Digitalisierung
12.06.2020
Corona und die digitale Transformation
1. Teil: „Wie ein Virus die Digitalisierung vorantreibt“

Wie ein Virus die Digitalisierung vorantreibt

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AK-Snapshot / shutterstock.com
Viele Unternehmen realisieren gerade jetzt in der Corona-Krise, dass digitalisierte Prozesse nicht allein zur Effizienzsteigerung beitragen. Sie sind überlebenswichtig.
Von einem Tag auf den anderen war sie da, die von Analysten schon längst beschworene Welt der verteilten virtuellen Teams. Um die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 zu verlangsamen und eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern, wurden nahezu weltweit drastische Ausgangsbeschränkungen erlassen. Schüler durften nicht zur Schule, Studenten nicht zur Uni und Arbeitnehmer nicht ins Büro. „Modern Work“ am „Digital Workplace“ wurde über Nacht vom Buzzword zum Alltag.
Auch in Deutschland änderte sich die Einstellung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zum Thema Homeoffice innerhalb kürzester Zeit grundlegend. Noch im vergangenen Jahr erklärten 84 Prozent der von der Initiative D21 für den „Digitalindex 2019/2020“ befragten Arbeitnehmer, sie könnten oder wollten nicht aus dem Homeoffice arbeiten. Im März 2020 lehnten bei einer Befragung durch den Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) dagegen nur noch 10 Prozent der teilnehmenden Angestellten Heimarbeitsplätze kategorisch ab.
Dem Marktforschungsunternehmen Forrester Research zufolge funktionierte die Transformation zum Heimarbeiter bei den meisten besser als erwartet. „Die Arbeitnehmer sind wesentlich flexibler, als viele Arbeitgeber das vielleicht gedacht haben“, berichtet Pascal Matzke, Vice President & Research Director bei Forrester Research. Nur 21 Prozent der von seinem Team für den „European PandemicEX Survey“ befragten deutschen Arbeitnehmer beklagten eine geringere Produktivität im Homeoffice, und nur ein Drittel wollte so schnell wie möglich wieder zurück ins Büro.
„Im Europavergleich kommen die Deutschen überdurchschnittlich gut mit dem Homeoffice zurecht“, erklärt Matzke. „Europaweit ist nämlich fast ein Drittel der Befragten mit seiner Produktivität im Homeoffice unzufrieden, und fast die Hälfte will so schnell wie möglich wieder zurück an den Firmenarbeitsplatz.“ Auch das Zusammenspiel von Privatleben und Job klappte in Deutschland überdurchschnittlich gut. „Nur 13 Prozent sahen in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Problem“, rechnet Pascal Matzke vor, „im Europadurchschnitt waren es rund 30 Prozent.“
Die deutschen Arbeitgeber kommen laut Forrester allerdings mit dem Modern Workplace weniger gut zurecht als ihre Angestellten. „Unternehmen tun sich schwer, ihre Mitarbeiter im Homeoffice adäquat zu unterstützen“, weiß der Research Director. Nur 42 Prozent der Befragten gaben an, ihr Unternehmen verfüge über die notwendigen technischen Ressourcen, um Homeoffice zu ermöglichen, und lediglich 37 Prozent gewährten ihren Angestellten am Heimarbeitsplatz genügend Flexibilität für die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Familienmitgliedern. Europaweit waren es mehr als die Hälfte.
Arbeit sei hierzulande außerdem immer noch sehr stark mit physischer Präsenz verbunden, so der Forrester-Analyst weiter. „Viele Arbeitgeber möchten ihre Mitarbeiter gerne von
9 bis 17 Uhr im Büro haben.“ Der Industriestandort Deutschland ist laut Matzke zudem sehr viel stärker vom produzierenden Gewerbe geprägt als etwa Großbritannien oder Italien. „In den Fabriken lassen sich die meisten Arbeiten nicht ohne die Anwesenheit der Mitarbeiter erledigen.“
Matzke ist überzeugt davon, dass die positiven Erfahrungen mit dem Digital Workplace langfristig nachwirken werden: „Ein Zurück zur alten Arbeitswelt kann ich mir schwer vorstellen.“ Deutschland werde zwar nicht zu einer Nation der Homeoffice-Arbeiter, mehr Flexibilität sei aber für beide Seiten von Vorteil. „Auch die Unternehmen müssen die Chancen erkennen, die weniger starre, adaptive Arbeitsprozesse mit sich bringen.“ Dazu sei vor allem ein kultureller Wandel notwendig. „Technologie ist nicht das Problem“, betont Matzke, „es geht vielmehr darum, Kontrolle abzugeben, das Silodenken der Fachbereiche aufzubrechen und neue Kommunikationswege zu etablieren.“
2. Teil: „Die Stunde der Apps“

Die Stunde der Apps

  • Selbsterkenntnis: Die Mehrheit der deutschen Händler sieht in puncto Digitalisierung für sich einen Nachholbedarf.
    Quelle:
    Bitklom Research (n = 504 Händler)
Die von der Pandemie bewirkten Veränderungen lassen sich sehr anschaulich auch an folgendem Effekt ablesen: Mit den Kontaktverboten und Reisebeschränkungen verlagerten sich Geschäftsaktivitäten mehr und mehr auf mobile Endgeräte und Cloud-Applikationen. Das Unternehmen App Annie, das sich auf die Nutzungsanalyse von Apps spezialisiert hat, vermeldete allein vom 14. bis 21. März 2020 rund 62 Millionen Downloads von Business-Apps im iOS-App-Store und bei Google Play - und damit fast doppelt so viele wie in einer durchschnittlichen Woche des Vorjahres. Besonders großer Nachfrage erfreuten sich Videokonferenzlösungen und Collaboration-Apps wie Zoom und Microsoft Teams.
Laut App Annie wurde die Videokonferenz-App Zoom Cloud Meetings in der dritten Märzwoche 2020 in Deutschland 17-mal häufiger heruntergeladen als in einer durchschnittlichen Woche des vierten Vorjahresquartals.
In den europäischen Nachbarländern war sogar eine noch drastischere Zunahme zu beobachten. In Großbritannien beispielsweise stiegen die Download-Zahlen um den Faktor 20, in Frankreich wurde die Zoom-App 22-mal häufiger heruntergeladen, in Spanien 27-mal und in dem von Corona besonders hart getroffenen Italien sogar 55-mal.
Microsoft Teams verzeichnete ebenfalls beeindruckende Zuwächse. Dem Firmenblog zufolge stieg die Zahl der täglich aktiven Nutzer von 20 Millionen im November 2019 auf
44 Millionen im März 2020. In Italien verzeichnete das Unternehmen fast 800 Prozent mehr Nutzer pro Monat, insgesamt kamen zu Spitzenzeiten über 900 Millionen Anrufe und Meetings pro Tag zusammen.
Der enorme Zuspruch führte allerdings auch zu technischen und organisatorischen Problemen. Zoom musste sich herbe Kritik an seinen Datenschutz- und Sicherheitseinstellungen gefallen lassen. Dem Unternehmen wurde unter anderem vorgeworfen, detaillierte Nutzungsinformationen und personenbezogene Daten an Facebook, Werbenetzwerke und Tracker weiterzugeben.
Sicherheitsmängel in den Clients, eine schwache Verschlüsselung und die Umleitung von Meeting-Daten über chinesische Server ließen zudem Zweifel an der Vertraulichkeit der übermittelten Daten aufkommen. Darüber hinaus konnte sich jeder in eine Konferenz einklinken, der die Meeting-ID kannte oder erriet. Hacker und Trolle nutzten diese Schwachstelle für das sogenannte Zoombombing und sprengten Meetings durch obszöne, pornografische oder rassistische Beiträge.
Zahlreiche Unternehmen und Institutionen, darunter Google, die Elon-Musk-Firma SpaceX und das Auswärtige Amt verboten daraufhin Anfang April 2020 die Verwendung von Zoom für berufliche Zwecke. Der Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit erwähnte Anfang April 2020 in seinen Empfehlungen für die Durchführung von Videokonferenzen Zoom ausdrücklich als eine zwar technisch ausgereifte, aber nicht den Datenschutzbestimmungen entsprechende Lösung.
Der Hersteller Zoom Video Communications bemühte sich allerdings schnell um Schadensbegrenzung und verbesserte Sicherheit und Datenschutz. Dennoch: Stephan Hansen-Oest, IT-Fachanwalt und Geschäftsführer der Datenschutz-Guru GmbH, hält die Zoom-Nutzung bei Webinaren oder E-Learning für unproblematisch, empfiehlt aber, bei der Übermittlung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen per Zoom-Meeting Vorsicht walten zu lassen.
Die Konkurrenz von Microsoft Teams hatte dagegen vor allem mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Dienst fiel mehrfach aus, Nutzer klagten wiederholt über diverse Probleme. So wurden Nachrichten verzögert oder gar nicht zugestellt, Login-Versuche schlugen fehl, es kam zu Ausfällen und Qualitätseinbußen bei der Video- und Audioübertragung. Um dem Ansturm Herr zu werden, schränkte Microsoft außerdem andere Funktionen in Office 365 zeitweise ein. So war etwa der Zugriff aus Teams auf OneNote vorübergehend nur lesend möglich, die Auflösung von Videoübertragungen und -aufzeichnungen reduziert und die Frequenz von Präsenzabfragen und Datensynchronisierung verringert.
3. Teil: „Läden vor dem Aus?“

Läden vor dem Aus?

  • Dauerhafter Wandel: Die große Mehrheit der Verbraucher, die wegen Corona mehr im Internet bestellen, will das nach Ende der Pandemie beibehalten.
    Quelle:
    Kantar/Detail online (n = alle, die derzeit online einkaufen, in Deutschland 870), rundungsbedingt nicht 100 Prozent
Besonders drastisch hat die Corona-Krise im Handel den Druck erhöht, sich digital zu transformieren. Den meisten Geschäften fällt der Schritt ins Digitalzeitalter allerdings schwer. Einer Studie von Bitkom Research zufolge bezeichnen sich mehr als 70 Prozent der deutschen Handelsunternehmen beim Thema Digitalisierung als Nachzügler, für 65 Prozent stellt sie eine große Herausforderung dar. Vor allem der Fachkräftemangel macht den meisten Händlern bei ihrer Digitalisierung zu schaffen. 71 Prozent der Befragten sehen ein Problem darin, Mitarbeiter mit Digitalkompetenz zu finden.
An sich haben die meisten die Chancen der Digitalisierung durchaus erkannt. Zwei Drittel verkaufen bereits offline und online, allerdings erwirtschaften nur 8 Prozent mit ihrem Online-Geschäft mehr Umsatz als im stationären Handel. Ein Viertel der Umfrageteilnehmer macht noch gar keine Online-Umsätze. Gerade sie traf die wochenlange Schließung nahezu aller Ladengeschäfte außerhalb des Lebensmittelbereichs besonders hart.
Vor allem kleine stationäre Einzelhändler kämpften aber auch schon vor der Krise ums Überleben. Nach Berechnungen des Instituts für Handelsforschung IFH Köln werden je nach Szenario bis 2030 zwischen 26.000 und 64.000 Einzelhändler aufgeben. Die Corona-Krise wird das Sterben nach Ansicht von Gerrit Heinemann, Professor für Betriebswirtschaft, Managementlehre und Handel sowie Leiter des eWeb Research Centers an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, noch beschleunigen: „Einen großen Teil der lokalen Händler wird es nicht mehr geben“, sagte der Wissenschaftler im 3sat-Wirtschaftsmagazin „makro“ voraus.
Für den Online-Handel scheint die Krise auf den ersten Blick dagegen ein Geschenk zu sein. Der Anteil der Verbraucher, die 50 Prozent oder mehr ihrer Einkäufe online erledigen, sei deutlich gestiegen, meldet das Marktforschungsinstitut Kantar mit Bezug auf eine im Auftrag von Detail Online durchgeführte Umfrage, für die Ende März 2020 Verbraucher in Großbritannien, Deutschland und Frankreich befragt wurden. Fast 90 Prozent der deutschen Umfrageteilnehmer hielten es dabei für wahrscheinlich, dass sie auch nach der Krise im gleichen Umfang online einkaufen werden.
Doch den meisten Online-Händlern nützt dieser E-Com­merce-Boom wenig. Nur 9 Prozent der vom Online-Handelsverband Händlerbund im März 2020 befragten Unternehmen vermeldeten einen positiven Effekt der Corona-Krise auf ihr Geschäft. Bei einer zweiten Umfrage im April waren es immerhin 27 Prozent. Mehr als die Hälfte musste dagegen Umsatzeinbußen hinnehmen. „Die Wahrheit ist, dass eine Seite sehr stark von der Coronakrise profitiert und die andere Seite sehr stark darunter leidet“, erklärt Tim Arlt, COO beim Händlerbund. „Kleinere Händler können aufgrund ihrer Strukturen, aufgrund von Lieferengpässen, Personalmangel und geringeren Investitions-Budgets nicht so optimal und agil auf die Krise reagieren wie die Großen.“
Zu den Profiteuren gehören denn auch vor allem die Großen, allen voran Amazon. Für den Marktführer bedeutete Corona starke Umsatzzuwächse und satte Gewinne. Während Milliardäre wie Microsoft-Gründer Bill Gates, Bernard Arnault, Chef von Luxusmarken wie Louis Vitton und Dior, oder der Großinvestor Warren Buffet dem „Bloomberg Billionaires Index“ zufolge in der Krise viele Milliarden verloren, stieg das Vermögen des Amazon-Gründers Jeff Bezos seit Jahresbeginn um rund 24 Milliarden auf 138 Milliarden Dollar (Stand Mitte April 2020). Das Unternehmen stellte allein in den USA 100.000 zusätzliche Mitarbeiter ein und verdiente nach Berechnungen der britischen Zeitung „The Guardian“ im ersten Quartal 2020 rund 10.000 Dollar pro Sekunde.
Auch in Deutschland spielt Corona dem Weltmarktführer in die Hände. Nach Ansicht von Vera Demary, Leiterin des Kompetenzfelds Digitalisierung, Strukturwandel und Wettbewerb beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), sind es vor allem die Bekanntheit des Online-Händlers, die Breite des Sortiments und das Vertrauen in die Liefersicherheit, die Amazon in der Corona-Krise zusätzlich Umsatz bescheren. „Amazon hat bereits erhebliche Marktmacht“, schreibt
Demary in einem IW-Kurzbericht. „Sollte sich diese im Zuge der Corona-Krise ausbauen, gilt es umso mehr, die konsequente Anwendung des bestehenden Wettbewerbsrechts im Auge zu behalten, damit ein fairer Wettbewerb mit kleineren Online-Händlern gewährleistet ist.“
Um im hart umkämpften E-Commerce-Markt neben Amazon bestehen zu können, sind laut Händlerbund-COO Tim Arlt Flexibilität und Innovationskraft von entscheidender Bedeutung: „Wer kann, sollte jetzt die Chance nutzen, Prozesse anpassen, Sortimente überdenken und selbstverständlich weiterhin die Automatisierung und Digitalisierung der Prozesse vorantreiben.“ Warenwirtschaftssysteme, die automatisierte Abholung von Paketen, aber auch ein professionelles Kundenmanagement seien wesentliche Bestandteile dieser Transformation. „Es gilt, im Online-Handel die Vorteile zu bieten, die der stationäre Handel nicht leisten kann, und darüber hinaus persönliche Beratung und individuelle Angebote bereitzustellen“, fordert Arlt. „Wer in der Krise nachhaltige Lösungen findet, der kann langfristig von den aktuellen Entwicklungen profitieren.“
4. Teil: „Effektivität statt Effizienz“

Effektivität statt Effizienz

In der Unternehmens-IT kämpfen die Verantwortlichen derzeit an zwei Fronten: Auf der einen Seite müssen sie trotz teils drastischer Budgetkürzungen den laufenden Betrieb aufrechterhalten, auf der anderen Seite gilt es, sich für die Zeit nach der Krise bestmöglich aufzustellen. „CIOs begreifen, dass sie in ein adaptives Prozesswesen investieren müssen, um mit Disruptionen künftig besser klarzukommen“, berichtet Forrester-Research-Director Matzke. Und die werden kommen, da ist sich der Analyst sicher: „Gestern war es der Brexit, heute ist es Covid-19 und morgen ist es irgendetwas anderes“, so Matzke. „Die Veränderung ist die einzige Konstante, die es gibt.“
Die bisherigen Transformationsansätze, die vor allem auf mehr Effizienz abzielen, greifen laut Pascal Matzke zu kurz: „Wir müssen weg von den Silostrukturen und Prozessmodellen mit ihren linearen Transaktionen hin zu einer Welt der Interaktion von Kunden, Mitarbeitern und Innovationspartnern“, unterstreicht der Analyst.
Grundsätzlich sei die Bereitschaft größer geworden, herkömmliche Effizienzmessungen mit klassischen KPIs durch eine gesamtheitliche Betrachtung der Kundenbeziehungen und der Resilienz der Wertschöpfung zu ersetzen: „Es geht in Zukunft mehr um Effektivität als um Effizienz.“ Predictive Analytics und BI werden zudem künftig eine noch größere Rolle spielen als bisher, ist sich der Forrester-Analyst sicher: „Wenn diese Krise eines gezeigt hat, dann wie wichtig gute Vorhersagemodelle und Business Insights sind.“
Carlo Velten, Mitgründer und CEO des Digital-Service-Providers Cloudflight.io, rät CEOs dringend, sich trotz einbrechender Umsätze nicht kaputtzusparen: „Auch wenn Budgetkürzungen unumgänglich sein werden, darf der Digitalisierungsmotor keinesfalls ins Stottern geraten.“
Auf dessen baldiges Wiederanspringen setzen auch der Verband der Internetwirtschaft eco und das Beratungsunternehmen Arthur D. Little. In ihrer Studie „Internetwirtschaft 2020-2025“ prognostizieren sie für die Branche nach einem Rückgang von 1,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ein durchschnittliches Wachstum bis 2025 von 9,5 Prozent. „Wir erleben aktuell, wie die Corona-Krise trotz partieller Einbrüche in einzelnen Branchensegmenten insgesamt zu einem Digitalisierungsschub in vielen Bereichen der Internetwirtschaft führt“, erklärt Oliver Süme, der Vorstandsvorsitzende des Verbands der Internetwirtschaft eco.

Fazit & Ausblick

Maximal auf Effizienz getrimmte Wirtschaftssysteme und ein globales Sourcing, das sich am billigsten Preis orientiert, mögen in normalen Zeiten für hohe Gewinne und Wettbewerbsvorteile sorgen. In einer Krise wie der aktuellen offenbart sich jedoch ihre eklatante Schwäche. Je schlanker die Prozesse und je geringer der Eigenanteil an der Wertschöpfung, desto schneller brechen Produktion und Handel unter Druck zusammen. Um gegen zukünftige Katastrophen besser gewappnet zu sein, müssen Unternehmen daher agiler und resistenter werden.
Dezentrale, eigenverantwortliche Organisationseinheiten, die schnell auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren können, und eine größere Unabhängigkeit von internationalen Warenströmen können dazu genauso einen Beitrag leisten, wie Automatisierung, Künstliche Intelligenz und verteilte Cloud-Strukturen. Der Wert der digitalen Transformation darf zukünftig nicht mehr vornehmlich an ihrem Beitrag zur Effizienzsteigerung gemessen werden. Viel wichtiger ist die Frage, ob und wie Digitalisierung dazu beitragen kann, schneller aus dieser und besser aus der nächsten Krise zu kommen.
Überleben in der Krise - acht Tipps für CIOs
Das Marktforschungsunternehmen Gartner empfiehlt CIOs folgende acht Maßnahmen, um ein finanzielles Überleben ihres Unternehmens in der Krise zu sichern:
1. Nicht unbedingt notwendige Ausgaben sofort auf Eis legen
CIOs sollten feststellen, welche Anteile ihrer laufenden Ausgaben zurückgestellt, gestrichen oder reduziert werden können. Die Aufmerksamkeit sollte sich auf nicht essenzielle, variable Aufwände konzentrieren, die noch nicht entstanden oder bereits beauftragt wurden.
2. Steigende Kosten einkalkulieren
Die Verlagerung der Arbeit ins Homeoffice kann zu erhöhten Ausgaben führen, etwa für die Beschaffung von Laptops, Monitoren und mobilen Endgeräten, sowie zu steigenden Software-, VPN- und Kommunikationskosten.
3. Kostenstrukturen bereinigen
CIOs sollten in Zusammenarbeit mit den Fachbereichen alle Lieferanten, Dienstleister und Zahlungsverpflichtungen auf den Prüfstand stellen und in drei Gruppen einteilen: Aufträge, auf die ohne nennenswerten Einfluss für das Kerngeschäft verzichtet werden kann, sollten sofort gekündigt beziehungsweise ausgesetzt werden. Zur zweiten Gruppe gehören Kosten, bei deren Reduktion es zu Leistungseinbußen kommen könnte. Hier müssen spezifische Maßnahmen zur Ausgabenreduktion und Risikominimierung entwickelt werden. Die dritte Gruppe umfasst schließlich Aufwände für geschäftskritische Leistungen. Lieferanten und Dienstleister, die in diese Kategorie fallen, sollten auf ihre Überlebensfähigkeit überprüft werden. Gegebenenfalls sind Notfallmaßnahmen erforderlich, um risikobehaftete Partner zu stützen.
4. Nicht geschäftskritische Projekte stoppen
Alle Projekte, die nicht unmittelbar für den aktuellen Cash-Flow und das langfristige Überleben des Unternehmens relevant sind, sollten gestoppt werden. Bei geschäftskritischen Projekten ist zu überprüfen, ob diese teilweise reduziert und kostengünstiger weitergeführt werden können.
5. Alle neuen Ausgaben verschieben
CIOs sollten geplante, aber noch nicht begonnene Projekte verschieben und alle für zukünftige Personal-, Infrastruktur- oder Upgrade-Maßnahmen vorgesehenen Drittmittel freigeben.
6. Das Service-Level senken
Kosten für Cloud- oder Kommunikationsdienste lassen sich reduzieren, indem die Nutzung eingeschränkt wird oder die Vertragsbedingungen neu verhandelt werden.
7. Den Verbrauch reduzieren
CIOs sollten mit den Fachbereichsleitern über veränderte Arbeitsabläufe verhandeln, die die IT-Ressourcen effizienter nutzen oder bestimmte Dienste ganz überflüssig machen.
8. Finanzhilfen nutzen
Bund und Länder bieten zahlreiche Unterstützungsprogramme, um der Wirtschaft durch die Krise zu helfen. Der CIO sollte gemeinsam mit dem CFO diese Programme evaluieren und alternative Finanzierungsmöglichkeiten ausloten.
5. Teil: „Im Gespräch mit Dr. Tilman Santarlus von der TU Berlin“

Im Gespräch mit Dr. Tilman Santarlus von der TU Berlin

  • Dr. Tilman Santarlus: Professor für Sozial-Ökonomische Transformation und Nachhaltige Digitalisierung an der TU Berlin und am Einstein Center Digital Futures
    Quelle:
    ECDF/PR - Felix Noak
Wer profitiert eigentlich von der Corona-Krise, und wie lassen sich die positiven Umwelteffekte von Homeoffice und Homeschooling in die Nach-Corona-Zeit retten? Tilman Santarius, Professor für Sozial-Ökologische Transformation und Nachhaltige Digitalisierung an der TU Berlin und am Einstein Center Digital Futures, gibt Antworten.
com! professional: Herr Professor Santarius, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit der digitalen Transformation und deren sozial-ökologischen Folgen. Wie bewerten Sie den Einfluss der Corona-Krise auf die Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft?
Tilman Santarius: Die Digitalisierung hat durch die Pandemie und die darauf folgenden Ausgangsbeschränkungen enorm an Fahrt gewonnen. Damit meine ich gar nicht mal so sehr die Investitionen in IT-Forschung und -Entwicklung, sondern vielmehr ganz konkret die Nutzung der vorhandenen Soft- und Hardware am Arbeitsplatz und im privaten Umfeld. Videokonferenzen, soziale Medien, digitale Lern- und Unterhaltungsplattformen erleben gerade einen enormen Nachfrageschub.
com! professional: Manche sprechen sogar schon von einer Zwangsdigitalisierung. Werden wir durch die Pandemie quasi zum „digitalen Glück“ gezwungen?
Santarius: Einen direkten Zwang wie in China oder Südkorea, etwa sich per App überwachen zu lassen, gibt es hierzulande ja nicht. Aber es ist natürlich ein gewisser Druck da, digitale Tools zu nutzen, um Kommunikation und Produktivität im Homeoffice sicherstellen zu können.
Auf die Schulsituation übertragen gilt: Wer jetzt als Schülerin oder Schüler schlechten oder gar keinen Zugang zu digitalen Medien hat, der hat wirklich das Nachsehen. Insofern kann man von einem indirekten Zwang reden. Ich würde das aber nicht notwendigerweise negativ bewerten.
com! professional: Gerade beim Homeschooling wird die Spaltung der Gesellschaft überdeutlich. Auf der einen Seite die reiche Mittel- und Oberschicht, in der jedes Kind sein eigenes Smartphone und seinen eigenen Laptop hat, auf der anderen arme Familien und Alleinerziehende, die sich die digitale Vollausstattung nicht leisten können. Wie kann man hier gegensteuern?
Santarius: Das ist eine Frage von Umverteilung und Gerechtigkeit. Wir müssen den Familien und Kindern unter die Arme greifen, die sonst abgehängt werden. Es wurde ja ohnehin im Digitalpakt beschlossen, fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung der Schulen auszugeben. Wir sollten einen Teil dieses Geldes nutzen, um die Familien mit Hard- und Software auszustatten, die keinen oder einen nicht ausreichenden Zugang zu digitalen Lernformen haben.
com! professional: Die Idee hinter dem Digitalpakt war aber doch eine andere. Sollten für das Geld nicht eigentlich die Schulen mit moderner Technik ausgestattet werden?
Santarius: Das habe ich schon vor Ausbruch der Corona-Krise kritisiert. Natürlich braucht jede Schule einen guten Breitbandanschluss und eine ordentliche WLAN-Abdeckung. Aber es muss nicht jeder Klassenraum mit 30 Tablets ausgestattet werden, wenn die Schülerinnen und Schüler sowieso zu Hause Smartphone und Notebook haben.
Viel besser wäre es nach der Regel „One Person, One Device“ darauf zu achten, dass alle Zugang zu den digitalen Lernmitteln erhalten. Dann muss die Digitalisierung der Schule selbst gar nicht so stark vorangetrieben werden.
com! professional: Die Schulen zeigten bisher ohnehin wenig Interesse am Digitalpakt. Von den fünf Milliarden ist nach Angaben des Branchenverbands Bitkom ein Jahr nach Verabschiedung nur ein Bruchteil abgerufen worden. Warum sind die Bildungseinrichtungen so zögerlich?
Santarius: Viele Schulen waren und sind skeptisch, Hardware für jedes Klassenzimmer anzuschaffen, womöglich begleitet von mehrjährigen Verträgen mit den großen Digitalkonzernen. Es gab viele Diskussionen um Abhängigkeiten und Datenschutz. Diese Diskussionen bräuchten wir nicht, wenn Haushalte dabei unterstützt würden, sich privat eine bessere IT-Ausstattung anzuschaffen. Dann können die Kinder dieses Equipment mit in die Klasse bringen beziehungsweise für das Homeschooling verwenden.
com! professional: Die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig fordert in einem Interview mit dem „Spiegel“, Datenschutzregeln zu lockern. Was halten Sie von solchen Forderungen?
Santarius: Ich finde die Diskussion bedauerlich. Natürlich kann der Einsatz von Apps helfen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Aber dazu ist keine Einschränkung des Datenschutzes vonnöten. Es gibt Apps, die dezentral funktionieren und höchsten Datenschutzstandards genügen. Forscher und Geheimdienste könnten dann zwar nicht auf die personalisierten Daten der Nutzer zugreifen, aber für die Eindämmung der Krise hätte es praktisch denselben Effekt. Zum Glück scheint die Bundesregierung endlich diesen Pfad einzuschlagen.
com! professional: Für Umwelt und Klima haben die Ausgangsbeschränkungen durchaus positive Effekte. Der Pendelverkehr ist massiv zurückgegangen, besonders umweltschädliche Freizeitaktivitäten wie Flugreisen und Kreuzfahrten sind nahezu völlig zum Erliegen gekommen. Glauben Sie, dass dies eine nachhaltige Entwicklung ist, oder befürchten Sie, dass Umweltbelastung und CO2-Ausstoß nach der Krise durch den Rebound-Effekt eher noch zunehmen werden?
Santarius: Natürlich werden die Straßen in den Städten nicht so leergefegt bleiben. Nach dem Lockdown müssen die Menschen wieder zur Arbeit, in ländlichen Gebieten werden sie leider auf absehbare Zeit noch auf das Auto angewiesen sein. Ich glaube aber auch, dass in vielen Sektoren, die Homeoffice vor Corona sehr kritisch gegenüberstanden, ein Umdenken eingesetzt hat. Man hat gesehen, dass Telearbeit durchaus mit Jobbeschreibungen vereinbar ist, wo man das bislang für unmöglich gehalten hat. Viele Arbeitnehmer haben durch die positiven Erfahrungen jetzt auch mehr Interesse am Homeoffice - vielleicht nicht gerade fünf Tage die Woche, aber womöglich ein oder zwei Tage. Daher glaube ich, dass ein Teil dieser Vorteile erhalten bleibt. Wenn man die positiven Umweltwirkungen hiervon allerdings verstetigen will, sind flankierende Maßnahmen notwendig. Sonst kommt es tatsächlich zu den klassischen Rebound-Effekten - die Menschen haben beispielsweise mehr Geld übrig, weil sie weniger häufig zur Arbeit fahren müssen, und investieren das dann in Kurztrips ins Wochenende, weil die Flugreisen nach der Krise vielleicht schön billig sind.
com! professional: Die Digitalbranche selbst ist an der Klima­erwärmung auch nicht ganz unschuldig. Einer französischen Studie zufolge steigt der energetische Fußabdruck der Digitalindustrie jedes Jahr um 9 Prozent, ihr Anteil an der globalen Produktion von Treibhausgasen ist seit 2013 um rund 50 Prozent gestiegen. Tauschen wir also einfach nur einen Klimakiller gegen den anderen aus?
Santarius: Die Digitalbranche muss natürlich in Richtung erneuerbare Energien umsteuern und sich auch viel stärker fragen, wie der Verbrauch von Energie - egal ob fossil oder erneuerbar - verringert werden kann. Vor diesem Hintergrund finde ich es erfreulich, dass Netflix, Facebook und Youtube angekündigt haben, die voreingestellte Streaming-Qualität herunterzusetzen. Diese Maßnahme hatte ich schon lange vor der Krise gefordert. Große Digitalkonzerne wie Google setzen darüber hinaus vermehrt auf erneuerbare Energien, andere wie etwa Amazon, aber auch die vielen mittelgroßen Anbieter tun hier noch viel zu wenig. Die Mehrverbräuche durch die gestiegene Nutzung in der Corona-Krise sind aber auf jeden Fall um ein Vielfaches niedriger als die Reduktion durch das geringere Verkehrsaufkommen. Wir sparen also auf jeden Fall drastisch CO2 ein. Arbeiten im Homeoffice ist wesentlich umweltfreundlicher als Pendeln.
com! professional: Aktuell profitieren vor allem die großen amerikanischen Konzerne vom Digitalisierungsschub. Wie kann man hier gegensteuern?
Santarius: Alternative Modelle sind durchaus vorhanden. Kommunen wie Pfaffenhausen haben schon vor der Krise lokale Online-Marktplätze gegründet, um den Einzelhandel vor Ort mit
Lieferdiensten zu kombinieren und so eine Alternative zu Amazon zu schaffen. Mehr solcher Initiativen wären in der Krise sehr wünschenswert gewesen. Auch bei den Videokonferenzdiensten gibt es Open-Source-Alternativen zu den großen amerikanischen Anbietern.
com! professional: Was tut die Politik, um unsere Abhängigkeit von amerikanischen Digitalkonzernen zu reduzieren?
Santarius: Ich sehe nicht, dass die Politik diese Entwicklung aktiv gestaltet. Es stellt sich die Frage, wie Digitalisierung nicht nur ökologisch nachhaltig, sondern auch sozial ausgewogen entwickelt werden kann, damit die Monopolisierungstendenzen nicht noch verstärkt werden.
Ich würde mir wünschen, dass die Politik hier deutliche Signale setzt - gerade jetzt in der aktuellen Corona-Krise.

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