Business-IT
17.09.2018
Insurtech
1. Teil: „Versicherungs-Start-ups mischen die Branche auf“

Versicherungs-Start-ups mischen die Branche auf

Berechnungen für VersicherungBerechnungen für VersicherungBerechnungen für Versicherung
stevepb / pixabay
Die digitale Transformation hat nach den Banken auch die Versicherungsbranche fest im Griff. Mit ihren innovativen Produkten setzen Insurtechs etablierte Versicherer unter Druck.
Die Digitalisierung erreicht die Versicherungsbranche: Es sind beeindruckende Zahlen, die man in den vergan­genen Monaten lesen konnte. Im April konnte das Frankfurter Versicherungs-Start-up Clark im Rahmen einer Finanzierungsrunde 29 Millionen Dollar einsammeln. Nur zwei Wochen später vermeldete das Berliner Unternehmen Simple­surance ein Funding von 20 Millionen Euro. Und Anfang Juni sammelte das Berliner Versicherungs-Start-up Coya fast 30 Millionen Dollar bei Investoren ein. Alle drei sind sogenannte Insurtechs, also technologiegetriebene, schnell wachsende Versicherungs-Start-ups.
Die Versicherungsbranche befindet sich im Umbruch, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Sie folgt dabei mit einigem zeitlichen Verzug der Bankenbranche, die seit einigen Jahren von sogenannten Fintechs aufgemischt wird.

Digitale Versicherungsordner

Diese jungen Fintech-Unternehmen haben sich vorgenommen, altbewährte Finanzdienstleistungen mittels moderner Technologie neu zu erfinden. Eines der ältesten und erfolgreichsten von ihnen ist der bekannte Bezahldienst Paypal, der an der Börse höher bewertet wird als sämtliche börsennotierten Banken Deutschlands zusammen. Aber auch andere Fintechs wie die Smartphone-Banken N26 oder Revolut konnten bereits Millionen Kunden von sich überzeugen.

Ist den Insurtechs in der Versicherungsbranche Ähnliches zuzutrauen?

Die noch junge Szene hat jedenfalls schon eine kleine Achterbahnfahrt der Gefühle hinter sich. In den Jahren 2015 und 2016 kamen mit Clark, Knip und Getsafe erste Start-ups mit digitalen Versicherungsordnern auf den deutschen Markt. Sie wollten ihren Kunden den Überblick über ihre Versicherungen erleichtern. In deren Apps bedurfte es nur weniger Angaben und Klicks, und die Policen wurden übersichtlich angezeigt. Hinzu kam das Versprechen, Vorschläge für günstigere Anbieter zu unterbreiten. Faktisch waren diese Start-ups damit Versicherungsmakler.
  • DACH-Region: Insurtechs konnten bei ihren größten Finanzierungsrunden zweistellige Millionenbeträge einsammeln – zum Teil mehrmals.
    Quelle:
    Barkow Consulting/eigene Recherche
Das führte öfters zu Irritationen, denn mit der Dateneingabe in der App erteilten Nutzer – oft unbewusst – ein Maklermandat an das entsprechende Start-up. Die Kundenbeziehung zu manchem langjährigen klassischen Versicherungsvertreter wurde damit jäh beendet. Das brachte den Insurtechs eine Menge Gegenwind von Maklerverbänden, Verbraucherschützern und Versicherungskonzernen ein. Wobei die Motive durchaus unterschiedlich waren: Für die Makler ging es um ihre Bestandsprovisionen, die mit dem Maklermandat an Unternehmen wie Clark übergingen. Verbraucherschützer äußerten dagegen Zweifel an der Seriosität der Start-ups und der Qualität der Beratung. Und die Versicherungen wollten ihre langjährigen Geschäftspartner schützen. Zudem waren sie unsicher, ob sie überhaupt Kundendaten an die neuen Anbieter übermitteln durften.
Die Auseinandersetzungen mit den jungen Wilden gipfelten Anfang 2016 schließlich in einem öffentlichen Brandbrief, in dem die Deutsche Vermögensberatung die Start-ups angriff. Nahezu zeitgleich kündigte die Ideal-Versicherung die Zusammenarbeit mit den Insurtechs auf.
Tatsächlich taten sich die ersten Insurtechs recht schwer, eine größere Anzahl an Kunden für ihre Dienste zu begeistern. Einigen Anbietern der ersten Stunde ging daher recht schnell die Luft aus.
Das schweizerische Start-up Knip konnte sich beispielsweise nach anhaltenden Verlusten gerade noch rechtzeitig aufkaufen lassen. Dennoch sieht die Zukunft für die junge Szene heute mehr als rosig aus. Ein Grund dafür ist, dass einige Anbieter den Schulterschluss mit Direktbanken gesucht haben. So bietet zum Beispiel Clark mittlerweile den Kunden der Online-Bank DKB seine Dienste an. Die Insurtechs bekommen durch die Kooperationen Zugang zu Millionen Kunden und profitieren von einem Vertrauenstransfer. Gleichzeitig rüsten die Anbieter ihre Versicherungsleistungen auf: Mit Policen-Checks und Berater-Chats haben sie sich zu vollwertigen Versicherungsmaklern gemausert. „Herr Kaiser“, ehemalige Werbe-Ikone der Hamburg-Mannheimer Versicherungsgruppe, hat damit endgültig ausgedient.
2. Teil: „Eine neue Generation“

Eine neue Generation

Daneben drängt seit einiger Zeit eine neue Welle von Versicherungs-Start-ups auf den Markt. Sie begnügen sich nicht mehr mit der Rolle als digitaler Makler, sondern gehen deutlich weiter. Als Assekuradeur oder vollwertiges digitales Versicherungsunternehmen bieten sie ihren Kunden eigene Versicherungen an. Einige von ihnen positionieren sich dabei dank schlanker Prozesse als Preisbrecher. Andere nutzen die digitalen Technologien, um kundenindividuelle Angebote zu machen, und setzen dabei auf Qualität.
Einer dieser Anbieter heißt Haftpflichthelden. Die Hamburger konzentrieren sich ausschließlich auf private Haftpflichtversicherungen, die sie als Assekuradeur der Versicherungsgruppe NV-Versicherungen anbieten. Mit transparentem Flatrate-Tarif, schnellem Vertragsabschluss und automatischen Leistungsverbesserungen versuchen sie, die Nutzer an sich zu binden. Den Versicherungsbeitrag kann der Kunde dabei auch per Kreditkarte oder Paypal bezahlen.
Ein weiteres Beispiel ist Ottonova, eine komplett digitale Krankenversicherung. In mehreren Finanzierungsrunden konnte das Münchner Start-up etwa 40 Millionen Euro einsammeln. Genug Kapital, um damit ein vollwertiges, BaFin-lizenziertes Versicherungsunternehmen aufzubauen. Ottonova unterscheidet sich von traditionellen Krankenversicherungen zum einen durch die automatisierte Verarbeitung von Rechnungen und Kostenvoranschlägen via App. Zum anderen kann die Versicherung direkt per App abgeschlossen werden, sodass hohe Vermittlungsprovisionen entfallen.
Während sich diese neue Generation von Insurtechs hierzulande mit mittleren zweistelligen Millionen-Fundings begnügen muss, entstehen in den USA und vor allem in China noch deutlich größere Insurtechs – so zum Beispiel der digitale US-Krankenversicherer Oscar, seit 2012 am Markt und Vorbild für Ottonova. Befeuert durch die Gesundheitsreform des früheren US-Präsidenten Barack Obama konnte das Start-up über 100.000 Kunden für sich gewinnen und fast
900 Millionen Dollar Kapital einwerben.
In den USA ebenfalls groß im Geschäft ist das Start-up Lemonade, das Ende 2017 eine Finanzierungsrunde über 120 Millionen Dollar abschließen konnte. Es bietet Hausrat- und  Gebäudeversicherungen zu Kampfpreisen an. Ermöglicht werden diese durch die konsequente Digitalisierung aller Prozesse. Ausgefallen ist auch das Geschäftsmodell: 20 Prozent der Prämien werden für Gehälter, Werbung und Rückversicherung ausgegeben, der Rest ist für die Schadensabwicklung vorgesehen. Bleibt am Ende ein Überschuss übrig, wird er für soziale und wohltätige Zwecke gespendet.
Die absolute Nummer eins der Insurtech-Branche ist allerdings der chinesische Online-Versicherer Zhong An. Kern des Geschäftsmodells sind Mini-Versicherungen etwa zur Absicherung von Transportrisiken beim Versand oder bei Flugverspätungen.
Was ist Dunkelverarbeitung?
Um im harten Preiswettbewerb mitzuhalten, müssen auch große Versicherungskonzerne ihre Produktion auf Effizienz trimmen. Eine Möglichkeit dafür liegt in der End-to-End-
Automatisierung der Prozesse – vom Kundenkontakt bis
ins Backend.
Das Zauberwort heißt Dunkelverarbeitung. Es beschreibt eine Organisationsform, bei der Prozesse ohne menschliche Eingriffe automatisiert im Verborgenen ausgeführt werden. Sie ermöglicht automatisierte Serviceprozesse in der Bestandsverwaltung, zum Beispiel wenn ein Kunde seine neue Adresse hinter­legen möchte. Klassisch nimmt ein Service-Mitarbeiter diese Information auf, prüft sie und pflegt sie händisch in das Kundensystem ein.
Bei der Dunkelverarbeitung gibt der Kunde die Adressänderung selbst in ein Online-Formular ein. Die Eingabe wird automatisiert über eine Adressdatenbank geprüft und gespeichert. Aber auch für komplexere Fälle wie Antrags- und Policierungsprozesse kann Dunkelverarbeitung genutzt werden – bei Bedarf auch in einem hybriden Ansatz mit menschlicher Interaktion: Der Kunde gibt seine Antragsdaten in ein Online-Formular ein und das System prüft den Antrag automatisiert anhand von Scoring-Vorgaben mit einem Ampelmodell. Bei Grün wird der Antrag angenommen, bei Rot lehnt die Maschine automatisiert ab. In Grenzfällen springt die Ampel auf Gelb, und ein mensch­licher Sachbearbeiter übernimmt die Bearbeitung.
Im Frontend wird bei der Dunkelverarbeitung mittlerweile immer häufiger auf Chat-Bots anstelle reiner Formulare gesetzt. Im Backend wiederum werden fixe Scoring-Algorithmen mehr und mehr durch Künstliche Intelligenz und Machine Learning angereichert. Und auch die Blockchain und hier besonders die so­genannten Smart Contracts werden von Versicherungen und Insurtechs aktuell auf ihren Nutzen hin untersucht.
Dunkelverarbeitung sorgt so für Prozessbeschleunigung und für Kostensenkungen. Damit ist sie ein wichtiger Baustein in der Digitalisierungsstrategie von Versicherungen.
3. Teil: „Klassische Versicherer“

Klassische Versicherer

Für die klassischen Versicherer ist all dies ein Weckruf – wirklich überrascht wurden sie indes nicht. Immerhin lieferten die Fintechs, die seit einigen Jahren den digitalen Wandel in der Bankenbranche vorantreiben, die Blaupause. Und wie beim Banking ist auch in der Versicherungsbranche erkennbar, dass die Zeichen nicht nur auf Konfrontation stehen. Insbesondere die digitalen Makler wie Clark oder Getsafe suchen naturgemäß die Kooperation mit traditionellen Versicherern, aber auch mit Banken, die ihren Kunden so einen Mehrwert bieten wollen. Im Gegenzug nutzen die großen Versicherungskonzerne ihre Finanzkraft, um sich an aufstrebenden Start-ups zu beteiligen.
In der Breite reagieren die hiesigen Versicherer hingegen mit eigenen Digitalisierungsinitiativen. Der Fokus liegt dabei in vielen Fällen auf einer Optimierung der eigenen Prozesse, etwa durch einen Ausbau der sogenannten Dunkelverarbeitung und eine Automatisierung des Schadensmanagements. Aber auch den Online-Vertrieb bauen die Versicherungen stetig aus.

Digitalisierung ermöglicht gänzlich neue Produkte

Doch die Digitalisierung endet nicht bei diesen klassischen Kostensenkungsmaßnahmen, sie hat vielmehr das Potenzial, völlig neue Wege zu erschließen. Im Online-Vertrieb können intelligente und selbstlernende Chat-Bots simple Formular-Strecken ersetzen und dem Kunden kostengünstig eine persönliche Beratung bieten. Das Stichwort lautet: Robo Advisor. Auch ganz neue Produkte können so entstehen, etwa Kfz-Versicherungen, die via Telemetrie kilometergenau abgerechnet werden oder die Prämie an das Fahrverhalten koppeln. In der Kranken- oder Risikolebensversicherung kann gesundheitsbewusstes Verhalten mit einem Fitness-Tracker erfasst und mit Prämienrabatten belohnt werden.
Mittels sogenannter Smart Contracts – das sind auf Blockchain-Basis abgesicherte Verträge – können neue Mini-Policen entworfen und kosteneffizient abgewickelt werden. Ein Beispiel ist die Flugverspätungsversicherung. Hier wird ein Smart Contract so programmiert, dass er über eine öffentliche Datenbank überwacht, ob der versicherte Flug pünktlich abgehoben hat. Ist er verspätet, zahlt der Smart Contract die Versicherungssumme automatisch aus.
Überhaupt lassen digitale Prozesse eine schier unendliche Zahl solcher individuellen Versicherungen zu. Ob es die Schön-Wetter-Versicherung für die eigene Hochzeit ist, die Kurzzeit-Handy-Diebstahlversicherung für den Italienurlaub oder die Transportversicherung für den einzelnen Verkauf auf Ebay. Entscheidend dabei ist, eine Vielzahl von Daten und Metadaten mittels Machine Learning und Künstlicher Intelligenz schnell auszuwerten und gekonnt zu verknüpfen.
Die digitale Transformation hat also nach den Banken auch die Versicherungsbranche fest im Griff. Die neuen Technologien sind zwar eine Bedrohung für klassische Versicherungskonzerne, bieten aber große Chancen, sie für innovative Produkte und Dienstleistungen zu nutzen. Die Kunden können sich freuen, denn die Insurtechs treiben die Platzhirsche vor sich her und erzwingen kundenfreundlichere Produkte.

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