Digitalisierung
11.01.2023
Digitalisierung
1. Teil: „Digitale Zwillinge erreichen die Fabrikhallen“

Digitale Zwillinge erreichen die Fabrikhallen

Shutterstock / Wright Studio
Die Bedeutung digitaler Zwillinge in der Industrie nimmt rapide zu. Erste Unternehmen nutzen virtuelle Abbilder, um Autos, Impfstoffe oder Kreuzfahrtschiffe effizienter zu entwickeln.
Die Reisebranche gehörte zu den ersten, die sich mit digitalen Zwillingen beschäftigt und sie einer breiten Öffentlichkeit nahegebracht hat. So ist es heute etwa möglich, sich schon vor Reiseantritt virtuell in einem Club Robinson auf den Malediven umzusehen, eine digitale Rundreise durch Indonesien zu unternehmen oder einen Blick in eine virtuelle Kopie des Kreuzfahrtschiffs Aida Nova zu werfen.

Virtuelle Abbilder

Paul Meyer, Chief Information Officer (CIO) der Emsländer Meyer Werft, die unter anderem schon mehrere Aida-Schiffe entwickelt und gebaut hat, geht diese Nutzung  virtueller Abbilder allerdings nicht weit genug. Auf den Hamburger IT-Strategietagen stellte er Anfang des Jahres sein Konzept „Digital Twins für die schwimmende Kleinstadt – digitale Transformation im Schiffbau“ vor. Der Schiffsbaukonzern nutzt ein PLM-System (Product Lifecycle Management), das nach Meyers Angaben derzeit schon mehr als 16 Millionen Einzelteile verwaltet, die heutzutage allesamt für ein modernes Kreuzfahrtschiff benötigt werden. Dazu gehören Schrauben, Bolzen und Nieten, aber etwa auch die Teppiche für die Speisesäle. Aus den Daten lassen sich digitale Zwillinge konstruieren, die zum Beispiel in einer sehr frühen Phase des Fertigungsprozesses einen Besuch des geplanten Ozeanriesen erlauben. Wenn dann Änderungen durch die Auftraggeber gewünscht werden, lassen sich diese im virtuellen Zwilling in Ruhe testen und kostengünstig durchrechnen.
Weniger bekannt sind digitale Zwillinge im medizinischen Bereich. Dabei handelt es sich um ein Thema, mit dem sich die Marktforschungsgesellschaft PwC Deutschland schon Ende 2018 in einer Studie beschäftigt hat. Drei Viertel der damals befragten Personen gaben an, noch nie von der Thematik gehört zu haben. Das übrige Viertel hatte zwar schon etwas mitbekommen davon, konnte es aber nicht genauer erklären. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bevölkerung in Deutschland digitalen Zwillingen in der Medizin ablehnend gegenüberstehen würde. Über 70 Prozent fanden die Idee laut PwC „sehr sinnvoll“ beziehungsweise „eher sinnvoll“. Als wichtigste Vorteile nannten die Teilnehmer der Studie eine mögliche Unterstützung ihres Arztes bei Entscheidungen über die optimale Therapie, die dadurch erleichterte Wahl passender Medikamente sowie eine Entlastung der Patienten durch die Vermeidung unnötiger Operationen.
Bei aller Begeisterung über die neuen Möglichkeiten wurden aber auch Nachteile genannt. So sahen viele Umfrageteilnehmer die Gefahr, dass ihre Daten in die falschen Hände geraten könnten, es zu einer zu geringen Orientierung am Menschen kommen könnte sowie ein erhöhtes Risiko technischer Fehler. Trotzdem würden jeweils rund 40 Prozent der Befragten einen digitalen Zwilling von sich erstellen lassen, wenn sie an einer chronischen oder an einer seltenen Krankheit litten.

Anforderungen an die Datenqualität

Die Journalistin Andrea Lutz und Doreen Pfeiffer, Redakteurin bei Siemens Healthineers, sind überzeugt, dass digitale Zwillinge die Medizin „völlig umkrempeln“ können. In einem Beitrag für den Medizintechnik-Hersteller weisen sie aber darauf hin, dass für virtuelle Zwillinge sehr viele Daten benötigt werden, die fortlaufend auf dem aktuellen Stand gehalten werden müssen. Diese Anforderung dürfe nicht unterschätzt werden.
Grundvoraussetzung für die Entwicklung echter digitaler Doppelgänger ist laut Lutz und Pfeiffer „das Vorhandensein vollständiger, sorgfältig erhobener Daten zum richtigen Zeitpunkt“.
Die Autorinnen geben zu bedenken, dass man zum Erstellen des Twins Millionen von Datensätzen benötigt. „Erst im nächsten Schritt können sie zu einem holistischen, menschlichen Modell zusammengesetzt werden, um für einen spezifischen Patienten Rückschlüsse zu ziehen, indem es dessen individuelle Ausgangssituation mit ähnlichen Datensätzen vergleicht“, schreiben sie in dem gemeinsam verfassten Beitrag.
Vollständige Modelle menschlicher Patienten blieben deswegen vorerst noch eine Vision. Anders sehe es aus, wenn es um bestimmte Teilbereiche gehe. Diese seien schon „zum Greifen nahe“. Nützlich seien digitale Zwillinge etwa, um für einzelne Personen Auswirkungen zu prognostizieren, wie sie zum Beispiel durch eine Änderung ihres Lebensstils eintreten.

Digital Twins in der Industrie

Richtig neu ist die Idee virtueller Zwillinge wie erwähnt nicht mehr. Schon seit Jahren werden sie in Simulationen oder zum Beispiel in CAD-/CAM-Systemen eingesetzt. In der Industrie hat sich die Nutzung von Digital Twins immer weiter verbreitet.
So kommt den digitalen Zwillingen nach Ansicht des Marktforschungsunternehmens Global Data mittlerweile eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Industrie 4.0 zu. Die Technik könne Herstellern dabei helfen, ihre Produktivität zu steigern und gleichzeitig die Betriebskosten zu senken, die Leistung zu optimieren und überhaupt die Art und Weise zu ändern, wie eine vorausschauende Anlagenwartung durchgeführt werden könne.
Je digitaler die Prozesse in den Fabriken werden, desto schneller gelingt es mithilfe der digitalen Zwillinge, physische Probleme zu finden, Ergebnisse neuer Prozesse genauer vorauszusagen und insgesamt bessere Produkte zu entwickeln, ist Global Data überzeugt. Die wichtigsten Faktoren sind dabei nach Aussage von Abhishek Paul Choudhury, Senior Disruptive Tech Analyst bei Global Data, Fortschritte in den Bereichen Machine Learning (ML), Künstliche Intelligenz (KI), Internet of Things (IoT) sowie die zunehmende Nutzung der Cloud.
Eine Rolle spiele zudem das Bedürfnis, sowohl die Kosten als auch die Zeit für die Entwicklung neuer Produkte zu reduzieren. „Die neue Technologie hilft den Herstellern beim Testen und Interagieren mit Sensoren, die in funktionierende Produkte eingebettet werden“, so Choudhury. Dadurch erhielten die Unternehmen nicht nur Echtzeiteinblicke in die Leistung der Systeme, sondern könnten rechtzeitige Wartungen und Reparaturen gewährleisten.

Fabriken planen im Omniverse

Eines der Unternehmen, die eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung und Nutzung digitaler Zwillinge spielen wollen, ist Nvidia. Der Grafikkartenhersteller hat die Omniverse-Plattform entwickelt, die seit Kurzem auch als buchbarer Cloud-Dienst zur Verfügung steht. Omniverse ermöglicht es den Kunden, physikalisch genaue virtuelle Replikate von einzigartigen Objekten, Prozessen oder Umgebungen zu erstellen und auf dieser Basis physikalisch korrekte
Simulationen in Echtzeit durchzuführen.
Darüber hinaus ist es mit der Omniverse-Plattform möglich, dass mehrere Nutzer gleichzeitig über das Internet an einem virtuellen Modell arbeiten und es gemeinsam verbessern. „Mit Omniverse in der Cloud können wir Teams auf der ganzen Welt miteinander verbinden, um virtuelle Welten und digitale Zwillinge zu entwerfen, aufzubauen und zu betreiben“, erläutert Jen-Hsun Huang, Gründer, President und CEO von Nvidia. Außerdem lassen sich virtuelle Kundenbesuche durchführen, damit diese weit früher als bisher erfahren, wie das Produkt später tatsächlich aussehen wird. Nvidia hat Omniverse modular aufgebaut. Verschiedene Plug-ins stehen je nach Branche und Bereich zur Verfügung.
2. Teil: „Neue Perspektiven“

Neue Perspektiven

Ein Industriekonzern, der die Omniverse-Plattform von Nvidia bereits nutzt, ist die BMW Group. Milan Nedeljkovic, Produktionsvorstand der BMW AG, sieht „völlig neue Perspektiven auf dem Feld der virtuellen, digitalen Planung“. Man wolle damit „auf dem Gebiet der virtuellen Fabrikplanung neue Maßstäbe“ setzen. Ein virtuelles Abbild des Produktionsnetzwerks ermögliche dem Konzern zukünftig, einen neuartigen, integrierten Ansatz in seinen Planungsprozessen umzusetzen. „Mit Omniverse erhöhen wir die Präzision, die Geschwindigkeit und somit die Effizienz unserer Prozesse“, so Nedeljkovic. Auch Nvidia-Chef Jen-Hsun Huang sieht darin die „Zukunft der Produktion“.
Die virtuelle Planung von Fabriken ist aber noch nichts wirklich Neues. Bisher müssen dafür jedoch zahlreiche Daten von unterschiedlichen Anwendungen transferiert und kombiniert werden. Das ist ein sehr zeitaufwendiger Prozess, der in der Praxis immer wieder zu Kompatibilitätsproblemen führt. Durch die umständlichen Abläufe können auch nicht immer die gerade aktuellen Daten berücksichtigt werden. Die Omniverse-Plattform soll es dagegen möglich machen, Live-Daten aus allen relevanten Datenbanken leichter in einer gemeinsamen Simulation zusammenzuführen.
  • Einer der großen Vorteile der Omniverse-Plattform von Nvidia ist die Möglichkeit zur Zusammenarbeit über das Internet.
    Quelle:
    Nvidia
Auch ein späterer Re-Import von Daten soll damit überflüssig werden. Bereits in einem frühen Planungsstatus könne man Veränderungen und Anpassungen beurteilen und eine Gesamtansicht erzeugen. Diese weit höhere Transparenz ermögliche den Planern und Produktionsspezialisten eine genauere und schnellere Planung hochkomplexer Produktionssysteme, ohne dass es dabei zu Schnittstellenverlusten und Kompatibilitätsproblemen kommt. Die Omniverse-Plattform erzeuge zudem fotorealistische Echtzeitsimulationen in einer einzigen, kollaborativ nutzbaren Umgebung.
Überzeugt hat BMW nach eigener Aussage, dass „Mitarbeiter an unterschiedlichen Standorten in unterschiedlichen Zeitzonen jederzeit Zugriff auf die virtuelle Simulation haben und gemeinsam im Detail einen Prozess oder eine Produktionsanlage planen oder optimieren können“. Das erleichtere die Zusammenarbeit von Planern und Produktionsspezialisten, aber auch eine Integration neuer Anlagen in Absprache mit den Lieferanten lasse sich so leichter mit entfernten Kollegen und Partnern klären.
Zusätzlich sieht der Konzern positive Effekte für die Logistik. Omniverse ermögliche eine bisher nicht bekannte Datendurchgängigkeit von der Planung bis hin zur Produktion, da es damit möglich sei, sofortige Live-Änderungen vorzunehmen. Das erhöhe die Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen spürbar. Die BMW Group will daher in Zukunft für jedes ihrer weltweiten Werke den gesamten Planungszyklus visualisieren.
  • In der mit Omniverse realisierten digitalen Fabrik entsteht ein virtueller BMW.
    Quelle:
    BMW
3. Teil: „Nachhaltigkeit durch virtuelle Zwillinge“

Nachhaltigkeit durch virtuelle Zwillinge

Virtuelle Zwillinge werden aber auch bereits in ganz anderen Sektoren eingesetzt. So hat die Corona-Krise eindrücklich gezeigt, wie wichtig eine schnelle Entwicklung von Impfstoffen sein kann. Der britische Pharmakonzern Glaxo­SmithKline (GSK) hat sich deshalb mit Siemens und dem französischen IT-Dienstleister Atos zusammengetan, um die Herstellung neuer Vakzine mit digitalen Zwillingen zu beschleunigen. Zusammen mit den Partnern hat GSK einen ersten Proof of Concept entwickelt, der sich auf die Herstellung von Partikeln für Impfstoffzusätze konzentriert.
Nach Angaben von Matt Harrison, Head of Sciences, Digital Innovations and Business Strategy in Vaccines bei GSK, ist „durch den Einsatz von digitalen Zwillingen eine schnellere, weniger verschwenderische und kostengünstigere Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen möglich“ geworden. Die Technik könne die Zahl der realen Experimente drastisch reduzieren. Das verhelfe wiederum Forschung und Entwicklung zu einer höheren Nachhaltigkeit, weil dafür in Zukunft weniger Materialien und Energie benötigt werden.

Eine ganze Stadt als digitaler Zwilling

Eine andere Einsatzmöglichkeit hat der schwedische Hersteller von Mobilfunktechnik Ericsson gefunden. Er nutzt die Omniverse-Plattform, um seine brandneue 5G-Technik virtuell zu testen. Dazu hat das Unternehmen einen virtuellen Zwilling der schwedischen Hauptstadt Stockholm mit allen Gebäuden erstellt, um damit die Verbreitung von Funkstrahlen zu berechnen. Die Simulation soll so wirklichkeitsgetreu sein, dass schon das Entfernen eines virtuellen Baums einen Einfluss auf die Funksignale hat. Ericsson will die Ergebnisse künftig verwenden, um die optimalen Standorte für neue 5G-Sendemasten zu finden.
  • Der Equipment-Hersteller Ericsson nutzt digitale Zwillinge, um optimale Standorte für 5G-Sendemasten zu finden.
    Quelle:
    Ericsson
  • Ericsson hat eine virtuelle Kopie Stockholms erstellt, um darin die Ausbreitung von Funkstrahlen zu simulieren.
    Quelle:
    Ericsson

Zwillingsmacher von AWS

Auch die Amazon-Tochter Amazon Web Services will das Erstellen digitaler Zwillinge mit dem im April dieses Jahres auf den Markt gebrachten Cloud-Dienst AWS IoT TwinMaker vereinfachen. Als Basis dienen wiederum reale Systeme wie industrielle Ausrüstungen, Produktionslinien, Gebäude und sogar ganze Fabriken. Nach Angaben von AWS bietet der Dienst alle benötigten Werkzeuge, um digitale Zwillinge mithilfe verschiedener Quellen wie Gerätesensoren, Videokameras oder Geschäftsanwendungen zu erstellen. Darüber hinaus soll es möglich sein, bereits existierende 3D-Modelle mit Daten aus der Echtwelt zu kombinieren.
  • Mit AWS IoT TwinMaker lassen sich reale Objekte in virtuelle Zwillinge umwandeln.
    Quelle:
    AWS
Sobald ein neuer digitaler Zwilling erstellt ist, können Entwickler ein Plug-in für Amazon Managed Grafana verwenden. Mit diesem Cloud-Dienst lässt sich dann eine webbasierte Anwendung erzeugen, die den digitalen Zwilling auf Geräten abbildet, die die Anlagenbetreiber und ihre Wartungstechniker zur Überwachung und Inspektion der Anlagen und Industriesysteme nutzen. Amazon nennt als Beispiel den digitalen Zwilling einer Anlage zur Verarbeitung von Metallen. Dabei werden die Daten von den Sensoren der Anlage mit Echtzeitvideos der verschiedenen in Betrieb befindlichen Maschinen und ihrer tatsächlichen Wartungshistorie verknüpft. Anschließend können die Entwickler Regeln einrichten, um zum Beispiel Alarm auszulösen, wenn Anomalien wie zu hohe Temperaturen im Ofen der Anlage auftreten.
Darauf basierend lassen sich dann frühzeitig Wartungen ansetzen, bevor der Ofen ausfällt. Zu den ersten Kunden, die AWS IoT TwinMaker laut Amazon nutzen, gehören der IoT-Plattformanbieter Carrier, der Textilhersteller Invista sowie der australische Hoch- und Tiefbaukonzern John Holland.
4. Teil: „Fazit & Ausblick“

Fazit & Ausblick

In der Vergangenheit wurden digitale Zwillinge vor allem eingesetzt, um die Leistung einzelner Anlagen wie Windturbinen oder die Laufwerke von Flugzeugen zu verbessern. Heutzutage verbinden die digitalen Doppelgänger nicht mehr nur einzelne Systeme, sondern komplette Fabriken. Damit steigt auch ihre Fähigkeit, zur Lösung komplexer Probleme beizutragen.
Außerdem eignen sie sich, um die Effizienz zu erhöhen und Ressourcen zu sparen – ein neben dem Kostenaspekt heutzutage immer wichtiger werdender Punkt. Es verwundert deswegen nicht, dass Digital Twins als nächster Schritt in der digitalen Transformation zahlreicher Unternehmen gelten.
  • Nicht nur einzelne Objekte lassen sich virtualisieren, sondern auch komplette Fabriken.
    Quelle:
    Nvidia

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