Künstliche Intelligenz
15.04.2019
Expertise
1. Teil: „Mensch und KI sind ein Dream-Team“

Mensch und KI sind ein Dream-Team

Mensch schüttelt Roboter die HandMensch schüttelt Roboter die HandMensch schüttelt Roboter die Hand
Andrey Armyagov / shutterstock.com
Mensch und Künstliche Intelligenz ergänzen sich sinnvoll. Allerdings wird der Mensch insgesamt immer überlegen sein, auch wenn die KI in einzelnen Bereichen besser trainiert ist.
Dieser Beitrag wurde erstellt von Dr. Thomas Franz, Leiter des Technologiebeirats der adesso AG.
  • Dr. Thomas Franz: Leiter des Technologiebeirats der adesso AG
    Quelle:
    adesso
Sie fährt im dichtesten Stadtverkehr Auto. Sie weiß, welchen Film der Zuschauer als Nächstes sehen will. Sie hat ein besseres Auge für die Diagnose von Hautauffälligkeiten als Top-Mediziner. Sie schlägt Großmeister im Schach und sogar in dem noch komplexeren Spiel Go. Und sie erkennt die Lieblingskatze auf den Urlaubsschnappschüssen. Wer die Schlagzeilen der letzten Wochen und Monate verfolgt hat, muss unweigerlich zu dem Schluss kommen: Egal bei welchem Thema Künstliche Intelligenz (KI) ins Spiel kommt - schon nach kurzer Zeit liefert sie bessere Ergebnisse als die menschlichen Experten.
Dieser Eindruck geht allerdings an der Realität vorbei. Denn die Fertigkeiten der KI-Anwendungen beschränken sich bislang auf ein enges Handlungsfeld. Das System im autonom fahrenden Auto kann nichts über den Filmgeschmack der Passagiere sagen. Das KI-gestützte bilddiagnostische Verfahren zur Krebserkennung kann eine Katze nicht vom Eiffelturm unterscheiden: KI-Lösungen liefern in einem klar umrissenen Kontext Ergebnisse, und das teilweise mit großer Präzision und günstiger oder schneller als das, was Menschen leisten.
Die Experten geben den Kontext vor, für den sie die KI trainieren. Sie prägen eine KI maßgeblich, zum Beispiel durch die Informationen, die sie für ein Training selektieren.
Menschen hingegen sind flexibel und können sich in neue Situationen einarbeiten. Wissen aus Gebiet A übertragen sie intuitiv auf Gebiet B. Sie liefern in einem breiten Spektrum von Aufgaben Ergebnisse. Dies mit großer Kreativität. Wenn Mensch und KI ihre jeweiligen Stärken in die Problemlösung einbringen, entstehen Ergebnisse, die eine Seite alleine nicht erreichen kann.
2. Teil: „Die Künstliche Intelligenz“

Die Künstliche Intelligenz

  • Spezialisten: KI-Anwendungen verfügen typischerweise über fachliche Breite oder fachliche Tiefe.
    Quelle:
    adesso
Für diesen Beitrag soll KI definiert werden als Systeme, die automatisch beziehungsweise selbstständig Entscheidungen treffen und auf Input wie beispielsweise Bild, Text oder Sprache reagieren können. Von der Routenplanung über automatische Übersetzungen bis zum Social-Media-Nachrichtenstrom: Im Hintergrund werkeln, oftmals unbemerkt vom Anwender, KI-Technologien. Bei allen Unterschieden im Detail lassen sich die Lösungen unter anderem anhand von zwei Dimensionen unterteilen, die im Zen­trum der Fragestellung „Fähigkeiten von Mensch und KI“ stehen: fachliche Tiefe und fachliche Breite.
Zwei Beispiele verdeutlichen die unterschiedlichen Dimensionen. Auf der einen Seite die Suchmaschine. Künstliche Intelligenz liefert Ergebnisse für jede denkbare Anfrage: ob Hollywood-Blockbuster oder klassische Oper, ob Fast-Food-Restaurant oder Gourmet-Tempel - jeder Suchende wird fündig. Sie findet relevante Texte, die zu einer zuvor definierten Menge von Schlüsselwörtern passen. Die Funktionsweise ist übertragbar auf alle Arten von Texten, unabhängig von speziellen fachlichen Inhalten. Aber: Eine Suchmaschine kann eine Antwort nicht aus der Kombination von Informationen verschiedener Webseiten herleiten. Die Auskunft auf die einfache Frage, wie viele Artikel zum Thema KI eines bestimmten Autors im Jahr 2018 veröffentlicht wurden, bleibt sie schuldig. Eigentlich müsste sie nur die KI-Artikel des Autors finden und zählen. (Exkurs: Die Suchmaschinenanbieter arbeiten daran, mehr und mehr solcher Funktionen als Add-on einzubauen. Heute nutzen Anwender KI für einfache Rechenaufgaben, Konvertierungen, Übersetzungen und andere Funktionen.)
Entsprechend gehören Suchmaschinen in die Kategorie der fachlich breiten, aber inhaltlich oberflächlichen KI-Anwendungen.
Auf der anderen Seite gibt es das KI-System, das zum Beispiel in einer Versicherung die Eingangskorrespondenz prüft. Die KI findet in unstrukturierten Informationen die relevanten Angaben zum Bearbeiten eines Kfz-Versicherungsfalls. Wo in dem Schreiben des Anwalts steht die Adresse des Versicherten, die Vertragsnummer und die Schadenssumme? Welche sind die schadensrelevanten Informationen, die im Fließtext gegebenenfalls verklausuliert genannt sind?
Experten trainieren das System, indem sie ihm anhand von zahlreichen Datensätzen zeigen, welche Informationen relevant sind und wo diese in Texten zu finden sind. Die KI interpretiert und ordnet Schreiben zu Schadensfällen hinsichtlich fachlich spezifischer Merkmale. Das leistet sie ausschließlich für die Sparte Kfz. Für den Bereich Hausrat müsste die Versicherung ein neues System aufsetzen und trainieren. Die KI-Anwendung für Kfz-Versicherungen ist also spitz hinsichtlich der fachlichen Breite. Sie ist jedoch tief hinsichtlich der Fachlichkeit, zu der sie Entscheidungen treffen kann.
Existierende KI-Anwendungen lassen sich in dieses Schema einordnen. Fachliche Tiefe UND Breite ist außer Schlagweite der aktuellen technischen Möglichkeiten. Die Kombinationen von fachlicher Tiefe und Breite werden heute - wie am Beispiel der Suchmaschinen angedeutet - höchstens durch die Kombination mehrerer unterschiedlicher KI-Systeme erreicht. Eine KI, die verschiedene KI-Systeme sinnvoll und gegebenenfalls kontextspezifisch miteinander kombinieren kann, ist nicht bekannt.
3. Teil: „Der Mensch“

Der Mensch

  • Allrounder: Menschen bringen fachliche Breite und fachliche Tiefe mit und übertragen Wissen auf verwandte Bereiche.
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    adesso
Im Gegensatz dazu sind Menschen Alleskönner. Gerade in neuen Situationen spielen sie ihre Stärken aus. Denn Menschen bringen von Natur aus die Fähigkeit mit, die Herausforderung fachlicher Breite und Tiefe zu meistern - sogar wenn die Umstände neu sind.
Der Sachbearbeiter in der Kfz-Schadensbearbeitung erkennt die Kerninformationen eines Anwaltsschreibens auf einen Blick und kann die Daten ins IT-System übertragen. Er überträgt sein Fachwissen schnell auf artverwandte Bereiche wie beispielsweise Lebensversicherungen. Als Fußballfan referiert er aber auch über die Ergebnisse der letzten drei Spieltage und die aktuellen Trainerwechsel. Nebenbei weiß er noch, wie das Wetter ist, wie die Hauptstadt von Spanien heißt und wer der erste Mensch auf dem Mond war. Und er erkennt die Katze auf dem Foto. Autofahren und Schachspielen kann er natürlich auch - dazu muss er kein Motorsportheld oder Großmeister sein. Er beherrscht all diese Dinge, die jeder jederzeit parat hat, in einem Maße, das für das tägliche Leben völlig ausreicht.
Menschen liefern in komplexen Situationen gute Ergebnisse. Damit ist nicht zwingend eine komplexe Fachlichkeit gemeint. Auch Prozesse, die aus vielen Einzelschritten bestehen, können herausfordernd sein. In all diesen Situationen bewähren sich Menschen. Sie kommen mit wiederkehrenden Aufgaben klar, arbeiten sich aber schnell in neue Situationen ein und entwickeln Lösungsstrategien. Wenn die Datenlage dünn ist, spielen Bauchgefühl und Intuition ihre Stärken aus.
Menschen sind keine Alleskönner im Sinne des hier genutzten Modells. Aber sie sind gut darin, zwischen Aufgaben zu wechseln, Wissen von einem Bereich in einen anderen, auch völlig fremden, zu übertragen und komplexe Probleme anzugehen.
4. Teil: „Der Mensch und die KI“

Der Mensch und die KI

Der Mensch als Alleskönner ist der KI in Bezug auf die fachliche Breite und Tiefe überlegen. Trotzdem übertrumpfen KI-Anwendungen in Wettbewerben - von der Bilderkennung bis zum Go-Spiel - immer wieder die Leistungen der menschlichen Kontrahenten. Wenn es um den Umgang mit großen Datenmengen geht, sind KI-basierte Ansätze überlegen. Ob das Berechnen von Kaufwahrscheinlichkeiten oder Prognosen für Maschinenausfälle: Wenn Tausende Faktoren eine Rolle spielen und in Abhängigkeit zueinander stehen, kommen Menschen an ihre Grenzen. KI-Anwendungen helfen in diesem Umfeld.
Hinzu kommt die bessere Prozessorleistung von KI-Anwendungen. Sie führen Berechnungen schnell und in gleichbleibender Präzision über einen beliebig langen Zeitraum durch. Während der menschlichen Konzentration Grenzen gesetzt sind, betrachtet ein KI-System das hunderttausendste Bild so aufmerksam wie das erste.
Auch Kostenvorteile sprechen in einigen Einsatzszenarien für den Einsatz von KI-Anwendungen. Ein Chatbot auf der Webseite einer Versicherung kann beliebig viele Anfragen parallel bearbeiten. Ein Servicemitarbeiter kümmert sich in der gleichen Zeit um einen Kunden.
Erfindungen sorgen dafür, dass Menschen bestimmte Arbeiten nicht mehr verrichten müssen oder effizienter arbeiten können. Das trifft auf Sprache, Rad oder Dampfmaschine zu. Mit KI verändert sich nun der Aufgabenbereich „Entscheidungen“. Menschen definieren jetzt ihre Rolle im Zusammenspiel mit Technologie wieder neu.
Aufbauend auf dieser Herleitung liegt das Verteilen der Tätigkeitsbereiche zwischen Mensch und KI auf der Hand. Es gilt, die jeweiligen Kernkompetenzen von Menschen - Allrounder und Löser komplexer Probleme - und KI - schnell, skalierend, universell oder spezifisch einsetzbar - zu kombinieren. So entsteht ein schlagkräftiges Team, dessen gemeinsame Leistungen die jedes einzelnen Teiles übertreffen.
Dass dies keine theoretische Idee ist, zeigen etablierte Formen dieser Zusammenarbeit im Alltag. Bei jeder Internetrecherche arbeiten Mensch und KI zusammen - und bringen ihre Stärken in den Prozess ein. Eine breite KI bewertet die Relevanz der vorhandenen Suchergebnisse und listet diese entsprechend auf. Der Mensch betrachtet diese Ergebnisse mit seinem spezifischen, tiefen Fachwissen. Er verknüpft Informationen, zieht Schlüsse und bildet sich eine Meinung. Ohne die Vorauswertung durch die KI, die weniger relevante Informationen ausschließt, würde der ganze Prozess länger dauern.  
Ein anderes Beispiel erläutert das Zusammenspiel des Menschen mit zwei unterschiedlichen KI-Konzepten. Anwender setzen wie selbstverständlich die Spracheingabefunktionen von Smartphones oder Geräten wie Amazon Echo und Google Home ein. Sie erstellen damit E-Mails und Notizen oder steuern Geräte. Zwei unterschiedliche KI-Konzepte wandeln die aufgenommenen Töne in Informationen um, die automatisch in die Arbeitsprozesse des Anwenders einfließen: Eine breite KI transformiert das Audiosignal in Texte - und das ohne Verständnis des Inhalts. Diese Texte nutzt eine tiefe KI für das Ausführen von Aktionen, beispielsweise das automatische Anlegen eines Eintrags im Kalender. Die KI erkennt die Namen der anderen Teilnehmer und lädt sie ein. Darüber hinaus erfasst die Anwendung, über welchen Kunden das Team in dem Termin sprechen will. Entsprechend verknüpft sie die Kalendereinladung mit dem CRM-Datensatz des Kunden.
Um die Argumentation zu vereinfachen, bildet das hier verwendete Modell nur die beiden Dimensionen fachliche Breite und fachliche Tiefe ab. Darüber hinaus sind weitere Kriterien zum Unterscheiden von Fähigkeiten denkbar, beispielsweise die Häufigkeiten bestimmter Aufgabentypen, die Menge an Aufgabentypen oder Ähnlichkeit von Aufgaben. Für die differenziertere Betrachtung von KI-Mensch-Einsatzszenarien ist es notwendig, weitere Parameter ins Kalkül zu ziehen.
5. Teil: „Neue Jobs erfordern Flexibilität “

Neue Jobs erfordern Flexibilität

Was bei der Beschreibung von Produktionsprozessen normal wirkt, klingt bei intellektuellen Aufgaben noch seltsam: die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine (beziehungsweise Künstlicher Intelligenz). Jahrzehnte des Einsatzes von Robotern in Fabrikhallen haben mit sich gebracht, dass sich Betrachter nur wenig Gedanken darüber machen, ob die Maschinen jetzt in ureigene Domänen des Menschen eindringen. Der Roboter hebt schwere Werkstücke problemlos hoch, deswegen übernimmt er das. Der Mensch kann Schwankungen in getakteten Prozessen flexibel ausgleichen, deswegen übernimmt er das.
Auch die IT-Systeme, die in Unternehmen und Haushalte eingezogen sind, stellen keinen Angriff auf das menschliche Selbstverständnis dar. Die Textverarbeitung erleichtert das Schreiben von Texten - sie textet nicht. Die CRM-Lösung hilft dabei, Marketingkampagnen umzusetzen - sie entwickelt keine kreativen Konzepte. Jetzt allerdings wendet sich das Blatt in einigen Bereichen, doch ist das kein Grund zur Panik: Der Mensch bringt ein Set an Kompetenzen und Fertigkeiten mit, das KI-Anwendungen auf absehbare Zeit nicht kopieren können. Künstliche Intelligenz, integriert in Tätigkeitsbereiche und Prozesse, sorgt dafür, dass Menschen Aufgaben schneller, präziser und mit besseren Ergebnissen erledigen können.
Die Verantwortlichen müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen ihre Stärken ausspielen. Faktenwissen verliert angesichts der ständigen Verfügbarkeit von Informationen an Wert. Die Bedeutung von Fähigkeiten wie Krea-tivität, Methodenwissen oder dem Erbringen von Transferleistung steigt. Dies sollte im Fokus von Aus- und Weiterbildung stehen.
Anforderungen und Jobbeschreibungen ändern sich. Aber das, was Menschen einmalig macht, ist auch in Zukunft gefragt. Spätestens beim Small Talk an der Kaffeemaschine, aus dem die nächste große Produktidee entsteht, ist jede KI-Anwendung hoffnungslos unterlegen.

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