22.01.2020
Ab in die Garage
1. Teil: „Neue Wege für schnelle Innovationen“
Neue Wege für schnelle Innovationen
Autor: George Sarpong, Luca Perler
Sfio Cracho / shutterstock.com
Konzerne ziehen in Garagen, um mit Partnern schnell neuartige Digitalprodukte zu entwickeln. Ein eher ungewohntes Umfeld wirkt sich positiv auf neue Entwicklungen aus.
Geht es nach den Planern, wird hier die Zukunft entstehen: Flugtaxis und autonome Drohnen starten zu Testflügen, junge und alte Unternehmen entwickeln Technologien und digitale Services.
Doch heute ist es grau, wolkenverhangen und es regnet. Ein wenig inspirierender Tag am Flugfeld Dübendorf auf dem Gelände des Switzerland Innovation Park Zürich. In einer unscheinbaren Baracke wird es plötzlich bunt. Notizzettel in unterschiedlichen Farben leuchten einem entgegen, festgepinnt an verschiebbaren Wänden. Auf den Zetteln: Ideen für ein neues Produkt, Hinweise zu Abläufen und Wünsche für die Programmierung eines Tools. In der Mitte des Raums lädt ein Sofa aus Europaletten, gepolstert mit roten und blauen Kissen, zum Verweilen ein. Doch es bleibt ungenutzt. Daneben sitzt eine Gruppe lieber auf Holzstühlen, versammelt vor einer Leinwand, und diskutiert die darauf projizierten Informationen. Es geht um Schnittstellen, Datenqualität und wie sie ihren neuen Service zum Fliegen bringen kann. Denn die Zeit läuft: Ende der Woche muss der Prototyp stehen, dann endet das Projekt mit einem Pitch vor Kunden und der Geschäftsleitung.
Neben der Garage, im Empfangsgebäude des Innovation Parks, erläutern an einem Display Uli Eisert und Daniel Kölsch, was in der Garage passiert. Die beiden leiten die Mode-2 Garage, eine Einrichtung von SAP Schweiz, in der Unternehmen begleitet von technischen Experten Prototypen entwickeln können. Die Lösungen können auf SAP-Technik aufbauen, müssen es aber nicht. Open-Source-Technik ist genauso willkommen wie SAPs IoT- oder Analytics-Produkte.
„Wir stellen immer wieder fest, dass unsere Kunden im Tagesgeschäft festhängen. Zudem beschäftigen wir uns mit neuen Fragestellungen unserer Kunden, für die noch keine fertige Software existiert. Wir haben gemerkt, dass wir ein Format brauchen, um Lösungsansätze mit Prototypen greifbar zu machen und um neue Technologien wie KI, IoT oder Blockchain zu zeigen und auszuprobieren“, erklärt Kölsch die Entstehung der Mode-2 Garage und betont: „Wir wollten aber keine Bastelbude sein. Sondern es sollen konkrete Lösungen entstehen.“
Vorbild Silicon Valley
Start-ups im Silicon Valley begannen meist aus Geldnot in den Garagen der Eltern, ihre ersten Produkte zu entwickeln. Weshalb sollte man das als etabliertes Industrieunternehmen machen? „Es ist wichtig, die Leute aus ihrer gewohnten Umgebung herauszuholen“, betont Kölsch, der seit vier Jahren in der Innovationsentwicklung bei SAP Schweiz arbeitet und die Garage mitgegründet hat. Auch deshalb hat die Garage „ihren robusten Charakter erhalten“, wie Co-Gründer Uli Eisert sagt. „Ein Kunde, eine Woche, eine Herausforderung“ - so lautet das Motto. „Auf diese Weise wollen wir Kunden bewusst machen, wie weit man in nur einer Woche kommen kann“, erklärt Eisert. Anschließend wird abgeschätzt, inwieweit man das Projekt auf Basis des Minimal Viable Products (MVP) weiterverfolgt oder ruhen lässt.
Im Zentrum der Innovationsentwicklung steht der Design-Thinking-Ansatz, so Uli Eisert. Deshalb werden die Projekte wenn immer möglich mit Endkunden des Workshop-Kunden durchgeführt. Denn nur wer den Kunden ins Zentrum der Entwicklung stellt, kann ein hochwertiges Produkt schaffen. Für Eisert sind dabei drei Dinge wichtig: ein diverses Team, eine andere Arbeitsumgebung und ein Wegfall der Hierarchien. „Wer hier mitmacht, muss sich austoben können“, ergänzt sein Kollege Kölsch. Entsprechend ist der Workshop aufgebaut. Am ersten Tag wird untersucht, wer der Kunde ist, welche Pain Points ihn umtreiben und wie man sein Problem lösen kann. Dafür werden Personas entwickelt, an denen sich die Teams während der Woche orientieren.
An drei Tagen baut und programmiert das Team einen technischen Prototyp und verfeinert parallel dazu das Servicemodell, indem man das Produkt immer wieder mit dem Endkunden bespricht - bis es passt. Oder mit Eiserts Worten: „Bis der Kunde sagt: ,Das ist gut, dafür würde ich Geld ausgeben‘.“ Wichtig ist zudem, dass es günstige Prototypen sind, für die zu Beginn wenig Geld ausgegeben und erst im weiteren Projektverlauf mehr Budget investiert wird. Auch muss am Mockup und an der Präsentation gearbeitet werden. Denn am Freitag ist Showtime: Dann gilt es, das Minimal Viable Product (MVP) zu präsentieren.
2. Teil: „Die smarte Kühltruhe“
Die smarte Kühltruhe
Etwa 4.000 bis 5.000 Kühltruhen hat Midor an seine Kunden verliehen. Allerdings ist unklar, ob und wie die Geräte genutzt werden. Manche stehen ungenutzt in Kellern oder kühlen andere Produkte als die von Midor. Die Idee bestand darin, eine technische Lösung zu entwickeln, die hilft, aufzuzeigen, an welchem Ort sich eine Kühltruhe befindet, wie kalt es in der Truhe ist, welche Luftfeuchtigkeit in ihr herrscht und welche Eissorten aktuell vorrätig sind. Auf diese Weise wäre auch nachvollziehbar, wo die Eistruhen sind, ob diese überhaupt angeschlossen sind, ob versehentlich eine Tür offen gelassen wurde und wann Eis nachbestellt werden muss.
Für die Projektplanung lud man auch einen Bad-Betreiber ein, denn Freibäder sind eine der Hauptzielgruppen für die Kühltruhen. In der Diskussion zeigte sich, dass die Zielgruppe an der angedachten Lösung wenig interessiert ist. Ein Mehrwert sei aber, Vorschläge für Eissorten zu bekommen, die wirklich gut laufen - etwa einen Benchmark über alle Schwimmbäder hinweg, auf dessen Basis Empfehlungen für das Sortiment abgegeben werden. Das Interview mit dem Midor-Endkunden war ein wichtiger Teil des Design-Thinking-Workshops, denn nur durch die ausführliche Diskussion mit der Zielgruppe ließ sich herausfinden, ob die Idee einer smarten Eistruhe bei den Kunden auch wirklich ankommt.
Doch wie vermittelt man einem IT-System, dass in einem Freibad jemand ein Schoko-Eis aus einer bestimmten Kühltruhe herausgenommen hat? Dafür zog das Projektteam einige technische Register: Wenn ein Kunde der smarten Kühltruhe ein Eis entnimmt, dann registriert das ein Bewegungsmelder und eine Kamera knipst fünf Bilder, die dazu dienen, die Eissorte zu identifizieren. Temperatur- und Feuchtigkeitssensoren registrieren, wenn es wärmer und feuchter wird, die Indizien dafür, dass die Tür der Kühltruhe offen steht. Zusätzlich gibt ein GPS die Geodaten in die Cloud weiter.
Für die Entwicklung des Prototyps beschränkte sich das Team auf drei Eissorten. Mit gerade einmal Hundert Bildern trainiert, lag die Erkennungsquote der entnommenen Eissorten bereits bei 84 Prozent. Zudem entwickelte das Projektteam ein Dashboard, auf dem Informationen zur Truhe übersichtlich dargestellt werden.
3. Teil: „Ein Laden ohne Kasse“
Ein Laden ohne Kasse
Zufrieden ist auch der Convenience- und Food-Service-Anbieter Valora. „Der Ansatz der ,Garage‘ für die Innovationsentwicklung hat unsere Erwartungen übertroffen. Speziell die Arbeit ,offsite‘ in einer kreativen Umgebung haben wir als sehr fördernd wahrgenommen“, fasst Dominique Martin zusammen. Sie ist Manager Consumer Apps & Data Services bei Valora. „Die Projektmitglieder konnten sich an einem neutralen Ort abseits ihrer alltäglichen Arbeit ganz auf das neue Thema konzentrieren. Diese Fokussierung und die enge Zusammenarbeit in einem kreativen Umfeld hätten inhouse wohl nicht in diesem Umfang erzielt werden können“, ist Martin überzeugt.
Die Mode-2 Garage nutzte die Gruppe für das Kick-off des Projekts „Avec Box“. Das Projektteam für die Woche dort bestand aus zwei Solution-Architekten, einem Mobile Application Developer und dem technischen Projektmanager. Zusätzlich waren Entwickler von Valoras externen Partnern vor Ort - teils die ganze Woche, teils an einzelnen Tagen. Als Ziele für die Garage hatte man sich bei Valora vorgenommen, dass sich das Projektteam kennenlernt, die Architektur der Gesamtlösung verifiziert ist, Entwicklungssysteme aufgesetzt und erste funktionsfähige Prototypen erstellt sind. Die Ziele wurden laut Martin vollständig erreicht. Die Woche in der Mode-2 Garage sei ein wichtiger Grundpfeiler für das erfolgreiche Projekt gewesen. Danach arbeitete das Team von Valora noch ein halbes Jahr weiter.
Das Ergebnis konnten Passanten und Reisende letzten Sommer im Züricher Hauptbahnhof selbst ausprobieren: Da öffnete die Avec Box ihre Türen, der schweizweit erste kassenlose Convenience-Store. Dort konnten Kunden Waren aus den Regalen nehmen, die Preise abscannen und den Shop gleich wieder verlassen - ohne an der Kasse lange anzustehen, Kleingeld herauszukramen und vor Ort zu bezahlen. Abgerechnet wurde im Hintergrund über die App und die darin hinterlegten Kreditkartendaten.
„Wir haben den Garagen-Ansatz anschließend in Teilen übernommen und in Form eines Labors bei uns im Unternehmen aufgebaut, einem Ort, an den sich Projektmitglieder zurückziehen können, um an Projekten zu arbeiten und sich auszutauschen. In diesem Raum befinden sich auch alle Prototypen, um zu testen oder neue Ideen auszuprobieren“, erklärt Martin. Sie empfiehlt anderen Unternehmen, die sich für ein Projekt in der Garage interessieren: „Einfach ausprobieren und der Idee Raum geben. Die Garage ist ein sehr guter Ort, um Ideen voranzutreiben und sich mit Spezialisten und kreativen Personen intensiv und frei auszutauschen.“
4. Teil: „Impuls für Jungunternehmen“
Impuls für Jungunternehmen
Innovationsgaragen gibt es auch bei ti&m. Laut Björn Sörensen, der bei dem Züricher IT-Dienstleister als Head Innovation dafür zuständig ist, gehen von Unternehmen aus den verschiedensten Branchen Anfragen ein. „Das können etwa große Banken sein, die außerhalb ihres Legacy-Umfelds Erfahrungen mit einer neuen Technologie sammeln und Ideen möglichst effizient umsetzen wollen“, sagt Sörensen.
„Wir möchten unseren Kunden mit den Garagen eine Möglichkeit bieten, möglichst schnell Resultate erzielen zu können“, erläutert er das Konzept kurz und knapp. Etwas ausführlicher heißt das, dass die IT-Firma zusammen mit den Kunden innerhalb von vier bis zwölf Wochen, ausgehend von einer Idee ein funktionstüchtiges Minimum Viable Product (MVP) entwickelt. Besonders spannend sei das dann, wenn man das Potenzial einer neuen Technologie anhand eines spezifischen Cases verstehen und ausprobieren wolle.
Dass dies nicht nur für alteingesessene Unternehmen interessant sein kann, zeigt sich am Start-up Aidonic. Mit diesem realisierte ti&m kürzlich ein Blockchain-Projekt.
Digitale Spenden
Severiyos Aydin, der Gründer und CEO von Aidonic, rief Anfang 2013 die NGO „Aramaic Relief International“ ins Leben. Mit dieser engagiert er sich seither in der humanitären Hilfe für Kriegsopfer in Syrien, dem Irak und dem Südsudan. Der Gründer suchte nach einer Lösung, um Spender besser zu motivieren und die Transparenz zu gewährleisten. Dabei sollte der Spendenprozess möglichst ganz digitalisiert werden. 2017 sei er auf die Blockchain gestoßen. Da es am Markt noch keine Lösung dafür gab, erstellte er ein eigenes erstes Konzept. Auf dieser Basis entwickelte er mit ti&m in einer Garage in nur rund zwei Monaten ein einsatzfähiges MVP.
Wie Sörensen erläutert, wissen Kunden zu Beginn einer Garage typischerweise bereits, welche Stoßrichtung sie zusammen mit ti&m verfolgen wollen. Je nachdem sei die Idee auch schon ausgereift - wie bei Severiyos Aydin von Aidonic. Er hatte bereits eine exakte Vorstellung vom Endprodukt und einen ersten Prototyp. So startete die Garage zunächst mit einem Brainstorming - die Innovationsgaragen orientieren sich auch bei ti&m an Design-Thinking-Konzepten. Dabei sind Sörensen zufolge viele Ideen zusammengekommen. „Wir mussten dann das Ganze erst einmal auf die Essenz herunterbrechen und das Alleinstellungsmerkmal bestimmen. Denn das ist es schließlich, was einen Mehrwert generieren kann“, so der Leiter der ti&m-Innovationsabteilung.
Das Konzept, das Aydin im Vorfeld skizzierte, besteht im Prinzip aus zwei Teilen: der „First Mile“ und der „Last Mile“. Bei der First Mile handelt es sich um ein traditionelles Crowdfunding, bei dem die Spendengelder gesammelt werden. In der Garage stellte sich laut Sörensen heraus, dass die Last Mile das Alleinstellungsmerkmal der Lösung ist, kombiniert mit der First Mile in einer Plattform.
Nach dem Crowdfunding wird vom Spendengeld die exakt gleiche Anzahl Token erstellt und direkt an Bedürftige geschickt, die sie etwa im Supermarkt oder im Krankenhaus einlösen können. Die Transaktionen werden über die Blockchain abgewickelt und dokumentiert. Aydins Hilfsorganisation bezahlt danach aufgrund der eingelösten Token direkt den Leistungserbringer. „So entsteht eine End-to-End-Transparenz, die einzigartig ist - der Prozess wird vom Spender bis zum Empfänger nachvollziehbar“, erläutert der Gründer.
Erfolgreicher Praxistest
Bei den Innovationsgaragen geht es ti&m in erster Linie nicht um den Gewinn, wie Sörensen durchblicken lässt - ähnlich klingt es auch bei SAP. „Häufig führen Garagen bei uns aber zu einem Folgeprojekt, weil man einen Ansatz vollständig ausbauen möchte“, erklärt ti&ms Innovationschef. Primäres Ziel der Garagen sei es, mit möglichst wenig finanziellem Aufwand Innovation zu beflügeln und schnelle Resultate zu erzielen. Das kommt auch Jungunternehmen entgegen. Aydin etwa fehlten kompetente Entwickler, um die Lösung intern zu bauen. Die Entscheidung zur Kooperation mit ti&m sei nicht zuletzt auch aus zeitlichen Gründen gefallen. „Dass wir unseren Investoren eine bereits getestete, funktionstüchtige Lösung zeigen konnten, war uns enorm wichtig.“ Diese Vorgehensweise empfiehlt er daher auch anderen Unternehmern. „Eine Garage ist ideal für Start-ups, die weder die nötige technische Erfahrung noch die nötige Zeit haben, um eine Lösung selber zu entwickeln“, betont Aydin.
Mit dem MVP im Gepäck reiste Aydin im September nach Syrien. Wie er erzählt, hat die Lösung dort „einwandfrei funktioniert“. Im ersten Quartal 2020 soll das Go-live erfolgen. Bis dahin wird die Plattform um weitere Funktionen ergänzt und finalisiert.
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