und die Grundlage für digitale Anwendungen und die Entwicklung neuer datenbasierter Mobilitätslösungen bilden (Bundesministerium für Digitales und Verkehr)
  2. Connected Urban Twins: Urbane digitale Zwillinge sollen vielfältige Daten zu einem realitätsnahen, digitalen Abbild der Stadt bündeln und eine fundierte Basis für Entscheidungen in der Stadtentwicklung bilden. Das Programm Smart Cities Modellprojekte fördert solche digitalen Lösungen (Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, BMWSB)
  3. Ökosystem digitale Identitäten: Die digitale Identität soll als Basis für den Online-Ausweis und die Identifikation für digitale Verwaltungsleistungen und digitale Geschäftsmodelle dienen (Bundesministeriums des Innern und für Heimat)
  4. Elektronische Patientenakte ePA: Die ePA soll die bislang an verschiedenen Stellen (etwa Praxen und Krankenhäuser) existierenden beziehungsweise entstehenden Patientendaten digital integrieren (Bundesministerium für Gesundheit)
  5. Nationale Online-Weiterbildungsplattform NOW: Die Plattform soll es Interessierten ermöglichen, schnell und unkompliziert passende Weiterbildungen und Fördermöglichkeiten zu finden und so neue Kompetenzen für die digitale Transformation zu erwerben. Die Umsetzung erfolgt über die Bundesagentur für Arbeit (Bundesministerium für Arbeit und Soziales)
  6. Nationale Bildungsplattform NBP: Die NBP soll Bildungseinrichtungen, -anbieter und Content-Produzenten zu einem interoperablen, barrierefreien Bildungs-Ökosystem verbinden, das die Datensouveränität aller Beteiligten gewährleistet (Bundesministerium für Bildung und Forschung)
  7. KI gemeinwohlorientiert gestalten: Die Initiative Civic Coding – Innovationsnetz KI für das Gemeinwohl soll Daten- und KI-Kompetenzen der Zivilgesellschaft stärken und ressortübergreifend Förderprogramme bündeln (Bundesministerium für Arbeit und Soziales)
  8. Zentrum für vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz: Dieses Zentrum soll die Verbrauchersouveränität durch Aufklärung über KI und algorithmische Systeme stärken und ein Ort der Debatte für gesellschaftliche Fragen zum Umgang mit KI werden (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz)
  9. KIKStart - KI für KMU und Start-ups: Die Kombination von Förderprogrammen soll KMU und Start-Ups bei der Entwicklung von Daten- und KI-Anwendungen unterstützen (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz)
  10. Digitale Familienassistenten: Diese Plattform soll übersichtlich zeigen, auf welche Leistungen Familien Anspruch haben könnten und helfen, die notwendigen Nachweise zu beschaffen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)
  11. Datenraum Kultur: Ziel ist eine überregionale IT-Infrastruktur, die einen dezentralen, sicheren und selbstbestimmten Datenaustausch im Kulturbereich ermöglicht (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  12. Digitalisierte Justiz: Ziele sind ein Portal mit verlässlichen Informationen über die Möglichkeiten, seine Rechte geltend zu machen, ein Online-Tool zur Klageerhebung sowie die Option, Gerichtsverfahren mit Zeugenvernehmung per Videokonferenz komplett digital durchzuführen (Bundesministerium der Justiz)
  13. Digitalisiertes Spendenregister: Ziel ist die vollständige Digitalisierung eines Spendennachweisverfahrens (mit Abschaffung der Spendenquittung) für alle, die an gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Organisationen oder Parteien spenden wollen (Bundesministerium für Finanzen)
  14. SynErgie – energieflexible Industrie: Das Projekt SynErgie und die Entwicklung eines Datenraumes für nachhaltige Energie- und Ressourcennutzung soll die Voraussetzung für die verlässliche und günstige Versorgung der Industrie mit klimaneutraler Energie bilden (Bundesministerium für Bildung und Forschung)
  15. Nachhaltige Digitalisierung in Landwirtschaft und ländlichen Räumen: Auf Experimentierfeldern werden in modellhaften Zukunftsregionen Test und Entwicklung digitaler Anwendungen gefördert (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft)
  16. Digitales Gefechtsfeld: Mit Hilfe von KI ist es das Ziel, bereits im Vorfeld einer Krise über automatisierte Überwachung das Ausmaß der möglichen Bedrohung besser abschätzen und im Konfliktfall wirkungsvoll und schnell reagieren zu können (Bundesministerium der Verteidigung)
  17. Digitale und sichere Geheimkommunikation: Die Plattform dient dem Informationsaustausch mit internationalen Organisationen (I-VSK) und Firmen mit sehr hohem Schutzbedarf (F-VSK). Sie ist Standardisierungstreiber innerhalb der NATO (Auswärtiges Amt)
  18. GovStack: Ziel sind digitale Verwaltungsdienstleistungen nach dem Baukastenprinzip auf Open Source-Basis, die sich nach Bedarf anpassen, kombinieren und skalieren lassen (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

mehr zum Thema