Business-IT
21.11.2018
Probleme mit Mathematik lösen
1. Teil: „Mit Operations Research zu besseren Entscheidungen“

Mit Operations Research zu besseren Entscheidungen

MathematikMathematikMathematik
Sashkin / Shutterstock.com
Dank der Kombination von Big Data, Machine Learning und dem IoT eröffnet OR neue Einsatzmöglichkeiten für die Lösung komplexer unternehmerische Probleme.
Saving Lives. Saving Money. Solving Problems.“ Mit diesem Slogan wirbt das amerikanische Institute for Operations Research and the Management Sciences (INFORMS) für ein Fachgebiet, in dem es im Wesentlichen um die Lösung von Planungsproblemen mit Hilfe mathematischer Methoden geht.
  • Quelle: Optima Inc.
Die Anfänge von Operations Research (OR) gehen auf Entwicklungen im Zweiten Weltkrieg zurück, als sich das Militär mit der optimalen Planung von Radarstationen oder der besten Zusammensetzung von Schiffskonvois auseinandersetzen musste. „Das Besondere war damals die ausgeprägte Interdisziplinarität bei der Zusammensetzung von Teams zur Entwicklung und Anwendung von mathematischen Methoden auf konkrete Anwendungsfragen“, berichtet Professor Alf Kimms, Inhaber des Lehrstuhls für Logistik und Operations Research an der Mercator School of Management und Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Operations Research (GOR), die sich die Förderung von OR in Wissenschaft und Praxis zur Aufgabe gemacht hat.
Die Einsatzgebiete für Operations Research sind vielfältig. Sie reichen von der Routenplanung für Vertriebsmitarbeiter oder Paketzusteller über die Rohstoffzusammensetzung in der Produktion und den Fahrzeugeinsatz in Logistik und Transport bis hin zu Investitionsentscheidungen oder Marktanalysen. Die Grenzen zu anderen Gebieten der Analytik oder Statistik sind fließend. Gemeinsam ist den in OR betrachteten Fragestellungen in der Regel, dass sie einer mathematischen Beschreibung zugänglich sind. „Wir versuchen zu beweisen, dass es besser nicht geht, oder wir versuchen zumindest zu belegen, dass eine beste Lösung für ein konkretes Beispiel nur höchstens x Prozent entfernt sein kann“, erklärt Kimms das Prinzip. „So hat man zusätzlich zur eigentlichen Lösung eine Aussage zur Qualität der vorgeschlagenen Lösung zur Hand.“ Ein typisches Beispiel für den OR-Ansatz ist das Problem des Handlungsreisenden (Traveling Salesman Problem), der mehrere Städte besuchen soll. Für diese Aufgabe gibt es (mindestens) eine Route, bei der die gesamte Wegstrecke am kürzesten ist.
Tabelle:

2. Teil: „Vom Modell zum Ergebnis“

Vom Modell zum Ergebnis

Um eine Fragestellung mit OR-Methoden bearbeiten zu können, ist zunächst eine Modellierung nötig, das heißt, das Problem muss in eine mathematische Form gebracht werden, in der die Parameter der Ausgangslage (= vorhandene Daten) und die Variablen (= gesuchte Werte) beschrieben und über mathematische Formeln zueinander in Beziehung gesetzt werden. Auf dieses Modell können dann verschiedene mathematische Verfahren angewandt werden.
  • Saving Lives. Saving Money. Solving Problems.: So lautet das Motto des Operations-Research-Fachverbands INFORMS.
    Quelle:
    INFORMS
Bei der vollständigen Enumeration beispielsweise werden alle Lösungsmöglichkeiten berechnet, um das Optimum zu bestimmen. Je nach Fragestellung kann dies allerdings sehr lange dauern. Daher setzt man oft heuristische Verfahren ein, die nicht die absolut beste Lösung finden, sondern lediglich mit akzeptablem Aufwand ein gutes Ergebnis erzielen wollen. Hierbei kommen unter anderem stochastische Suchverfahren zum Einsatz. Sie durchlaufen das Datenmaterial in zufälliger Reihenfolge und verwerfen gefundene Lösungen, wenn sie auf eine neue, bessere Alternative stoßen.
Nicht immer lässt sich jedoch eine Fragestellung mit allen Randbedingungen und ohne Zufallsaspekte deterministisch modellieren. Häufig spielen nicht vorhersagbare, zufällige Ereignisse für das Ergebnis eine wesentliche Rolle. Auch für solche Probleme bietet OR Lösungsmöglichkeiten.
Risikomodelle, die zufällige Variablen berücksichtigen, Warteschlangenmodelle, mit denen sich aufeinanderfolgende Prozesse beschreiben lassen, und sogenannte Markov-Entscheidungsmodelle, die zufällige Zustandsübergänge berücksichtigen, erlauben es beispielsweise, für Fragestellungen, die mit Unsicherheit behaftet sind, Lösungen zu finden.
Einen guten Einstieg in das Thema bietet das Buch „Einführung in Operations Research“ von Wolfgang Domschke, Andreas Drexl, Robert Klein und Armin Scholl (Springer-Verlag, 2015).
Prinzipiell kann außerdem zwischen linearen und nicht linearen Optimierungsmodellen unterschieden werden. Eine lineare Optimierung lässt sich dann anwenden, wenn sowohl die Zielfunktion als auch die Nebenbedingungen linear vorliegen oder sich zumindest relativ einfach linearisieren lassen. Das Problem des Handlungsreisenden ist dafür wieder ein gutes Beispiel, da sich die Wegstrecken linear addieren.
Wenn zwischen Ausgangs- und Endwerten jedoch kein linear beschreibbarer Zusammenhang besteht oder wenn komplexe Restriktionen zu beachten sind, kommt die nicht lineare Optimierung zum Einsatz. Ein Beispiel wäre etwa ein aufwendiger und komplizierter Produktionsprozess, in dem die Endproduktmenge nicht im linearen Verhältnis zu den eingesetzten Rohstoffen steht.
3. Teil: „Neue Ansätze für OR“

Neue Ansätze für OR

Großunternehmen haben den Stellenwert von Operations Research früh erkannt und eigene zentrale OR-Abteilungen eingerichtet. In kleinen und mittelständischen Unternehmen ist das Thema bis heute dagegen kaum angekommen. „In Projektgesprächen mit solchen Unternehmen gibt es oft das Problem, dass der Gesprächspartner OR gar nicht kennt und auch nicht versteht, was OR wie leisten kann“, bedauert Professor Kimms. „Hier ist das Marketing von uns Wissenschaftlern extrem ausbaufähig.“
Diese Zurückhaltung mag auch mit der Historie von Operations Research zusammenhängen. „In den Anfängen von OR waren Berechnungen nur mittels Großrechner möglich“, erklärt Jörg Schmidl, Manager beim Beratungsunternehmen A. T. Kearney, das Firmen bei der Umsetzung von OR-Projekten unterstützt. „Sie waren aufwendig und dauerten lange, die Anwendung war im Wesentlichen auf langfristige Fragestellungen beschränkt.“
Das habe sich in den vergangenen Jahren aber stark gewandelt: „Die Algorithmen sind performanter, die Rechenleistung extrem viel höher geworden. Fachabteilungen können heute OR-Methoden in gewissem Umfang selbst einsetzen und sind für Spezialanwendungen nicht notwendigerweise auf die Zentralabteilung angewiesen“, so Schmidl weiter,  „wenn es um umfassendere Fragestellungen geht, wird allerdings immer noch eine zentrale Integration benötigt.“ Heute lägen Ergebnisse oft schon in Minuten oder Stunden vor. „Dadurch lässt sich OR zunehmend auch im operativen Betrieb nutzen.“
Doch nicht nur die flächendeckende Verfügbarkeit preisgünstiger Rechenleistung hat den Einsatz von OR verändert. Auch Trends wie Big Data, Machine Learning und Internet of Things (IoT) erweitern das Spektrum von OR. „Durch die dynamische Entwicklung im IT-Bereich verändern sich die Fragestellungen, die man mit Hilfe von OR-Methoden in den Unternehmen klären kann“, stellt Kimms fest. „Die Anzahl der OR-Anwendungen auf der einen und die Anzahl der methodischen Ideen auf der anderen Seite werden immer größer.“
Die Fachgesellschaft GOR begegnet den Entwicklungen im IT-Bereich mit eigenen Arbeitsgruppen. So beschäftigt sich etwa die Arbeitsgruppe „Analytics“ damit, statistische Verfahren der Datenauswertung mit OR-Ansätzen zu kombinieren. „Die Verbindung von Statistik und Optimierung wird neue Ideen hervorbringen“, ist sich Professor Kimms sicher.
Nach gleichem Muster betreibt die GOR schon seit vielen Jahren auch eine Arbeitsgruppe zur Künstlichen Intelligenz. Jörg Schmidl sieht neben dem generellen Trend zu Big Data vor allem auch das IoT als wichtigen Datenzulieferer für OR. „Je aktueller meine Daten sind und je mehr Datenpunkte mir zur Verfügung stehen, desto bessere Prognosen kann ich treffen.“
Ein weiterer Ansatz, der laut Kimms die Unternehmensforschung verändern könnte, ist die Kombination von Spiel­theorie und OR: „Damit lassen sich Aufteilungsprobleme fair lösen, die entstehen, wenn Unternehmen oder Unternehmenseinheiten in Supply Chains miteinander kooperieren.“ Der OR-Experte glaubt, dass in dieser Verschmelzung bestehender Forschungsgebiete der größte Hebel zu einer qualitativen OR-Weiterentwicklung liegt: „Das wird auch neue Anwendungsgebiete eröffnen.“

Was Operations Research bringt

Kimms hält es nicht für seriös, den Nutzen von OR pauschal zu beziffern: „Ich kann niemandem versprechen, dass sich bei Einsatz von OR die Kosten um 20 Prozent reduzieren, die Erlöse um 10 Prozent steigern oder die Auftragsbearbeitungszeiten um 5 Prozent kürzer machen lassen.“ Dennoch lässt sich anhand von Beispielen illustrieren, welchen Beitrag OR leisten kann. „Es gibt eine wissenschaftliche Zeitschrift namens ,Interfaces‘, die nichts anderes publiziert als konkrete OR-Erfolgsstorys aus der Praxis“, sagt der Experte. „Viele andere wissenschaftliche OR-Fachzeitschriften publizieren ebenfalls regelmäßig Case-Studies aus einer unüberschaubaren Fülle unternehmerischer Problemstellungen.“
Einige Beispiele sollen den Nutzen von OR verdeutlichen: So konnte die Fluggesellschaft American Airlines durch den Einsatz von OR in den drei Bereichen Überbuchung, Rabattvergabe und Verkehrsmanagement über einen Zeitraum von drei Jahren einen finanziellen Nutzen von rund 1,4 Milliarden Dollar erzielen. Dank mathematischer Optimierungen im Paket­routing und in der Flugplanung musste der Paketdienst UPS weniger Frachtflugzeuge anschaffen als ursprünglich geplant. Die Einsparungen lagen bei rund 500 Millionen Dollar. Hewlett-Packard steigerte durch eine mathematisch modellierte Optimierung in der Produktion von Tintenstrahldruckern die Produktivität einer Fabrik um 50 Prozent und erhöhte den Umsatz um 280 Millionen Dollar. Und Intel senkte durch Optimierung seiner Supply Chain im Bereich Channel Supply Demand Operations den notwendigen Lagerbestand um 11 Prozent und steigerte die Servicequalität um 8 Prozent.
4. Teil: „OR richtig einsetzen“

OR richtig einsetzen

Will ein Unternehmen sich näher mit OR befassen, gilt es zunächst, Einsatzmöglichkeiten für Operations Research zu identifizieren. „Vor allem komplexe Entscheidungsprozesse mit vielen Variablen, die sehr stark vom Bauchgefühl und der Erfahrung einzelner Personen geprägt werden, eignen sich in der Regel für die mathematische Modellierung“, beobachtet A.T.-Kearney-Manager Schmidl. Die Logik hinter solchen Entscheidungen lasse sich häufig in Algorithmen fassen. „So kann Wissen formalisiert werden und ist nicht mehr im Alleinbesitz eines bestimmten Mitarbeiters.“
Ein gewisses Maß an Datenqualität sei allerdings Voraussetzung, auch wenn die bei OR eingesetzten Verfahren recht robust sind. „Wenn ich sehr unscharfe Daten in das System gebe, kommt natürlich auch nur ein unscharfes Ergebnis heraus“, betont Schmidl.
GOR-Vorstand Kimms rät, gezielt Mitarbeiter mit OR-Kenntnissen einzustellen: „Solche Personen haben ein hohes analytisches Denkvermögen und sind interdisziplinär ausgerichtet“, erklärt der OR-Experte. „Sie sind daher besonders gut auch für Schnittstellenpositionen qualifiziert, weil sie kompetent mit mathematisch-technisch ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen auf der einen und kaufmännisch ausgebildeten auf der anderen Seite kommunizieren können.“
Auch um Anwendungsfelder zu finden, OR-IT-Lösungen anzuschaffen oder entsprechende Dienstleistungen einzukaufen, sei Know-how in der Operations Research von Vorteil: „In der Unternehmensleitung gibt es oft überhaupt keine Kenntnis darüber, was OR wie leisten kann.“
An der betriebswirtschaftlichen Fakultät der Mercator School of Management trägt man der Wichtigkeit des Themas mit gleich drei OR-Professuren Rechnung. „Das ist selten, da viele Fakultäten bestenfalls eine OR-Professur haben“, so Kimms. „An etlichen Fakultäten gibt es gar kein OR-Angebot im Curriculum oder keine Pflicht zur Belegung von Operations Research.“
  • Quelle: INFORMS
Neben Technik und Know-how spielt nach Ansicht von Schmidl aber auch ein dezidiertes Change-Management eine wesentliche Rolle, wenn OR-Projekte Erfolg haben sollen. „Mit den veränderten Prozessen ändern sich auch Entscheidungswege und Kompetenzen“, erklärt der A.T.-Kearney-Manager. Mitarbeiter, die aufgrund ihres Spezialwissens eine Schlüsselposition innehätten, würden unter Umständen entmachtet, Abteilungen müssten enger zusammenarbeiten und vom System getroffene Entscheidungen akzeptiert werden. „Die Bereitschaft zu diesem Wandel hat einen sehr großen Anteil daran, ob OR erfolgreich etabliert werden kann oder nicht.“
OR kann laut Schmidl vor allem dann seine Stärken ausspielen, wenn über Abteilungs- und Prozessgrenzen hinweg der Geschäftsprozess End-to-End betrachtet wird. „Das bietet eine Argumentationsgrundlage, um auch gegen die Interessen einer Fachabteilung das für die Firma globale Optimum durchzusetzen.“ Dazu braucht es Unterstützung aus dem oberen Management. „Wir haben in unseren Projekten immer erlebt, dass die Zuständigkeit für Operations Research in den Bereich des CIOs oder COOs gewandert ist.“

Fazit

Die altehrwürdige mathematische Disziplin Operations Research leistet in einer immer komplexeren Welt mit zahlreichen Abhängigkeiten bei der Entscheidungsfindung eine wesentliche Hilfestellung. Die Kombination von Big Data, Statistik, Machine Learning oder spieltheoretischen Ansätzen mit den Optimierungsfunktionen der klassischen OR-Methoden bietet neue Einsatzmöglichkeiten und kann die digitale Transformation unterstützen.
Unternehmen benötigen allerdings zwei Dinge, um daraus wirklich Nutzen zu ziehen: Sie brauchen mathematisch gut ausgebildetes Personal, das fähig ist, OR-Ansätze auf Problemstellungen im Unternehmen anzuwenden, und sie brauchen eine interdisziplinäre und integrative Kultur, um diese Ansätze auch über Abteilungs- und Hierarchiegrenzen hinweg erfolgreich einsetzen zu können.

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