Digitalisierung
07.08.2020
Digitale Transformation
1. Teil: „Führungskräfte als digitale Vorreiter“

Führungskräfte als digitale Vorreiter

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Dulyanut Swdp / shutterstock.com
Die Digitalisierung erfordert ein ganz neues Führungsverständnis. Es geht nicht nur um neue Technologien, sondern auch um ein Umdenken im Umgang mit den Mitarbeitern.
In den vergangenen Jahren verging wohl kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Unternehmenslenker eine neue Digitalisierungsstrategie verkündete. Doch eine Idee auf dem Papier, das Ablegen der Krawatte und das Einführen einer Duz-Kultur machen aus einem Chef der alten Schule noch lange keinen Digital Leader. Genau einen solchen digital denkenden und über den Tellerrand hinausschauenden Vorreiter aber brauchen Unternehmen, die in Zeiten der digitalen Transformation erfolgreich sein wollen.
Die Veränderungen, mit denen sich Unternehmenslenker aktuell konfrontiert sehen, gehen dabei weit über die technische Ebene hinaus. Sie erfordern ein neues Führungsverständnis, das mit alten Gewohnheiten radikal bricht. Erfolgreiche Firmen haben Anführer mit Neugier und einer klaren, digital ausgerichteten Perspektive. Genauso wichtig ist Teamgeist. Denn Führungskräfte müssen heute vermehrt Kulturarbeit betreiben: Vertrauen in die Mitarbeiter und das Gewährleisten beziehungsweise die aktive Unterstützung von autonomem und eigenverantwortlichem Arbeiten sind unabdingbar - Stichwort Mitarbeitererfahrung (Employee Experience).  Mikromanagement und Performance-Tracking sind fehl am Platz - vielmehr braucht es einen empathischen, authentischen und fürsorglichen Führungsstil, der es zum Beispiel auch schafft, remote arbeitende Mitarbeiter zu motivieren und einzubinden. Der Chef als Digital Leader ist der zentrale Stellhebel einer gelingenden Digitalisierung.
„Wir brauchen eine neue Art von Führungskräften“, fordert Jochen Malinowski, Geschäftsführer für den Bereich Software-Entwicklung und neue Technologien in der DACH-Region beim Strategie-Dienstleister Accenture.
So agieren Führungskräfte erfolgreich in der Digital Economy
Claudia Crummenerl von Capgemini Invent gibt Handlungsempfehlungen, mit denen Führungskräfte die Digitalisierung in ihrem Unternehmen erfolgreich vorantreiben.
  1. Den Erfolgsfaktor Kultur nicht unterschätzen: Nicht ohne Grund ist das Thema Kultur häufig die Nummer eins unter den Herausforderungen der digitalen Transformation. Um zu überleben, müssen Unternehmen noch innovativer sein, Fehlentscheidungen rasch abhaken, schnell lernen und keine Angst davor haben, Neues auszuprobieren.
  2. Mitarbeiter aktiv in den Kulturveränderungsprozess einbinden: Die Erfahrung von Claudia Crummenerl zeigt, dass digitale Vorreiter die Mitarbeiter und die Bildung einer Kultur des Vertrauens in den Mittelpunkt ihrer Transformation stellen. Dieses Umfeld erlaubt den Mitarbeitern, sich auszuprobieren und zu lernen. Dabei ist es unerlässlich, dass die oberste Führungsebene sich selbst miteinbezieht und engagiert.
  3. Nicht versuchen, alles auf einmal zu verändern: Crummenerl rät Unternehmen dazu, nicht alles auf einmal ändern zu wollen, sondern diejenigen Dimensionen auszuwählen, die entweder den größten Einfluss haben, am besten zur Organisations-DNA passen oder die höchste Dringlichkeit haben. Dabei sind drei Kulturelemente besonders erfolgversprechend: der Aufbau einer Customer-First-Einstellung, die Beteiligung der Mitarbeiter an Innovationen und Lernen sowie die Umsetzung von Mechanismen zur Förderung von Unternehmertum.
  4. Sicherstellen, dass man sich bei der Mitarbeiterkommunikation vor allem auf das „Warum“ konzentriert: Wa­rum das „Warum“ fast wichtiger ist als das „Was“? Es triggert die intrinsische Motivation der Mitarbeiter und zeigt Mitarbeitern auf, wofür sie all das tun und womit im großen Rahmen damit Mehrwert geschaffen wird.
  5. Ein starkes Governance-Programm hinter der Vision: Während digitale Initiativen oft von der Top-Management-Ebene gesteuert und überwacht werden, ist es nach wie vor die mittlere Führungsebene, die typischerweise die tagtägliche Umsetzung leisten muss. Bis in diese Ebene braucht es klare Verantwortlichkeiten und an die digitale Transformation angepasste Steuerungsgrößen.
  6. Etablieren einer Lernkultur und eine Infrastruktur aufbauen, die kontinuierliches Lernen ermöglicht: Digitale Vorreiter fokussieren sich auf die Entwicklung ihrer Talente, denn fast 70 Prozent wissen, welche neuen Fähigkeiten und Kompetenzen in Zukunft gebraucht werden. Anforderungen an Mitarbeiter ändern sich in rasender Geschwindigkeit.
  7. Besonders für die Digital-Native-Generation neue und innovative Lernmethoden nutzen: Fort- und Weiterbildung umfasst verschiedene Trainings- und Lernmethoden, die neue Fertigkeiten fördern. Dabei müssen innovative Methoden inte­griert werden – nicht nur, weil die Digital-Native-Generation es erwartet, sondern vor allem auch, weil die Lernumgebung beispielhaft für die neue Arbeitsumgebung und Abbild des Zielbilds ist.
  8. Zusammenarbeit von Führungskräften aus IT- und Business-Departments: Bei den digitalen Vorreitern arbeiten Fachbereiche und IT Hand in Hand und die Bedeutung beider Bereiche für den Erfolg der digitalen Transformation ist allen Führungskräften und Kernpersonen klar. Daher haben auch Kernbereiche des Betriebs (CIO, IT und Fachabteilungen) ein einheitlicheres Verständnis von Zielbild und Strategie.
2. Teil: „Digitale Anführer“

Digitale Anführer

Claudia Crummenerl, Leiterin des globalen Beratungbereichs People & Organization bei der Managementberatung Capgemini Invent, ist davon überzeugt, dass neue Technologien und Kundenbedürfnisse die Treiber digitaler Disruption sind. „Dennoch sind es am Ende die Menschen dahinter, die die digitale Transformation leiten und umsetzen müssen.“ Ihr Verständnis von Digital Leadership deckt daher zwei Dimensionen von Führungskompetenzen ab: digitale Fähigkeiten und Transformationsfähigkeiten.
Die digitalen Fähigkeiten beziehen sich auf den Einsatz von Technologien zur Optimierung von Kundeninteraktion, internen Prozessabläufen oder ganzen Geschäftsmodellen. „Auch umfassen sie eine Talent- und Organisationssäule, die die zunehmende Notwendigkeit widerspiegeln, dass Unternehmen in Employee Experience investieren und ihre Struktur an die Anforderungen anpassen“, so Crummenerl weiter.
Bei den Transformationsfähigkeiten geht es darum, die Voraussetzungen zu schaffen, um den Wandel vo­ranzutreiben. Dazu gehören das Entwickeln einer Transformationsvision, ein Governance-Modell zur Führung der Veränderung, die notwendige Informationstechnologie sowie die Strategien zur Erzielung der Ergebnisse und die Einbindung der eigenen Mitarbeiter.
„Ich persönlich glaube, wir sind im Zeitalter der Empathie angekommen“, so Claudia Crummenerl. Eines der elementaren Kennzeichen sei das Thema Emotionale Intelligenz (EI). Bei der digitalen Transformation verwischten Künstliche Intelligenz und Automatisierung die Grenzen zwischen den Aufgaben, die Maschinen und Menschen erledigen können. Im Zuge dieser Disruption komme der Emotionalen Intelligenz der Führung eine besondere Rolle zu. 
„Angesichts der digitalen Transformation steigt der Innovationsdruck für Unternehmen exponentiell“, erklärt Ilga Vossen, Senior Manager Digital Leadership beim Beratungsunternehmen Deloitte. Um dem gerecht zu werden und langfristig erfolgreich zu sein, müssten Entscheider die Strukturen und Arbeitsweisen in ihrer Organisation anpassen. Das gelinge nur, wenn sie selbst über umfassende digitale Kompetenzen verfügen und ihr Unternehmen als organisatorische Vordenker zielgerichtet vorantreiben.
Volker Rosenbach, Partner Workforce Transformation Offering Leader bei Deloitte, ergänzt: „Für Führungskräfte bedeutet das, dass sie ihr technologisches Wissen entwickeln und ausbauen müssen.“ Ein intuitiver und umfassender Umgang mit digitalen Technologien sei zwingend erforderlich. Den Faktor Mensch als wesentliche Voraussetzung für den Siegeszug der Daten und Algorithmen sollte man dabei auch laut Rosenbach nicht außer Acht lassen. „In Zeiten permanenter Umwälzung sind neue digitale Skills und agile Arbeitsmodelle gefragt. Erfolgreiche Führungskräfte fördern digitale Kompetenzen, ermutigen zu kreativer Risikobereitschaft und schaffen kollaborative Strukturen. Und gehen mit gutem Beispiel voran.“
Den Deloitte-Experten zufolge erfordert die Digitalisierung eine Transformation im Verhalten und im emotionalen Profil der Führungskraft. Deloitte unterscheidet hier drei Rollen:
Digital Investors: Führungskräfte, die über Investitionen entscheiden, müssen ein Stück weit zu einer Art Venture Capitalists mutieren, die nach attraktiven Start-ups suchen. Das setzt eine intensive Beschäftigung mit der neuen digitalen Kultur und Arbeitsweise voraus und erfordert eine langfristige, strategische Sichtweise.
Digital Pioneers: Sie sind die eigentlichen Treiber - Führungskräfte mit mutigen Visionen und transformativen Entwürfen. Digital Pioneers verfügen über beste Digital-Skills, sind mit externen Ökosystemen vertraut und glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten der neuen Ära. Mit diesem Drive veredeln sie Ideen zu funktionsfähigen Geschäftsmodellen.
Digital Transformers: Diese charismatischen Leader können ihre Organisation begeistern. Der Wandel ist derart radikal, dass er ohne Vertrauen in die Spitze nicht gelingen kann. Transformers schaffen es, noch konservativ ausgerichtete  Unternehmensbereiche einzubinden und die Transformation so zum Erfolg für das gesamte Unternehmen zu machen.
Im Idealfall vereint eine Führungspersönlichkeit alle drei Rollen in einer Person. „Da dieser Typus ausgesprochen rar ist, kommt es in der Praxis umso mehr auf ein kollaboratives Zusammenspiel aller Mitglieder der Führungsmannschaft an“, resümiert Ilga Vossen.
Digital Leadership versus traditionelle Führung
3. Teil: „Herausforderungen“

Herausforderungen

Bislang waren laut Volker Rosenbach Führungskräfte gehalten, ihre Autorität und Kompetenz zur Steigerung der Effizienz einzusetzen. Nun komme ein neuer Anspruch hinzu, der ein konträres Mindset erfordere: die Überschreitung gewohnter Grenzen hin zu neuen Geschäftsmodellen, Mitarbeitergruppen und partnerschaftlichen Ökosystemen. „Dies muss eine Führungskraft aktiv angehen - und darf zugleich bei aller kontrollierten Risikobereitschaft den Blick auf das Bestandsgeschäft im Unternehmen nicht vernachlässigen. Denn die Gewinne aus den etablierten Geschäftsfeldern müssen die für die Digitalisierung nötigen Investitionen mitfinanzieren.“ Das sei eine Herausforderung, bei der man nicht auf Weg A oder Weg B festgelegt sein sollte.
Doch vor allem älteren Führungskräften fällt es oft schwer umzudenken, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln und gewohnte Führungsprinzipien über Bord zu werfen. Hier bietet sich das sogenannte Reverse Mentoring an - eine häufig genutzte Methode für die Führungskräfteentwicklung im digitalen Kontext. Im Gegensatz zu klassischen Mentoring-Programmen sind dabei die jungen Mitarbeiter diejenigen, die die Erfahrung im Umgang mit digitalen Technologien mitbringen und bei den Führungskräften für einen Zuwachs an digitalen Kompetenzen sorgen sollen.
Claudia Crummernel von Capgemini Invent betont, für eine erfolgreiche Umsetzung eines solchen Reverse Mentorings sei es wichtig, dass sich das Unternehmen als offene und lernende Organisation verstehe. „Für das Umdenken hilft auch ein aktiver Perspektivwechsel, zum Beispiel indem Führungskräfte Praktika in Start-ups absolvieren.“ Dies ermögliche, die gemachten Erfahrungen in den eigenen Führungsstil zu übernehmen.
Ilga Vossen von Deloitte vertritt die Auffassung,  dass das Alter für ein digitales Mindset keine Rolle spielt. Es gebe junge Menschen mit traditionellen Vorstellungen von Zusammenarbeit und Führung, die sich mit mehr eigener Verantwortung und weniger unmittelbarer Führung schwertun. Und es gebe ältere Führungskräfte, die eine hohe „Tech Savvyness“ und ein offenes Mindset haben. „Ein wichtiger Bestandteil des Umdenkens ist, den Generationen-Bias aus der Diskussion herauszunehmen. So können alle Beteiligten ein neues Selbstverständnis entwickeln.“
Schwierig wird es, wenn die Unternehmenslenker, unabhängig vom Alter, die Digitalisierung nicht oder nur halbherzig unterstützen. So sahen bis zur Corona-Krise viele deutsche Mittelständler gar keine Notwendigkeit zur Veränderung. Allzu oft lautete das Credo noch: „Weiter so.“
Führungskräfte, die die Dringlichkeit der Digitalisierung unterschätzt oder geglaubt haben, einige isolierte digitale Ini­tiativen in ihrer Firma seien genug, sind spätestens seit der Covid-19-Krise wachgerüttelt, hofft Claudia Crummenerl. Sollte der eigene Chef die Dringlichkeit zwar erkannt haben, es aber nicht schaffen, die Transformation zu starten, oder die Angst vor Veränderung ihn bremsen, dann könnten Mitarbeiter mit kleineren Projekten eine Veränderung erzielen - vor allem in der Arbeitsmethodik. „So kann es ihnen gelingen, ihre Chefs von den Vorteilen der digitalen Transformation zu überzeugen und zu begeistern. Digitale Transformation kann Spaß machen, wenn man es richtig angeht und die Potenziale erkennt und ausschöpfen kann.“

Fazit & Ausblick

Als Zeichen des Aufbruchs darf die Unternehmensführung natürlich durchaus die Krawatte ablegen und sich duzen lassen. Viel wichtiger ist aber, dass sich die Leitung als Digital Leader begreift und die notwendige Umstrukturierung organisiert und aktiv begleitet. Und bei allen technischen Möglichkeiten der Digitalisierung sollten Chefs die Bedeutung des Faktors Mensch im Blick behalten - er bleibt das wichtigste Kapital und unabdingbar für den Unternehmenserfolg.
Jochen Malinowski von Accenture unterstreicht, dass es bei einem modernen Führungsstil nicht nur um technologische Lösungen geht, sondern vielmehr da­rum, einen Mehrwert für seine Kunden zu generieren und neue Geschäftsmodelle zu kreieren - „dazu gehört, Menschen, Technik und Kunden richtig zusammenzubringen.“
Er gibt Führungskräften außerdem den Rat, einen Blick über den Tellerrand zu werfen und die eigenen Unternehmens- und Industriegrenzen auch einmal hinter sich zu lassen. „Ich empfehle jeder Führungskraft, gezielt in Richtung anderer Industrien zu schauen, sich inspirieren zu lassen und bestenfalls nach industrieübergreifenden Ansätzen zu suchen.“ Darüber hi­naus sei es wichtig, das Unternehmen auf stetige Innovationen auszurichten. Es gehe nicht darum, einmalig innovative Produkte oder Services zu entwerfen, sondern kontinuierlich und in kurzen Zyklen.
4. Teil: „Im Gespräch mit Prof. Dr. Claudia Peus von der TU München“

Im Gespräch mit Prof. Dr. Claudia Peus von der TU München

  • Prof. Dr. Claudia Peus: Academic Director am Center für Digital Leadership Development an der TU München
    Quelle:
    TU München
Claudia Peus ist Professorin für Forschungs- und Wissenschaftsmanagement an der TU München und Academic Director am dortigen Center für Digital Leadership Development. Zudem ist sie geschäftsführende Vizepräsidentin für Talentmanagement und Diversity der TU München und Gründungsdirektorin des departmentübergreifenden TUM Institute for Life Long Learning. In ihrer Forschung beschäftigt sich Peus schwerpunktmäßig mit den Themen Führung und Führungskräfteentwicklung im digitalen Zeitalter. Im Interview erklärt sie, was moderne Führungskräfte auszeichnet.
com! professional: Frau Peus, inwiefern unterscheidet sich Digital Leadership von einer Führung, wie wir sie bisher kannten?
Claudia Peus: Das hängt natürlich davon ab, was genau mit dem Begriff gemeint ist. Die Führung von virtuellen Teams wird darunter häufig subsumiert, denn sie stellt noch höhere Anforderungen an die Führungskraft als Führung vor Ort. Weiterhin hat sich der Informations- und Wissensvorsprung, den Führungskräfte in der Vergangenheit hatten, drastisch reduziert. Die sogenannten sozialen Medien haben einen großen Einfluss auf Führung, denn alle Aussagen und Handlungen von Führungskräften sind viel transparenter und Mitarbeiter können diese sowie jegliche Informationen über das Unternehmen in Sekundenschnelle an die Öffentlichkeit in der ganzen Welt kommunizieren. 
Schließlich ermöglichen digitale Tools es zunehmend, wichtige Entscheidungen, wie die Selektion von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, an Algorithmen zu delegieren. Führungskräfte sollten sich aber gut überlegen, ob sie dies tun und welche Konsequenzen das für sie, das Unternehmen, die Mitarbeiter und die Gesellschaft als Ganzes jetzt und in der Zukunft haben wird.
com! professional: Welche Anforderungen stellt Digital Leadership an Führungskräfte? Was für Schlüsselfähigkeiten zeichnen sie aus?
Peus: Im digitalen Zeitalter sind Führungskräfte mehr denn je gefordert, einerseits eine klare Zielrichtung zu kommunizieren und andererseits ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu vertrauen. In Zeiten des Lockdowns waren viele Führungskräfte über Nacht gefordert, aus dem Homeoffice zu führen, was sich besonders schwierig gestaltete, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorher engmaschig kontrolliert wurden. Nun braucht es mehr denn je Vertrauen in die Fähigkeit und Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
com! professional: Vertrauen heißt aber nicht „anything goes“, oder?
Peus: Wichtig sind klare Spielregeln, wie zusammengearbeitet wird. Sie sind noch wichtiger als in Zeiten der Zusammenarbeit vor Ort, wo sich schnell nachsteuern lässt und Unklarheiten auf dem Flur beseitigt werden können. Es ist essenziell, dass die Führungskraft klar kommuniziert, was sie von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet, aber auch versteht, was diese von ihr erwarten - um gegebenenfalls unrealistische Erwartungen ausräumen zu können.
com! professional: Aber auch in Sachen Technikverständnis ändert sie so einiges …
Peus: Führungskräfte sind mehr denn je gefordert, über die aktuellen technologischen Entwicklungen informiert zu sein. Sie müssen bewerten können, welche Implikationen die Technologien für ihr Unternehmen haben - ob sie neue Geschäftsmodelle bedingen, neue Methoden der Kommunikation mit Kunden oder Mitarbeitern, neue Fertigungs- oder Wartungsmethoden und ob vielleicht ganze Geschäftszweige in Kürze wegfallen, weil sie etwa von der Künstlichen Intelligenz übernommen werden.
com! professional: Bei Digital Leadership geht es aber vor allem um die Menschen …
Peus: … deren Grundbedürfnisse sich nicht geändert haben. Führungskräfte brauchen daher ein Verständnis davon, wie Menschen „funktionieren“.
Die Digitalisierung bietet ein überwältigendes Potenzial an Möglichkeiten. Wie Führungskräfte dieses nutzen, hängt von ihren Werten ab. Sie sind daher auch mehr denn je gefordert, einen klaren Wertekompass zu entwickeln und ihr Handeln auch und gerade in schwierigen Zeiten daran auszurichten, denn: If you don’t stand for something, you will fall for anything.
com! professional: Bleiben wir noch kurz bei den Mitarbeitern. Für sie spielt immer häufiger der Sinn und Zweck ihrer Arbeit eine Rolle. Wie sollten Führungskräfte darauf reagieren?
Peus: Je mehr Veränderungen es gibt, je mehr alte Gewissheiten infrage gestellt werden, desto mehr suchen Menschen nach Orientierung und Sinn. Bezogen auf Organisationen zeigt sich dementsprechend, dass „mission-driven organizations“ besonderen Zulauf erfahren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist es wichtiger als früher, eine Tätigkeit zu verrichten, die einem übergeordneten Sinn dient.
Dies wird oft viel stärker in Bewerbungsgesprächen erfragt als das noch vor wenigen Jahren der Fall war. Das stellt neue Anforderungen an Organisationen, aber auch an individuelle Führungskräfte, die mehr als je zuvor gefragt sind, als Sinnstifter zu agieren. Das wird vom Bedürfnis nach Kontrolle, das Menschen haben, noch verstärkt. Dabei ist Kontrolle nicht nur Beeinflussbarkeit. Wenn diese fehlt, etwa in der Corona-Krise, müssen Führungskräfte versuchen, zumindest die weiteren Aspekte psychologischer Kontrolle herzustellen, nämlich Erklärbarkeit und Vorhersehbarkeit, um Vertrauen und Wohlergehen der Mitarbeiter zu fördern. Führungskräfte sind gerade im Wandel aufgerufen, das Warum der Veränderungen zu transportieren.
com! professional: Was kann ich als Mitarbeiter eigentlich tun, wenn mein Chef nur wenig an Veränderungen interessiert ist und eine digitale Transformation nicht oder nur halbherzig unterstützt?
Peus: Zum einen kann es hilfreich sein, mit Zahlen, Daten, Fakten zu versuchen, den Vorgesetzten oder die Vorgesetzte von der Bedeutung neuer Methoden und Herangehensweisen zu überzeugen und dabei die Potenziale für das eigene Unternehmen oder den eigenen Bereich aufzuzeigen. Zum anderen ist es oft gut, aufzuzeigen, was passiert, wenn man sich hier nicht engagiert, und Beispiele von Unternehmen parat zu haben, die in einer führenden Position waren, neue Technologien aber „verschlafen“ haben, etwa Kodak oder Nokia. Weiterhin ist es wichtig, sich Verbündete zu suchen, also Kollegen, die das Anliegen teilen und ebenfalls beim Chef beziehungsweise der Chefin vorbringen. Schließlich zeigen uns die Forschungsergebnisse zu Minoritäten, dass diese dann erfolgreich sind, wenn sie konsistent immer wieder ihr Anliegen und die Begründungen dafür vorbringen, ihre Argumentation aber flexibel an das Gegenüber anpassen. Der eine lässt sich eher von einer Zukunftsvision begeistern, der andere von nüchternen Zahlen bewegen.
com! professional: Bei aller Theorie: Wo stehen Unternehmen in Deutschland Ihrer Erfahrung nach in Sachen digitaler Führungskultur?
Peus: Das ist natürlich nicht so leicht zu beantworten. Einblicke gibt aber zum Beispiel eine Befragung von Führungskräften aus Deutschland, die wir an der TU München seit 2016 jedes Jahr gemeinsam mit der Wertekommission durchführen. Seit 2017 fragen wir, wie gut Deutschland auf die Digitalisierung vorbereitet ist.
Dabei zeigt sich, dass die Frage sehr unterschiedlich beantwortet wird, je nachdem auf welche Ebene Bezug genommen wird: Während beispielsweise knapp die Hälfte der Befragten (47 Prozent) ihrem Unternehmen eine ausreichende Vorbereitung attestiert, fällt die Bewertung der übergeordneten Ebenen - also Gesellschaft, Wirtschaftsstandort, Arbeitswelt - deutlich skeptischer aus. So steigt der Anteil jener, die die Gesellschaft in Deutschland insgesamt als un­zureichend vorbereitet sehen, erstmals seit 2017 über die 50-Prozent-Marke. Mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland setzt sich die Tendenz zu mehr Skepsis aus der Befragung 2018 fort.
com! professional: Vielleicht ist Deutschland auch schlicht noch nicht ausreichend vorbereitet.
Peus: Etwa 35 Prozent der befragten Führungskräfte geben an, Deutschland sei hier unzureichend vorbereitet. Also kurz gefasst: Es gibt zwar viele Unternehmen, die Vorreiter sind, und Führungskräfte, die hervorragende Digital Leader“ sind, aber insgesamt gibt es noch Luft nach oben.

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