Blockchain
17.08.2020
Politik und Unternehmen im Umbruch
1. Teil: „Auf dem Weg zur richtigen Blockchain-Strategie“

Auf dem Weg zur richtigen Blockchain-Strategie

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Bild: Shutterstock / Rost 9
Die Blockchain-Technologie soll Geschäftsprozesse revolutionieren. Experten attestieren ihr ein großes Potenzial. Auch die Politik ist hellhörig geworden. Zurecht?
Im Jahr 2008 schlug der mysteriöse Satoshi Nakamoto, dessen wahre Identität bis heute ungeklärt ist, ein System vor, das Finanztransaktionen zwischen zwei Parteien ohne Umweg über eine Bank oder einen Dienstleister wie Paypal möglich machen sollte. Für Sicherheit und Vertrauen sollte ein Peer-to-Peer-Netzwerk sorgen, das fälschungssichere Transaktionen erlaubt, indem es eine fortlaufende Kette von Hash-basierten Arbeitsnachweisen (Proof of Work) erzeugt, die aus dem rechenaufwendigen Lösen kryptografischer Rätsel bestehen. Eine mit einem Zeitstempel versehene und in die Kette eingebettete Transaktion ließe sich nicht ändern, ohne den kompletten Proof of Work zu wiederholen. Der Name dieses digitalen Bargelds: Bitcoin.
Über ein Jahrzehnt und mehrere Skandale später beträgt das Marktvolumen von Bitcoin rund 150 Milliarden Euro. Bitcoin ist damit nicht nur die erste, sondern auch die mit Abstand erfolgreichste Kryptowährung.
Die Popularität von Bitcoin ist jedoch Fluch und Segen zugleich für die zugrundeliegende Blockchain-Technologie. Der Handel mit Bitcoin gilt als unseriös und ist hoch spekulativ, die Volatilität des Wechselkurses übertrifft die von „echten“ Währungen um Größenordnungen. Kostete ein Bitcoin beispielsweise 2013 rund 60 Euro, so stieg sein Wert bis 2017 auf fast 18.000 Euro, um dann wieder auf etwas mehr als 3000 Euro abzustürzen.
Das digitale Bargeld hat sich außerdem als Lieblingszahlungsmittel für Cyberkriminelle, Drogendealer und andere finstere Gestalten etabliert. Laut dem Blockchain-Spezialisten Chainalysis standen im vergangenen Jahr Transaktionen mit Kryptowährungen im Wert von insgesamt 11,5 Milliarden Dollar im Zusammenhang mit kriminellen Aktivitäten. Auch Terroristen nutzen zunehmend Bitcoin & Co., um Waffen und Anschläge zu finanzieren. Die im Mai 2020 kursierenden Gerüchte, die Terrororganisation ISIS verfüge über eine Bitcoin-Kriegskasse von rund 300 Millionen Dollar, hält Chainalysis allerdings für falsch.

Mehr als ein Zahlungsmittel

Bitcoin ist schon lange nicht mehr die einzige Kryptowährung. CoinMarketCap, ein Tochterunternehmen der Krypto­währungsbörse Binance, listet inzwischen 200 aktive Systeme auf. Die Zahlungsmittel mit der größten Marktkapitalisierung sind laut CoinMarketCap Bitcoin, Ethereum, Tether und XRP.
Schlagzeilen machte im vergangenen Jahr der Vorschlag von Facebook, eine Kryptowährung namens Libra einzuführen, die als sogenannte Stable Coin an Sachwerte gebunden werden sollte, um extreme Kursschwankungen zu verhindern. Die Finanzminister der Welt lehnten diese Idee nahezu einhellig ab.
Verteilte Transaktionsdatenbanken bieten allerdings weit mehr Anwendungsmöglichkeiten, als nur einen vermittler­losen Geldtransfer zu ermöglichen. Und die bei Bitcoin zur Anwendung kommende Verkettung von Transaktionsblöcken in einer Blockchain ist auch nur eine Variante der Distributed-Ledger-Technologie (DLT). Ein dezentral geführtes Kassenbuch (englisch: Ledger) lässt sich auch über andere Mechanismen, etwa verteilte azyklische Graphen (Distributed Acyc­lic Graphs, DAG) realisieren. Da Blockchain allerdings die am weitesten verbreitete und gebräuchlichste DLT-Methode ist, werden beide Begriffe hier synonym verwendet.
In einem verteilten Ledger lassen sich beispielsweise alle möglichen Arten von Vermögenswerten wie Autos, Immobilien, Container oder Paletten als Token repräsentieren. Deren Nutzung oder Verkauf kann dann über Smart Contracts automatisiert werden, die so programmiert sind, dass bei einem bestimmten Ereignis automatisch eine Bezahlung ausgelöst wird. So könnte etwa die Vermietung einer Ferienwohnung oder eines Fahrzeugs ohne Vermittler und ohne Schlüsselübergabe erfolgen. Bei Start der Nutzung, die über Sensoren registriert wird, beginnt automatisch der Smart Contract zu laufen und löst beispielsweise die Hinterlegung einer Kau­tion aus. Mit der ebenfalls über Sensoren erfassten ordnungsgemäßen Rückgabe werden Rechnungsstellung und Bezahlung angestoßen. Die Automatisierung kann sogar so weit führen, dass sich Gegenstände als Dezentrale Autonome Organisation (DAO) selbst verwalten.
Da Token beliebig gestückelt werden können und die Transaktionskosten sehr gering sind, eignen sie sich außerdem sehr gut für Micropayment-Anwendungen. Der JavaScript-Erfinder und frühere Mozilla-CEO Brendan Eich hat beispielsweise in seinen Browser Brave das auf dem Blockchain-Netzwerk Ethereum basierende Basic Attention Token (BAT) integriert. Nutzer können sich BATs verdienen, indem sie sich im Browser Werbung ansehen. Mit den erwirtschafteten BATs lassen sich wiederum Autoren, Nachrichten-Websites und andere Content-Anbieter für ihre Dienste bezahlen. Eine Personalisierung des BAT-Kontos ist nur dann notwendig, wenn man sich sein Guthaben auszahlen oder zusätzliche BATs erwerben möchte.
Der Peer-to-Peer-Marktplatz Golem setzt ebenfalls auf der Ethereum-Plattform auf. Er vermittelt zwischen Anwendern, die Rechenleistung der Haupt- und Grafikprozessoren (CPU/GPU) ihrer PCs dem Netzwerk zur Verfügung stellen, und den Nutzern dieser Ressourcen. So entsteht ein verteilter „Supercomputer“, der praktisch unbegrenzt skalierbar ist und viel eher einer Cloud ähnelt, als die zentralisierten Rechenzentren der Cloud-Provider. Bezahlt wird mit der Währung Golem Network Token (GNT).
2. Teil: „Lückenlose Lieferketten“

Lückenlose Lieferketten

  • Woher kommt der Salat? Diese Frage will Walmart künftig dank einer Blockchain-basierten Lieferketten-Nachverfolgung in wenigen Sekunden beantworten können.
    Quelle:
    Walmart
Die Unveränderlichkeit und Transparenz der in einer Blockchain gespeicherten Daten könnte vor allem aber auch die Zusammenarbeit in Lieferketten revolutionieren. Die Einhaltung von regulatorischen Vorschriften, Compliance-Richtlinien, Nachhaltigkeitskriterien oder Sicherheitsprotokollen lässt sich wesentlich leichter dokumentieren, wenn  der Weg eines Produkts von der Herstellung bis zum Einzelhandel über alle Zwischenstufen hinweg lückenlos dokumentiert werden kann, so die Idee dahinter.
Der Einzelhandelskonzern Walmart experimentiert beispielsweise schon seit 2016 mit einer solchen Repräsentation von Lieferketten auf Basis des Food Trust Networks, einer Blockchain-Implementierung von IBM. Ziel war es, bei kontaminierten oder verdorbenen Lebensmitteln schnell den Erzeuger identifizieren und die betroffenen Waren gezielt entfernen zu können. Die Zeit für den Herkunftsnachweis für ein Produkt soll sich dank Blockchain von sieben Tagen auf 2,2 Sekunden reduzieren lassen. „Künftig könnte ein Kunde mit der Technologie eine Tüte Salat scannen und mit Sicherheit wissen, woher sie stammt“, erklärt Frank Yiannas, VP of Food Safety bei Walmart.
Auch in Deutschland beschäftigen sich Unternehmen mit dem Einsatz von Blockchain-Technologen in der Logistik, etwa in dem Projekt Palettenschein. In ihm erprobten Unternehmen aus Handel, Industrie, Logistik und IT gemeinsam mit Start-ups, Verbänden und Wissenschaftlern unter der Führung des Projektdienstleisters GS1 Germany, ob sich das papierlastige, ineffiziente und teure Pfandsystem für Europaletten auf einer Blockchain abbilden ließe. Ein Prototyp wurde 2018 eingeführt und unter realen Bedingungen getestet. Das System bewährte sich in der Praxis. „Der Palettenschein lässt sich mit Blockchain digitalisieren und in einer App abbilden. Der Tauschprozess wird an mehreren Stellen effizienter. Sowohl an den Laderampen als auch in der Belegabwicklung ist der Effekt spürbar geworden“, erklärt Projektteilnehmer Christian Grotowsky, Managing Director bei Lekkerland Information Systems, der IT-Tochter des Lebensmittel-Großhändlers Lekkerland.
Anfang dieses Jahres wurde ein Folgeprojekt gestartet, das in zwei Jahren eine Blockchain-basierte Lösung für verschiedene Ladungsträger zur Marktreife bringen soll. Neben Paletten sollen dabei auch Gitterboxen und Container berücksichtigt werden. „Die Ergebnisse unseres vergangenen Pilotprojekts haben die Teilnehmer und uns darin bestätigt, eine Open- Source-Lösung zu entwickeln, die alle Marktteilnehmer gewinnbringend für den Ladungsträgertausch nutzen können“, sagt Projektleiterin Regina Haas-Hamannt, Lead Innovation bei GS1 Germany. Das erste Jahr dient dabei rein der konzeptionellen Vorarbeit. Das Pilotprojekt habe gezeigt, dass die konzeptionellen Schritte vor der Entwicklung und dem Test der eigentlichen Blockchain-Lösung sehr komplex und elementar für den späteren Erfolg sind. „Ohne einen klaren Anwendungsfall und funktionierende Governance-Strukturen kann die beste Blockchain keinen Mehrwert liefern“, heißt es in der Projektankündigung. „Wir schätzen, dass wir nach rund einem Jahr so weit sein werden, auf Grundlage unserer konzeptionellen Vorarbeit die Lösung in der nächsten Projektphase implementieren zu können“, so Haas-Hamannt. „Gelingt uns dieser Riesenschritt, wird sich zeigen, ob der Markt bereit für Blockchain und damit auch für mehr Transparenz ist.“
3. Teil: „Identitätsschutz“

Identitätsschutz

Neben Finanzmarkt und Supply Chain könnte Blockchain vor allem die Internetwirtschaft revolutionieren. Anwender authentifizieren sich heute noch überwiegend über Nutzername und Passwort, um Online-Transaktionen durchzuführen. Wer glaubt, dieses System schütze Identitäten zuverlässig, der muss nur einmal die Webseite „Have I Been Pwned?“ besuchen. Der Microsoft-Security-Spezialist Troy Hunt listet auf ihr fast zehn Milliarden gehackter Accounts auf. Anwender können überprüfen, ob ihre E-Mail-Adressen und Passwörter bereits im Netz kursieren. Die Trefferquote ist erschreckend hoch.
Das aktuelle System der Authentifizierung und Autorisierung ist nicht nur unsicher und korrumpiert, es hat außerdem mächtige Vermittler geschaffen. Weil Anwender es leid sind, Hunderte Accounts zu verwalten, nutzen sie für ihre Einkäufe lieber eine Plattform wie Amazon und melden sich über die Identitätsdienste von Google oder Facebook an, statt für jede Webseite ein neues Passwort zu vergeben.
Der Preis dafür ist hoch. Da die Identitätsverwalter Informationen aus Hunderttausenden von Webseitenbesuchen, Suchanfragen, Online-Käufen, Tweets, Likes, Kommentaren und geposteten Bildern aggregieren und mit Big Data und KI auf Muster durchsuchen können, wissen sie über nahezu jeden Internetnutzer praktisch alles - vom Geburtsdatum über die Schuhgröße bis hin zur politischen und sexuellen Orientierung.
Blockchain-Systeme wie die Plattform Ana des niederländischen Start-ups Tykn könnten die Lösung für beide Probleme sein. Sie ermöglichen einen Zero-Knowledge Identity Proof. Mit anderen Worten: Ein Nutzer kann seine Identität gegenüber einem Anbieter nachweisen, ohne dass dabei sensible Daten übermittelt werden. Das System funktioniert in etwa so: Eine vertrauenswürdige Stelle (zum Beispiel das Einwohnermeldeamt) attestiert dem Anwender die Korrektheit seiner Identitätsangaben (Name, Adresse, Alter und so weiter). Diese Atteste werden über eine Blockchain fälschungssicher zur Verfügung gestellt. So könnte ein Nutzer beispielsweise ein Auto mieten, ohne seinen Führerschein vorlegen und damit Informationen wie sein Geburtsdatum preisgeben zu müssen. Stattdessen bestätigt dem Vermieter die Blockchain-Plattform, dass der Kunde über eine gültige Fahr­erlaubnis verfügt. Für den amerikanischen Autor George Gilder bedeutet das Blockchain-basierte Identitätsmanagement das Ende der Plattformökonomie und deren mächtigstem Repräsentanten, Google. „Googles heimtückisches Weltsystem wird hinweggefegt werden“, schreibt er in seinem Buch „Das Leben nach Google“. 
Glossar: Die wichtigsten Blockchain-Begriffe
  • Blockchain: Kontinuierlich wachsende Datenbank, an deren Ende mittels kryptografischer Verfahren neue Transaktionen angehängt werden können. Da jeder neue Block einen Hash-Wert des vorhergehenden sowie einen Zeitstempel enthält, sind Manipulationen nahezu ausgeschlossen. Daher gilt die Blockchain als fälschungssicher. Das System gleicht einem Journal in der Buchhaltung, in dem ebenfalls neue Einträge kontinuierlich am Ende eingefügt werden. Deshalb wird die Blockchain-Datenbank auch häufig als Ledger (Hauptbuch, Kassenbuch) bezeichnet.
  • Central Bank Digital Currency (CBDC): Von einer Zentralbank herausgegebene Digitalwährung als gesetzliches, dem Bar- und Giralgeld gleichgestelltes nationales Zahlungsmittel. Da eine CBDC zentral verwaltet und herausgegeben wird, muss sie nicht notwendigerweise auf einer Distributed-Ledger-Technologie wie Blockchain basieren.
  • Dezentrale Autonome Organisation (DAO): Gegenstände, Immobilien oder Produktionsmittel, die „sich selbst gehören“ und ohne menschliches Zutun auf Basis von Smart Contracts agieren.
  • Distributed-Ledger-Technologie (DLT): Dezentral geführte Transaktionsdatenbank. Neue Transaktionen werden in alle verteilten Kopien übernommen, sodass bei allen beteiligten Parteien Übereinstimmung (Konsensus) über den aktuellen Stand des Ledgers herrscht. Ein Distributed Ledger muss nicht notwendigerweise als Blockchain implementiert sein. So verwendet beispielsweise das für den Einsatz im Internet of Things (IoT) konzipierte Netzwerk IOTA gerichtete azyklische Graphen (Directed Acyclic Graphs, DAG) für die Kontenführung.
  • Kryptowährung: Zahlungssysteme, die auf Verschlüsselungsmethoden beruhen. Eine Kryptowährung muss nicht zwingend auf einer Blockchain basieren, sondern kann auch andere Verfahren, etwa digitale Signaturen nutzen. Bei den aktuell verfügbaren Krypto-Zahlungsmitteln handelt es sich genau genommen allerdings nicht um Währungen im engeren Sinn.
  • Smart Contract: In Smart Contracts werden Vertragsbedingungen als Code programmiert und auf einer Blockchain abgelegt. Tritt ein im Smart Contract definiertes Ereignis ein, so werden automatisch die programmierten Transaktionen ausgelöst.
  • Token: Verrechnungseinheit für Güter und Dienstleistungen, die auf einer Blockchain repräsentiert werden. Dabei kann es sich um allgemeine Zahlungsmittel (Payment Token), zweckgebundene Verrechnungseinheiten (Utility Token), die Repräsentation von Vermögenswerten (Security Token), oder Gesellschaftsanteile (Equity Token) handeln. 
4. Teil: „Politik entdeckt Blockchain“

Politik entdeckt Blockchain

Auch Politiker begeistern sich zunehmend für Distributed-Ledger-Technologien. „Die Blockchain ist die nächste Entwicklungsstufe des Internets“, schreibt etwa der CDU-Bundestagsabgeordnete Johannes Steiniger in dem Buch „Eine Politik für morgen“, in dem junge Unionspolitiker ihre Vision der Zukunft präsentieren. „Die Potenziale der noch jungen Blockchain-Technologie sind hoch“, erklärte auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in einer gemeinsamen Pressemitteilung von Wirtschaft- und Finanzministerium zur Vorstellung der Blockchain-Strategie der Bundesregierung im vergangenen Herbst. Das Papier formuliert ambitionierte Ziele: Mit Hilfe ihrer Blockchain-Strategie will die Bundesregierung Innovationen fördern und Investitionen anstoßen, ohne die Stabilität der Gesamtwirtschaft und des Finanzsystems zu gefährden, die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens verbessern und einen fairen Wettbewerb ermöglichen, den digitalen Binnenmarkt in der EU stärken und die internationale Zusammenarbeit ausbauen. Schließlich verspricht die Bundesregierung auch noch, die Betroffenen einzubinden sowie IT-Sicherheit und Datenschutz zu gewährleisten.
Unternehmen und Verbände waren in einer ausführlichen Konsultationsphase in die Entwicklung der Strategie eingebunden. Mehr als 150 Stellungnahmen wurden berücksichtigt. Entsprechend positiv fiel auch die Reaktion von Wirtschaft und Lobbyisten auf das Positionspapier aus. „Deutschland hat mit der Blockchain die Chance, eine weltweite Führungsrolle bei einer neuen Technologie einzunehmen“, erklärte zum Beispiel Achim Berg, Präsident des Digitalverbands Bitkom. „Die Blockchain-Strategie mit ihren ambitionierten Zielen ist ein Aufbruchsignal, dass die Bundesregierung diese Möglichkeiten nicht nur erkannt hat, sondern sie auch ergreifen will.“
Philipp Sandner, Leiter des Frankfurt School Blockchain Center (FSBC) an der Frankfurt School of Finance & Management, findet ebenfalls positive Worte: „Die Stoßrichtung ist grundsätzlich zu begrüßen und auch die vorgeschlagenen Maßnahmen gehen in die richtige Richtung.“ Bei der Umsetzung hapere es allerdings: „Mir sind keine wesentlichen Maßnahmen bekannt, die bereits realisiert wurden“, moniert der Experte. „Deutschland hat bei Blockchain kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“ Dennoch sieht Sandner Deutschland in Europa in einer führenden Position: „Die Schweiz mag etwas weiter sein und auch in  Frankreich gibt es in einigen Industrien deutlichere Fortschritte, insgesamt hat Europa das Thema aber noch nicht verstanden.“ Die größte Konkurrenz komme derzeit ohnehin aus dem asiatischen Raum: „China ist uns bei Blockchain-Projekten sechs bis acht Jahre voraus.“ Dort habe man bereits 2014 damit begonnen, eine Blockchain-Basis für die nationale Währung vorzubereiten. „Mir ist kein anderes Land bekannt, in dem die Zentralbank und andere Finanzorganisa­tionen gemeinsam mit dieser Wucht an einer Umsetzung arbeiten“, sagt Sandner. Europa müsse seine Bemühungen dringend intensivieren: „Sonst wird die Zahlungsinfrastruktur der Zukunft so von ausländischen Organisationen geprägt sein, wie heute die Informationsinfrastruktur durch Amazon, Facebook und Google.“
In einem offenen Brief fordert Sandner gemeinsam mit über 150 Vertretern aus Wirtschaft und Wissenschaft daher eine Roadmap für den digital programmierbaren Euro. Die Gruppe betont, dass es ihr dabei nicht um die schnelle Einführung einer Digitalwährung im eigentlichen Sinn (Central Bank Digital Currency, CBDC) gehe, also ein dem Bar- und Giralgeld gleichgestelltes gesetzliches Zahlungsmittel. „Wir erkennen an, dass der digital programmierbare Euro als eine von der Zentralbank ausgegebene Währung - ein CBDC - ein großes und anspruchsvolles Projekt ist“, schreibt Sandner in dem offenen Brief. Ein auf Distributed-Ledger-Technologie basierender, als Token abgebildeter Euro sei jedoch schon früher möglich und notwendig, erklärt der Blockchain-Experte. Seine Roadmap sieht eine Einführung bis Ende 2022 vor. „Wir sind der Meinung, dass die Nachfrage nach dem digital programmierbaren Euro beständig zunimmt und die Angebotsseite dringend geeignete Lösungen entwickeln sollte.“
5. Teil: „Enttäuschung und Kritik“

Enttäuschung und Kritik

Nicht alle Experten sind allerdings vom disruptiven Potenzial der Blockchain-Technologie überzeugt. „Die Revolution findet nicht statt“, schreibt beispielsweise Dirk Pappelbaum auf dem Firmenblog der Inveda.net GmbH. Der Geschäftsführer des Software-Unternehmens, das hauptsächlich Lösungen für die Versicherungswirtschaft entwickelt, hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt: „Als wir versuchten, die Blockchain in die eigenen Geschäftsprozesse zu integrieren beziehungsweise diese damit sogar abzulösen, ist von den vollmundigen Ankündigungen und Verheißungen nichts übrig geblieben.“ Pappelmann macht sich unter anderem über die Flugausfall-Police Fizzy des französischen Versicherungskonzerns Axa lustig - die laut Axa erste auf Blockchain basierende Versicherung. „Warum hat man das nicht mit einer konventionellen Datenbank und einer konventionellen Webservice-Schnittstelle gelöst?“, fragt Pappelmann. „Wa­rum hat man mit Kanonen auf Spatzen geschossen?“ Das fragt sich mittlerweile wohl auch Axa. Die Blockchain-Police wurde nämlich Ende 2019 wieder abgeschafft.
Pappelmann ist nicht der Einzige, der den Hype um Blockchain kritisiert. Auch das Beratungsunternehmen McKinsey lässt in dem Artikel „Blockchain’s Occam Problem“ kaum
ein gutes Haar an der Technologie. „Trotz Investitionen in Milliardenhöhe und fast ebenso vielen Schlagzeilen sind die Beweise für einen praktischen, skalierbaren Einsatz von Blockchain dünn gesät“, schreiben die Autoren. In vielen Fällen sei Blockchain teurer und komplizierter als andere Lösungen und verletze daher „Occam’s Razor“. Die dem englischen Franziskanermönch William von Ockham zugeschriebene Regel besagt, dass von zwei Lösungen die einfachere die richtige ist. „Die Frage ist nicht, ob Blockchain-Technologie eine Alternative darstellt, sondern ob es diese Alternative überhaupt braucht“, heißt es in dem Beitrag.
Über den Nutzen von Blockchain in der öffentlichen Verwaltung gehen die Meinungen ebenfalls auseinander. CDU-Politiker Johannes Steiniger fordert in seinem Buchbeitrag den umfassenden Einsatz: „Jedes Ministerium sollte mindestens eine sinnvolle Blockchain-Anwendung in seinem Geschäftsbereich vorantreiben.“ Klaus Lenk, emeritierter Professor für Verwaltungswissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, dämpft dagegen die Erwartungen: „Es gibt durchaus Bereiche in der öffentlichen Verwaltung, wo eine verteilte Buchführung, wie sie eine Blockchain bietet, sinnvoll sein kann. Aber die Beispiele dafür sind gar nicht so zahlreich.“ Lenk hält nichts davon, funktionierende Strukturen wie die Grundbuchführung auf Biegen und Brechen durch Blockchain ersetzen zu wollen: „Man sollte nicht so tun, als müsste man hier Technologien einführen, die in Staaten durchaus sinnvoll sein können, wo es diese Strukturen nicht gibt.“ Für den Wissenschaftler ist Blockchain Teil einer Entwicklung, immer mehr Macht an Maschinen zu delegieren: „Die Freiheit des Menschen wird eingeschränkt, wenn Software-Strukturen - ganz nach dem Ausspruch von Lawrence Lessig ‚Code is Law‘, an die Stelle von Gesetzen treten.“

Fazit & Ausblick

Für die einen löst die Blockchain nahezu jedes Transaktionsproblem - vom weltweiten Geldtransfer über das Supply-Chain-Management bis zum Identitätsnachweis und zur digitalen Verwaltung. Die anderen halten sie für eine teure, komplizierte und nicht skalierende Technologie ohne echten Mehrwert. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich wie so oft in der Mitte. Distributed-Ledger-Technologien wie Blockchain haben das Potenzial, Prozesse zu revolutionieren und völlig neue Wege der Zusammenarbeit, Finanzwirtschaft und Kommunikation zu ermöglichen. Es ist daher sinnvoll und notwendig, dass Unternehmen und Behörden sich mit den Einsatzmöglichkeiten auseinandersetzen und praktische Erfahrungen sammeln. Dabei dürfen jedoch die Alternativen nicht aus dem Blick geraten, die in vielen Fällen einfachere, kostengünstigere und besser skalierbare Lösungen bieten.
Oft sind es allerdings gar nicht technische Aspekte, die für eine Blockchain-Implementierung sprechen, so etwa im Vorzeigeprojekt Palettenschein: „Der Palettentausch funktioniert auf technischer Ebene auch ohne Blockchain“, heißt es im Projektbericht, „doch die Distributed-Led­ger-Technologie (…) hilft auf politisch-organisatorischer Ebene (…) Vorbehalte abzubauen.“
6. Teil: „Im Gespräch mit Martha Bennert von Forrester Research“

Im Gespräch mit Martha Bennert von Forrester Research

  • Martha Bennert: Vice President und Principal Analyst bei Forrester Research
    Quelle:
    Forrester Research
Martha Bennett, Vice President und Principal Analyst bei Forrester Research, erklärt im Gespräch mit com! professional, warum immer noch so viele Blockchain-Mythen existieren und wo sich der Einsatz von Blockchain wirklich lohnt.
com! professional: Von der Neuordnung der Finanzmärkte über die Revolution der Supply Chain bis hin zur fälschungssicheren Identität - die Blockchain soll so ziemlich jedes Problem lösen, das mit Transaktionen und Vertrauen zu tun hat. Was halten Sie von solchen Versprechungen?
Martha Bennett: Keine Technologie kann alle Probleme lösen und auch Blockchain ist keine Wunderdroge. Ich vergleiche die aktuelle Situation bei Blockchain gerne mit der von Internet und Mobilfunk Mitte der 1990er-Jahre. Die Aufregung um diese Technologien war damals groß, aber keiner wusste so recht, welches Potenzial wirklich in ihnen steckt. Das Handy, so lächerlich uns sein Funktionsumfang im Vergleich zu einem heutigen Smartphone erscheint, hat uns vom Schreibtisch befreit. In so einem frühen Stadium befindet sich Blockchain heute.
com! professional: In Ihrem Report „Blockchain In 2020: A CIO’s Guide To The 10 Most Prevalent Myths“ gehen Sie auf die häufigsten Irrtümer ein, die im Bezug auf Blockchain bestehen. Was hat Sie bewogen, dieses Dokument zu verfassen?
Bennett: In vielen Unternehmen herrscht immer noch die Vorstellung, die Blockchain-Technologie hätte bestimmte vorgegebene Eigenschaften, die man sich quasi einkaufen könne. Das ist aber mitnichten so. Man muss diese Eigenschaften sorgfältigst planen und hineinprogrammieren. Es ist beispielsweise ein Irrglaube, dass Blockchain-Technologie per se sicher ist. Es ist sehr einfach, eine Blockchain zu übernehmen, die beispielsweise nur aus zwei Knoten besteht. Wenn ich jemandem richtig Angst einjagen will, dann zeige ich ihm, wie viel - oder besser - wie wenig Rechenleistung man dafür braucht.
com! professional: Ein Vorteil der Blockchain, der immer wieder genannt wird, ist die verteilte, dezentrale Struktur. Müssen denn Blockchains prinzipiell dezentralisiert sein?
Bennett: Nein, das ist nicht zwingend notwendig. Man experimentiert auch schon mit firmenübergreifenden Smart Contracts, bei denen die Datenbank nur von einem Unternehmen gehostet wird, einfach weil man gemerkt hat, dass die Verwaltung einer Blockchain doch recht kompliziert ist. Eine komplette Dezentralisierung gibt es im Übrigen ohnehin nicht - und sie ist auch gar nicht wünschenswert. Es gibt immer Fälle, wo eine Zentralpartei eingreifen muss, etwa bei technischen Störungen oder Sicherheitsproblemen. Ob sie es nur mit Zustimmung und unter Aufsicht des gesamten Ökosystems tun darf oder selbstständig entscheiden kann, ist eine Frage des vereinbarten Regelwerks.
com! professional: Nach Ansicht des Autors und Technikexperten George Gilder wird Blockchain die Internetwirtschaft komplett umkrempeln und Geschäftsmodelle wie das von Google „hinwegfegen“. Macht die Blockchain auch Vermittler wie Airbnb oder Uber überflüssig?
Bennett: Ich möchte die genannten Firmen nicht verteidigen. Wenn ein Mittelsmann keinen Mehrwert mehr liefert, wird er nicht mehr gebraucht. In vielen Fällen wird man aber feststellen, dass es doch nicht so einfach ohne Vermittler­instanz geht. Nehmen wir das Beispiel Uber. Wenn ich ein Fahrzeug über den Dienst nutze und das Auto ist schmutzig oder der Fahrer unfreundlich, kann ich mich bei Uber beschweren. Was mache ich in so einem Fall bei einem dezentralen System? Es gibt wunderbare Szenarien von „Self-owned Cars“, autonomen, selbstfahrenden Autos, die über Smart Contracts gebucht und abgerechnet werden. Aber wen rufe ich an, wenn das Fahrzeug schmutzig ist? Den Vormieter? Und wenn der mir erklärt, er hätte es bereits in diesem Zustand übernommen? Auch wenn das jetzt ein simples Beispiel ist, so zeigt es doch das Grundproblem: Diese Nutzungsszenarien setzen voraus, dass alles gut läuft und alle Beteiligten ehrlich sind. Was passiert aber, wenn sich ein Betrüger einschleicht oder sich Teilnehmer nicht an die Regeln halten?
com! professional: Das heißt, ein Smart Contract kann die Nutzung regeln, versagt aber bei den Begleitfaktoren?
Bennett: Und bei der Nutzung selbst kann der Smart Contract nur die Regeln berücksichtigen, die in ihn hineinprogrammiert wurden. Nehmen wir wieder das Beispiel „Self-owned Car“: Was geschieht, wenn der Smart Contract nicht mehr erfüllt werden kann, etwa weil mein Konto leer ist oder die Verbindung zum Transaktions-Server abbricht? Bleibt das Auto dann einfach stehen - mitten auf der Autobahn, einer Kreuzung oder in einem unsicheren Stadtteil? Wer kümmert sich, wenn der Smart Contract nicht korrekt abgewickelt werden konnte? Wer ist verantwortlich? Solche Fragen müssen auf jeden Fall vorab geklärt werden.
com! professional: Wo ist der Einsatz von Blockchain Ihrer Ansicht nach am sinnvollsten?
Bennett: Wenn in verteilten Systemen mit vielen Beteiligten das bereits vorhandene Vertrauen zwischen den Vertragsparteien gestärkt werden soll, hat Blockchain Vorteile.
com! professional: Aber heißt es nicht immer, Blockchain brauche kein Vertrauen?
Bennett: Das ist der Bitcoin-Mythos, der sich leider hartnäckig hält. Transaktionen zwischen wildfremden Menschen ohne jede zusätzliche Sicherheit mögen funktionieren, solange sie sich wie bei Bitcoin rein auf der Blockchain abspielen. Sobald aber Güter oder Dienstleistungen ins Spiel kommen, braucht man Struktu­ren - und unter Umständen Drittparteien, die sowohl die Integrität der Daten als auch der Güter sicherstellen. Die Transaktionsdaten auf der Blockchain beweisen ja letztlich nur, dass ein Paket von A nach B geliefert wurde. Das heißt noch lange nicht, dass es auch tatsächlich das enthält, was der Empfänger bezahlt hat.
com! professional: Welche Faktoren entscheiden über den Erfolg eines Blockchain-Projekts?
Bennett: Ich sage immer gerne: „Blockchains are a team sport.“ Das heißt, nur wenn alle an einem Ökosystem Beteiligten wirklich bereit sind, ihre Daten zu teilen, hat das Projekt Chancen auf Erfolg. Man sollte sich immer Gedanken darüber machen, wie alle Teilnehmer von der Blockchain profitieren können. Wenn etwa Rechnungsläufe in einer Supply Chain automatisiert sind, kann die Rechnungsstellung einer Lieferung automatisch bei Übergabe der Fracht ausgelöst werden. Für die Transportfirma ist das ein Riesenvorteil, sie muss keine Rechnungen schreiben und kann sich sicher sein, zum vereinbarten Zahlungsziel das Geld zu erhalten. Die Bereitschaft, bei einem solchen System mitzumachen, dürfte ausgesprochen groß sein. Ein zweiter wesentlicher Faktor ist die Qualität der Daten. Bei Blockchain heißt es nicht „Garbage in, Garbage out“, sondern „Garbage in, Garbage forever“.
com! professional: Wie bewerten Sie eigentlich die Blockchain-Strategien Deutschlands und Europas?
Bennett: Es ist auf jeden Fall sinnvoll, wenn sich staatliche Organisationen mit Zukunftstechnologien beschäftigen. Wenn man nicht weiß, wie etwas funktioniert, kann man sich kein eigenes Urteil über Sinn und Unsinn einer Technologie bilden. Ich halte es aber für unklug, sich zu sehr auf eine Technik wie Blockchain einzuschießen. Viel wichtiger wäre es, die vorhandenen Hürden auf dem Weg zur Digitalisierung zu beseitigen. Was nützt die schönste Blockchain-Initiative, wenn die Behörden digitale Dokumente nicht anerkennen und man alles auf Papier nachliefern muss?

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