Business-IT
23.04.2020
Wertewandel durch Technik
1. Teil: „Kann Software den CEO ersetzen?“

Kann Software den CEO ersetzen?

SoftwareSoftwareSoftware
Dmitriy Rybin / shutterstock.com
Die Digitalisierung verändert die Spielregeln - in Berufen, Unternehmen und Märkten. Aber kann Software wirklich einen menschlichen CEO ersetzen?
Dieser Beitrag wurde erstellt von Dr. Reinhard Riedl, Präsident der Schweizer Informatik Gesellschaft.
Software schafft neue Ressourcen zur Ausführung von Aufgaben. Andererseits generiert sie auch Aufgaben, die es zuvor nicht gab. Beides gilt auch für CEOs. Allerdings wird es schwierig, sie durch Software zu ersetzen - ein Szenario, wie es sich etwa die Anhänger dezentralisierter autonomer Organisationen (DAO) erträumen. Das DAO-Konzept beschreibt eine Unternehmensführung, die durch ein transparentes Computerprogramm kodiert wird. Alle Regeln und Entscheidungen sind in einer Blockchain für alle Beteiligten einsehbar.
Die rasante Technikentwicklung befeuert nicht nur die Digitalisierung, sie führt auch zum Paradigmenwechsel im Top-Management. So kann Maschinenintelligenz zur Automatisierung, zur Steuerung von Robotern, aber auch zur Unterstützung von Spezialisten und Entscheidungsträgern eingesetzt werden. Interne Entscheider können bedarfsgetrieben externe Experten virtuell hinzuziehen. Die externen Fachkräfte können aber auch gleich Geräte remote steuern, ein Trend, der sich etwa in Kombination mit Augmented Reality im Service zunehmend etabliert. Über Plattformen können einfache Aufgaben an Selbstständige oder die Crowd outgesourct werden. Die hilft auch bei komplexeren Aufgaben wie dem Entwickeln von Innovationen. Denn entgegen der öffentlichen Wahrnehmung geht es bei der digitalen Transformation weniger um das Ersetzen von Menschen als um Mensch-Maschinen-Zusammenarbeit und die Kooperation mit Externen, also Menschen.
Die so durch die Digitalisierung geschaffenen Freiräume und Handlungsmöglichkeiten müssen in einer freien Wettbewerbswirtschaft von Unternehmen auch genutzt werden. Das führt dazu, dass anders gearbeitet werden muss und neue Aufgaben entstehen. Zu Letzteren zählt die Optimierung des Unternehmens, etwa mit digitalen Zwillingen. Das kann sehr vielfältige Formen annehmen. Es gibt digitale Doppelgänger von Menschen, Maschinen, Abläufen, Aktionen und Unternehmen, die jeweils eine Multiaspekt-Optimierung zulassen: Die Kundin soll das für sie maßgeschneiderte Produkt bekommen und den maximalen Preis bezahlen, den sie zu zahlen bereit ist - unabhängig davon, was ihr Nachbar gewillt ist auszugeben. Die Maschinen sollen so gewartet werden, dass die Instandhaltungskosten minimiert werden.
Beides gelingt per digitalem Zwilling und Big Data. Eine neue Aufgabe von CEOs ist deshalb, die Optimierung des Betriebs mittels digitaler Zwillinge strategisch zu führen. Voraussetzung dafür ist eine gute Datenstrategie, die erfolgreich durch die IT-Abteilung implementiert wird.
2. Teil: „Netzwerke, Allianzen, Ökosysteme“

Netzwerke, Allianzen, Ökosysteme

In Zukunft gilt es vermehrt, Netzwerke gezielt zu nutzen und weiterzuentwickeln, Netzwerke im Unternehmen, Geschäftsnetzwerke wie Allianzen oder Markt-Communities, Innovationsökosysteme und Kommunikationsnetzwerke in den Social Networks. Es gibt sogar erste digitale Zwillinge von Netzwerkaktivitäten: teils sind Netzwerkbeziehungen mathematisch abbildbare mentale Modelle. Je nach Kontext dienen diese Netzwerke der Zusammenarbeit, dem Verbreiten von Meinungen oder dem Aufbau von Reputation. Der Physiker und Netzwerkforscher Albert-László Barabási formuliert das so: „Dort, wo Leistung nicht gemessen werden kann, bestimmt das Netzwerk über den Erfolg.“
Das alles ist nicht ganz neu. So, wie es seit Langem Maschinen und externe Mitarbeiter gibt, kann man schon lange Prozesse mit digitalen Zwillingen optimieren. Auch nutzen manche unternehmerisch geschickt ihre Netzwerke. Neu ist, dass fachliche Ausbildung und Kenntnis der Forschung eine zen­trale Rolle spielen. So wird aus dem „Einkauf“ ein fachlich fundiertes „Vendor Management“ und aus dem Nutzen der persönlichen Netzwerke ein digitales Analysieren der Kommunikationsstrukturen. Selbst kleine Unternehmen werden von den Forschungsresultaten der Netzwerkwissenschaft profitieren. Aufgabe der Geschäftsleitung ist es, diese Professionalisierung des Netzwerkmanagements strategisch zu führen.

Neues Wissen

Aufgrund der neuen Ressourcen und neuen Aufgaben brauchen CEOs auch neues Know-how. Kurz- bis mittelfristig wird vor allem Wissen in Bezug auf technische Möglichkeiten und Gefahren benötigt, langfristig auch in Bezug auf die Nutzung digitaler Methoden und Werkzeuge.
Alle Geschäftsleitungsmitglieder sollten daher die Einsatzmöglichkeiten der digitalen Technologien in den nächsten Jahren kennen sowie über jenen Teil der Netzwerkforschung Bescheid wissen, der heute bereits anwendungsrelevant ist. Zudem sollten Entscheiderinnen und Entscheider mit den wichtigsten Aspekten der Cybersecurity und IT-Forensik vertraut sein. Ist das Unternehmen international tätig, dann ist es weiter notwendig, mit dem Thema Digitaler Binnenmarkt, wie ihn die EU plant, und seiner Umsetzung gut vertraut zu sein. Erst in ein paar Jahren wird es dagegen wichtig werden, in der Chefetage die fortgeschrittenen digitalen Werkzeuge wie Machine Learning selber praktisch nutzen zu können.

Neue Unternehmenskultur

Die neuen Ressourcen, die neuen Aufgaben und das neue Wissen verändern zwangsläufig auch die Unternehmenskultur. Dabei gibt es eine Wechselwirkung zwischen Handeln und Haltung. Rückwärtsgewandte Einstellungen können die digitale Transformation blockieren, während zukunftsorientierte Praktiken effizienter als jedes Anreizsystem die Haltung ändern. Im digital transformierten Unternehmen sind Projekte, Teams und eine temporäre Rollenausübung wichtiger als Prozesse. Die Verantwortung für Compliance und Wertschöpfung werden eventuell sogar getrennt. Vertrauenswürdigkeit ist wichtiger als Wertschätzung, Interesse für den anderen wichtiger als Lob. Die Kultur wird durch Agilität bestimmt, die auf Flexibilität und Disziplin beruht. Aufgabe der CEOs wird es sein, das gute alte Change-Management, das niemand mochte, durch ein aus Projekten bestehendes Transformationsprogramm zu ersetzen und die dafür notwendige Projektdisziplin durchzusetzen.
Die digitale Unternehmenskultur verlangt gleichermaßen Wandelbereitschaft und situativ hohes Commitment. Das ist für viele Menschen schwer miteinander vereinbar. Flexibilität, Disziplin und Vertrauenswürdigkeit sind daher notwendige Anker. Man braucht sie, um die neuen Ressourcen effektiv zu nutzen und die neuen Aufgaben effizient auszuführen. Sie sind aber auch entscheidend dafür, dass Menschen sich im digital transformierten Unternehmen wohlfühlen. CEOs müssen diese neuen Kulturprinzipien für ihr Unternehmen adaptieren. Sie sollten dafür einen Bezug des Neuen zu traditionellen Qualitäten im Unternehmen her­stellen, weil die Zukunftsgestaltung am besten gelingt, wenn sie aus einer positiv interpretierten Vergangenheit heraus geschieht.
3. Teil: „Unterschiedliche IT-Kulturen“

Unterschiedliche IT-Kulturen

Das alles ist schwierig, weil es das Business verändert. Und es ist doppelt schwierig, weil es eine fitte IT-Abteilung benötigt, die Innovationen umsetzen will und selber Ideen einbringt. Es ist deshalb wichtig, dass die Geschäftsleitung sich nicht nur für die neuen technischen Möglichkeiten, sondern auch für die IT-Kultur interessiert. Das Problem ist, dass Commitment und Unfug schwer zu unterscheiden sind.
Dazu drei verbreitete IT-Kultur-Prototypen, die alle idealistisch und wertorientiert daherkommen, sich aber fundamental unterscheiden. Zwecks besserer Verständlichkeit werden sie etwas überzeichnet:
Moderne Informatiker: Sie sind am Ball des technischen Wandels und gesellschaftlich interessiert. Sie spielen gern mit IT, erfinden neue technische IT-Artefakte, setzen diese aber auch gern praktisch ein, weil sie Innovationen im wirklichen Leben mögen. Dabei arbeiten sie in Kundenprojekten diszi­pliniert agil, sind geschickt im Hineindenken in andere (Kunden wie Coder) und gehen mit IT-Herausforderungen (wie technischen Schulden) ökonomisch um. Zudem engagieren sie sich für Gemeinwohlinitiativen, reflektieren eigenes Handeln und versuchen, IT-Nutzer zu befähigen, IT vernünftig und verantwortungsbewusst einzusetzen. Erlebt man sie, fragt man sich, warum es in diesem tollen Beruf in der Schweiz nur 15 Prozent Frauen gibt.
Traditionelle Helden: Wer je Informatiker über KI spotten gehört hat, begreift, dass es vor allem unter ihnen großen Widerstand gegen die digitale Transformation gibt. Sie lehnen systematisches Problemlösen, Teamarbeit und moderne Strategieentwicklung ebenso ab wie Frauen in wichtigen IT-Rollen und Nicht-Informatiker als Vorreiter der Datenwissenschaft. Dafür schätzen sie männliche Aggression und schlaue Argumente. Sie bewundern jene, die sich durchsetzen. Für externe Beobachter erscheinen sie oft als Idealisten, die in vielem recht haben. Gewieft sind sie auch darin, Opfer unfähiger Vorgesetzter zu sein. Erlebt man sie näher, versteht man sofort, warum es nur 15 Prozent Frauen in diesem Beruf gibt.
Out of space and time: Es gibt in der Informatik auch einen typischen dritten Weg in Form eines starken Teamgeists und eines konstruktiven Gemeinschaftsdenkens. In diesem Setting nimmt die Führungsperson eine zentrale Rolle ein und schützt Mitarbeiter vor dem Business. Häufig ist das teils mit Agilität vereinbar, selten aber uneingeschränkt. Denn starke persönliche Beziehungen behindern dies.
Allen drei prototypischen IT-Kulturen ist gemeinsam, dass es oft um Werte, Ethik und Moral geht. Alle passen sehr gut zu einem bestimmten Typ von Unternehmenskultur. Viele verkörpern fast idealtypisch eine Zeitgeistströmung. Einzige Ausnahme: die IT-Abteilung, die vom Rest des Unternehmens vergessen wurde, weil sie vor Jahren gute Arbeit gemacht hat. Aus CEO-Sicht gilt es, genau zu verstehen, wie die eigene IT-Abteilung tickt. Denn moralische Werte können zu vielem genutzt werden - auch dazu, andere zu diskriminieren oder zu terrorisieren. Zudem sind Werte oft negativ korreliert mit Leistungsfähigkeit. Mit Agilität voll kompatibel ist nur die erste beschriebene IT-Kultur, während die zweite anti­agil ist und von Führungskräften ein Grund-Nichtvertrauen verlangt, das nicht mehr in die heutige Zeit passt.
Agilität, genau betrachtet
  • Zweck: Förderung kreativer Projekte und Umsetzung von Innovationen
  • Kernidee: Durch die Reduktion der Reibungsverluste im Unternehmen gewinnen alle
  • Eigenschaften: Flexibilität und Disziplin
  • Kernstruktur: Arbeit in Zyklen
  • Unterstützungsmethoden: Dutzende verschiedene Praktiken
  • Entscheidend: Auftraggeber und Auftragnehmer halten Termine ein
  • Überflüssig: Einsatz agiler Praktiken bei Standardaufgaben und unkreativen Projekten
4. Teil: „Grundsätzliches Dilemma“

Grundsätzliches Dilemma

Das skizzierte Kultur-Panorama zeigt ein Hauptdilemma der digitalen Transformation: Der Paradigmenwechsel verlangt - von wenigen Ausnahmen abgesehen - von der Geschäftsleitung Härte und Durchgriffstärke gegen das antiagile Alte. Die digitale Veränderung ist aber langfristig absolut inkompatibel mit einer klassischen Top-down-Führung. Oder: Mit Methoden von gestern muss die alte Welt transformiert werden. Die künftige Welt verlangt hingegen nach modernen Spielregeln. Die entstehende neue Welt entspricht im Idealfall der geschilderten ersten prototypischen IT-Kultur, ergänzt mit einer hohen Business-Affinität. Die diszipliniert agilen Informatiker sollten nämlich Innovationen für das Geschäft nicht nur umsetzen, sondern idealerweise selber dem Business vorschlagen.
Das Dilemma ist der Weltgeschichte immanent. Historiker, Ökonomen und Theologen haben es ausführlich beschrieben: Zivilisation lässt sich nur eingeschränkt mit zivilen Mitteln etablieren. Die eigentliche Herausforderung ist daher eine andere: Die digitale Transformation stellt unsere Denklogik in vielen Bereichen auf den Kopf - oder je nach Sichtweise vom Kopf auf die Füße. Wir alle müssen das sehr schnell begreifen lernen.
Ein typisches Beispiel: Früher sammelte man Daten für ein fundiertes Anwendungsdesign, um eine Software zu entwickeln. Heute baut man Apps so, dass sie brauchbare Daten für die Weiterentwicklung liefern. Aus Datensammeln für das App-Design wurde App-Design fürs Datensammeln. Mit dem durch DevOps stark vereinfachten Durchführen von Hypothesentests wird Bauchgefühl situativ überprüfbar. Weitere IT-getriebene Entwicklungen, mit denen sich Top-Managerinnen und Firmenlenker auseinandersetzen müssen, heißen deshalb „hypothesenbasiertes Management“ und „Governance mit eingebauter Wirkungsüberprüfung“.

Neue Führungsprinzipien

Die digitale Transformation macht auch vor dem Fundament guter Führung nicht halt: dem Vorleben eines guten Beispiels. Durch die Digitalisierung wird die Arbeitswelt heterogener, transparenter, aber auch reicher an Regelbrüchen. Selbstverständlichkeiten erodieren, allerdings geschieht das meist unsichtbar. Weil Vorgesetzte andere Herausforderungen als ihre Mitarbeiter haben, wird es notwendig, die Vertrauenswürdigkeit als kulturellen Wert in den Fokus vorbildlichen Verhaltens zu rücken.
Chefinnen und Chefs sollten das Einhalten von Deals und das Geben von Feedback in Bezug auf eingehaltene Vereinbarungen diszipliniert vorleben. Wenn sie zusätzlich auch noch für alle sichtbar ernsthaft neugierig sind, schadet das nicht - ganz im Gegenteil. Ansonsten aber müssen sich CEOs von sehr vielen Ratschlägen unserer Führungslehrbücher und TED-Talker verabschieden. Wir leben in einer Welt, in der das Brechen von Regeln zur Norm wird und Machtspiele zunehmend dominieren. Dem kann man nur mit agiler, disziplinierter Kreativität entgegentreten. Und genau deshalb kann man CEOs auch in Zukunft kaum durch Software ersetzen.
Adaptierung von Agilität auf andere Handlungsfelder
  • Beispiel: Fokussiertes 360-Grad-Feedback
  • Kernidee: Alle sagen allen im Team, ob die Abmachungen aus ihrer/seiner Sicht eingehalten wurden
  • Zweck: Erhöhung der Vertrauenswürdigkeit aller (verstärkt das gegenseitige Vertrauen im Team)
  • Wissenschaftliche Belege: Forschung zum Beispiel des Ökonomen Ernst Fehr
  • Richtige Umsetzung: Beschränkung des Feedbacks auf Abmachungen – das beschleunigt die digitale Transformation
  • Falsche Umsetzung: Volles 360-Grad-Feedback (bremst die Innovationsgeschwindigkeit)

mehr zum Thema