Big Data
29.11.2021
Data-driven Commerce

Die Kunden verstehen und begeistern

Shutterstock / Billion Photos
Datenanalysen sind ein probates Mittel, um Kunden zu gewinnen und zu halten. Doch auf dem Weg zu einem datengetriebenen Handelsunternehmen liegen viele Herausforderungen.
Fleisch, Fisch oder Meeresfrüchte – die Disposition von Frischeprodukten stellt für Supermarktketten eine besondere Herausforderung dar. Entscheidend ist, dass sie ihren Kunden in jeder Filiale jeweils die richtige Menge davon zur Verfügung stellen. Eine wichtige Rolle spielt hier die automatisierte Disposition auf Basis genauer Absatzprognosen. Damit lassen sich kostspielige Über- oder Unterbestände verhindern, Leerverkäufe werden vermieden und das Sortiment ist stets verfügbar. Neben unternehmensinternen Daten beziehen die Supermarktketten auch wichtige Einflussfaktoren wie Sonder­aktionen, Feiertage oder das Wetter mit ein. Denn es gilt: Je wärmer es ist, umso häufiger wird gegrillt und umso mehr Frischfleisch wird beispielsweise verkauft.
Der bedarfsgerechte Einkauf von Waren auf Basis von Datenanalysen ist ein Beispiel für Data-driven Commerce. Ein weiteres häufiges Anwendungsszenario ist Churn-Management, sprich der Versuch, die Abwanderung von Kunden zu vermeiden. KI-gestützte Datenmodelle sagen dann etwa bei Telekommunikations-Unternehmen die Kündigungswahrscheinlichkeit voraus und identifizieren Kunden mit einem potenziell höheren Abwanderungsrisiko. Vertrieb und Marketing können dann im Zusammenspiel reagieren und beispielsweise Kampagnen gezielter ausrichten oder Rabatte und andere Incentives anbieten, um die entsprechenden Kunden zu halten.

Was ist Data-driven Commerce?

Data-driven Commerce scheint derzeit eines der wichtigsten Themen im Handel zu sein. Der Begriff bedeutet viel mehr als auf Kennzahlen gestützter Handel. Denn durch die Digitalisierung sammeln Unternehmen jetzt in allen Phasen des Einkaufsprozesses (Customer-Journey) eine Unmenge an Daten. Die Kunden geben hier viele Informationen preis, die Firmen für die Kundenbindung analysieren und nutzen können.
„Data-driven Commerce ist ein Sammelbegriff für verschiedene Themen, die darauf ausgelegt sind, aus Daten Wissen zu erzeugen und Umsätze zu generieren. Ziel auf Vertriebsseite ist es, den Kunden zum richtigen Zeitpunkt das richtige und individuell passende Angebot zu unterbreiten“, erklärt Martin Böhn, Vice President of Enterprise Applications & related Services beim Analystenhaus BARC. Dazu sei Wissen über die Kunden und ihre Interessen notwendig, über das eigene Portfolio sowie die Zusammenhänge für Angebote von ergänzenden Produkten und Leistungen, so Martin Böhn.
Laut Ulrich Hatzinger, Leiter des Presales-Teams beim Datenanalyse-Spezialisten Tibco, setzt die personalisierte Ansprache der Kunden eine Auswertung der kanalübergreifend gesammelten Daten in Echtzeit voraus. „Nur dann ist es möglich, die Interaktion mit den Kunden zu optimieren und zu automatisieren mit dem Ziel, die Kundenzufriedenheit zu erhöhen und so den eigenen Marktanteil auszubauen. Das gilt sowohl für B2C als auch für B2B.“
Beispiele für Data-driven Commerce
Die Analyse von Daten bietet dem Einzelhandel viele Vorteile. Hier eine Auswahl möglicher Anwendungsszenarien:
  • Analyse des Kundenverhaltens: Wie lange haben Kunden welche Seite besucht? Welche Inhalte haben sie angeklickt?
  • Profilierung von Kundengruppen: Welche Kunden schauen sich welche Produkte wie lange an? Daraus ergibt sich auch die Chance, die künftige Kollektion auf den Geschmack bestimmter Kundengruppen auszurichten.
  • Dynamische Preisgestaltung: Unternehmen können dank Analytics ihre Preise – auch in Echtzeit – an die aktuelle Markt- und Wettbewerbssituation sowie an Verfügbarkeiten und Lieferbedingungen anpassen.
  • Personalisierte Customer-Journey: Personalisierte und genaue Ansprache mit individuellen Angeboten über alle Kanäle und Touchpoints – das richtige Produkt zum richtigen Zeitpunkt zum richtigen Preis.
  • Optimierte Disposition: Mithilfe von Forecasts oder Absatzprognosen können Firmen Filialen gezielt beliefern und die Lagerhaltung optimieren, um Leerverkäufe zu vermeiden.
  • Next Best Action: Automatisierte Vorschläge für weitere Aktionen, Spezialpreise, ergänzende Angebote, die Art der Kundenansprache (etwa E-Mail oder Telefon) oder die intelligente Steuerung von Online-Kampagnen.
  • Programmatic Advertising: Algorithmen steuern die Interaktion, stellen die jeweiligen Angebote an die Nutzer zusammen und spielen sie zum optimalen Zeitpunkt aus.
  • Churn-Management: KI-gestützte Datenmodelle sagen die Kündigungswahrscheinlichkeit voraus und identifizieren Kunden mit einem potenziell höheren Abwanderungsrisiko. Vertrieb und Marketing können dann beispielsweise Kampagnen gezielter ausrichten, um Kunden weiter an sich zu binden.

Corona verändert die Lage

Ein wesentlicher Treiber für den Trend zu Datenanalysen im Handel war und ist die Corona-Pandemie. Die Umsätze im Internethandel gingen im vergangenen  Jahr durch die Decke, da Kunden verstärkt online einkauften. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Die Corona-Pandemie forciert die Digitalisierung und verändert damit auch die Customer-Journey, also den Weg, den ein Kunde vom ersten Kontakt über den Kauf oder Vertragsabschluss bis hin zum Service nimmt. Gerade beim Kontakt mit Kunden gilt: Die Nase haben diejenigen Firmen vorn, die über genügend Daten verfügen, die sie verwenden können. Sehr aufschlussreich sind hier die Ergebnisse zweier Studien, die während beziehungsweise nach der ersten Welle der Pandemie erstellt wurden.
Der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) hat im Frühjahr 2020 während der ersten Corona-Welle über
250 Manager aus unterschiedlichen Branchen inklusive Handel befragt, wie sie Daten in ihren Geschäftsmodellen nutzen. Das Ergebnis zeigt, dass im Bereich Data-driven Commerce noch viel Potenzial steckt: Im Handel gaben 57 Prozent der Befragten an, im Marketing- oder Verkaufsprozess ohne externe Daten zu arbeiten. Jeder zweite Händler (50 Prozent) war sich nicht sicher, wie er datengetriebene Methoden für sein Geschäft nutzen kann. Hier ist laut BVDW der Gesetzgeber gefordert, klar zu benennen, inwieweit die Nutzung und Verdichtung nicht personenbezogener Daten tatsächlich erlaubt ist.
Ein etwas anderes Ergebnis zeigt die Studie „Digitalisierungsindex Mittelstand 2020/2021“, für die Techconsult im letzten Quartal 2020 mehr als 2000 kleine und mittelständische Unternehmen befragte – das heißt nach der ersten und während der zweiten Corona-Welle. Demnach setzen viele Händler auf Daten, um Produkt­sortiment und Angebote eng an den Bedürfnissen ihrer Kunden auszurichten: 82 Prozent der Handelsunternehmen analysieren regel­mäßig Geschäftsdaten, Kundendaten sowie Produkt- und Lieferantendaten, um Portfolio und Kundenansprache zu optimieren.
Damit zählt der Handel im Branchenvergleich (durchschnittlich 76 Prozent) zu den digitalen Vorreitern. Viele Handelsunternehmen sind demnach auch in den sozialen Netzwerken präsent, um Produkte und Angebote zu präsentieren. Ein Drittel der Händler wertet daraus resultierende Daten bereits aus. 26 Prozent der Handelsbetriebe, die Datenanalysen einsetzen, nutzen deren Potenzial zum Cross- und Upselling.
Kennzahlen beim Data-driven Commerce
Für Data-driven Commerce gibt es mehrere Kennzahlen. Hier eine Auswahl:
  • Net Promoter Score: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Kunde ein Unternehmen, seine Produkte und Services weiterempfiehlt?
  • Customer Satisfaction Score: Diese Kennzahl zeigt die Zufriedenheit der Kunden mit allen relevanten Aspekten des Produkts oder der Dienstleistung eines Unternehmens.  
  • Verweildauer auf der Website
  • Bounce Rate: Absprungrate als Anteil an Besuchen auf der Website mit nur einem einzelnen Seitenaufruf.
  • Conversion Rate: Ermittelt den prozentualen Anteil der Kaufinteressenten, die bei dem Besuch einer Webseite zu Käufern werden oder eine bestimmte Aktion ausführen.
  • Customer Effort Score: Wie viel Aufwand muss ein Kunde betreiben, um ein bestimmtes Problem zu lösen oder eine Antwort auf eine Frage zu bekommen?
  • First Call Resolution: Der Wert gibt an, wie gut Agenten Kundenanfragen im ersten Anlauf lösen können – das muss nicht nur der Call sein.
  • Reklamationsquote
  • Customer Churn Rate: Die Kundenabwanderungs-Rate bezieht sich auf Kunden, die nicht wiederkommen oder einen wiederkehrenden Service stornieren.

Viele Einsatzszenarien

Natürlich wurden für die beiden Studien verschiedene Firmen befragt und die Ergebnisse sind nicht repräsentativ – sie zeigen aber den Trend, dass Corona auch das Thema Data-driven Commerce beflügelt. Die Analyse von Daten bietet dem Einzelhandel in der Tat viele Vorteile in mannigfaltigen Anwendungsszenarien. Ein einfaches Beispiel ist die Analyse des Verhaltens und der Verweildauer von Besuchern auf der Website: Wie lange haben sie welche Seite besucht? Welche Inhalte haben sie angeklickt? Oder haben sie sogar persönliche Daten und ihre E-Mail-Adresse hinterlassen, ein Formular ausgefüllt, einen Gutschein eingelöst oder im Online-Shop ein Produkt bestellt?
„Händler können dieses individuelle Kundenprofil mit jeder dokumentierten Interaktion Schritt für Schritt verfeinern und so auch voraussagen, was Besucher interessieren könnte. Oder ich kann dann passendes Zubehör anbieten im Sinne von ‚Dinge, die zusammen gekauft werden‘“, erklärt Ulrich Flamm, Industry Director Retail, Consumer Products & Chemicals beim Service-Management-Unternehmen ServiceNow. „Zudem lassen sich auch komplette Kundengruppen profilieren. Welche Kunden schauen sich welche Schuhe oder welches T-Shirt wie lange an? Daraus ergibt sich auch die Chance, die künftige Kollektion auf den Kundengeschmack auszurichten.“
Genauso gut ist es möglich, Kunden einen Rabatt oder einen Gutschein anzubieten, wenn sie wiederkommen, nachdem sie auf einer Website den Kauf eines Produkts abgebrochen haben. Diese personalisierte und genaue Ansprache mit individuellen Angeboten ist einer der großen Pluspunkte von Data-driven Commerce. Welcher Kunde ist für welche Leistung empfänglich? „Wenn ich weiß, dass ein Kunde ein großer Fußballfan ist, kann ich ihm etwa im Vorfeld einer EM oder WM beispielsweise ein TV-Gerät oder einen Beamer anbieten. Das ist natürlich nur ein sehr einfaches Beispiel, echte Modelle sind genauer und spannender“, sagt Martin Böhn. „Über Next Best Action lässt sich dieser Prozess gut steuern. Das System schlägt hier den nächsten Schritt für die weitere Vorgehensweise automatisiert vor. Das kann das Angebot eines bestimmten Produkts sein, ein Spezialpreis oder die Art und Weise der Kundenansprache, etwa per Mail oder Telefon.“
Kathrin Schwan
Managing Director bei Accenture im Bereich Applied Intelligence
Mathias Gehrckens
Managing Director Retail bei Accenture
Accenture
„Beim Thema Data-driven besteht großer Nachholbedarf im Handel“
Kathrin Schwan ist Managing Director im Bereich Applied Intelligence bei dem Beratungsunternehmen Accenture, Mathias Gehrckens ist dort Managing Director Retail. Im Doppelinterview mit com! professional zeigen sie, welche Fallstricke sich beim Data-driven Commerce ergeben und worauf Firmen bei der Implementierung von Lösungen achten sollten.
com! professional: Frau Schwan, Herr Gehrckens, Data-driven Commerce ist ein Buzzword. Und wie so oft sammeln sich unter einem Begriff unterschiedliche Definitionen. Was verstehen denn Sie persönlich unter Data-driven Commerce?
Kathrin Schwan: Data-driven Commerce ist die rein auf Daten basierende Interaktion mit Nutzern mit dem Ziel, diese Nutzer als Kunden zu gewinnen oder, sofern es sich bereits um Kunden handelt, diese an sich zu binden. Wichtiger Teil des Data-driven Commerce ist etwa Programmatic Advertising. Hier steuern Algorithmen die Interaktion, stellen die jeweiligen Angebote an die Nutzer inklusive des Werbebannerdesigns und der Werbebotschaft zusammen und spielen sie zum optimalen Zeitpunkt aus. Optimiert werden diese Algorithmen über die Daten aus der Nutzerinteraktion, also etwa Klicks oder Verkäufe der angebotenen Produkte. Zudem geht es darum, mithilfe der Datenanalyse Prozesse zu optimieren.
com! professional: Welche Vorteile bietet Data-driven Commerce? Beschreiben Sie bitte ein oder zwei Anwendungsbeispiele, die zeigen, wie Firmen von Data-driven Commerce profitieren.
Kathrin Schwan: Ein wichtiges Beispiel ist die Personalisierung. Ziel ist es, für jeden Nutzer bei jeder Interaktion die passenden Angebote mit der Art der Ansprache zu kombinieren, die seinen/ihren individuellen Vorlieben und Bedürfnissen entspricht. Diese personalisierte Kommunikation basiert bei Programmatic Advertising ausschließlich auf einer intelligenten Nutzung von Daten aus den Interaktionen zwischen Nutzern und Unternehmen, der menschliche „Filter“ kommt nicht zum Tragen. So ergibt sich für das Unternehmen automatisiert eine unverfälschte Sicht auf die Nutzerpräferenzen. Es wird rein von der Datenlage her entschieden, wie die Kommunikation aussieht. Diese lässt sich dann mithilfe von A/B-Testing immer weiter verfeinern.
Mathias Gehrckens: Ein weiteres wichtiges Szenario für Data-driven Commerce ist eine optimierte Supply-Chain. So werden etwa Artikel oder Produkte mit relevanten KPIs verknüpft. Wenn beispielsweise die Nachfrage nach einem Artikel unter ein bestimmtes Niveau sinkt, wird er automatisiert aus dem Sortiment entfernt. Auch die Disposition lässt sich mittels Forecasts oder Absatzprognosen automatisieren. So können Firmen Filialen gezielt beliefern und die Lagerhaltung optimieren, um Leerverkäufe zu vermeiden.
com! professional: Wie können sich Handelsfirmen gut auf Data-driven Commerce vorbereiten?
Schwan: Das hängt von der Ausgangslage und der Zielsetzung des jeweiligen Unternehmens ab. Am Anfang stehen Fragen wie: Wie ist die aktuelle Situation? Wo stehen wir zum Beispiel im Hinblick auf nutzbare Daten, unsere analytischen Fähigkeiten und unsere technische Plattform? Wo wollen wir hin? Welche Use-Cases kommen für uns jetzt und mittelfristig infrage? Hier kann ein externer Dienstleister unterstützen, etwa das notwendige Know-how über Data Scientists anbieten oder eine Plattform für Testversuche sowie fertige Use-Cases als Demo bereitstellen, und so den Weg zur wertschöpfenden Nutzung von Data-driven Commerce beschleunigen. Ein Anwendungsfall ist beispielsweise „Next Best Action“ mit Vorschlägen für weitere Aktionen, ergänzende Angebote oder die intelligente Steuerung von Online-Kampagnen.
Zudem stellen wir den Firmen Daten zur Verfügung, mit denen sie die hausinternen Datenbestände sinnvoll ergänzen können, um mehr aus Data-driven Cmmerce herauszuholen. Dazu gehören im Bereich Geolocation-Koordinaten etwa zu U-Bahnen und Parkplätzen oder Informationen zu umliegenden Geschäften und Unternehmen oder der sogenannte Footfall, also die Nutzerdichte zu bestimmten Zeiten. Wir entwickeln gemeinsam mit unseren Kunden passende Use-Cases für die jeweiligen technischen Plattformen und zeigen, welche Parameter sich bei der KI-basierten Datenanalyse wie auswirken.
Gehrckens: Bei den Use-Cases ist entscheidend, mit wem Sie sprechen. Kommt eine Abteilung mit einer konkreten Aufgabe oder Anforderung auf Sie zu, geht es darum, den entsprechenden Use-Case zu optimieren. Auf einer strategischen Ebene sollte sich ein Unternehmen fragen: Welche Use-Cases sind für mein Geschäft besonders relevant und zu priorisieren? Es geht darum, einen Nordstern als Zielpunkt der Entwicklung vorzugeben. Anschließend folgt die Auswahl der für die Anwendungsfälle notwendigen Daten. Hier müssen viele Firmen oft erst die Datenvoraussetzungen schaffen. Beim Thema Data-driven sehen wir noch großen Nachholbedarf beim Handel, sowohl am Frontend bei der Kundenansprache als auch im Backend mit der Optimierung und Automatisierung von Prozessen.
com! professional: Welche Fallstricke und Herausforderungen sehen Sie beim Thema Data-driven Commerce?
Gehrckens: Der erste Punkt betrifft die Organisation. In vielen Firmen fehlt beim Thema Data-driven die Governance, sprich es gibt keine Strategie über alle Abteilungen hinweg. Die Aktivitäten laufen oft unkoordiniert ab und sind voneinander isoliert. Unternehmen starten zudem mehrere Use-Cases parallel, setzen aber keinen davon richtig um. Besser ist es, pragmatisch in kleinen Schritten vorzugehen. Das heißt: Sie starten in einem kleinen Team mit einem ein­fachen, überschaubaren Use-Case, der sich schnell mit Erfolg umsetzen lässt. Ein sehr häufiges Einstiegsszenario ist etwa der Use-Case „Next Best Action“. Anschließend folgt der nächste, größere Schritt. Wichtig ist bei den Projekten immer eine klare Zieldefinition.
Eine weitere große Herausforderung ist das Thema Datenqualität. Der mit Abstand größte Aufwand in den Projekten fällt für die Pflege und Aufbereitung der Daten für die Analyse an. Zudem sollten Firmen auf gemischte Projektteams mit Vertretern aus den Fachabteilungen, der IT und Data Scientists setzen. Das Zusammenspiel dieser drei Gruppen bildet die Basis für den Erfolg von Data-driven Commerce.
com! professional: Wie muss eine gute technische Infrastruktur für die schnelle Datenanalyse beschaffen sein?
Schwan: Hier ist die Datenaufbereitung zentral. Oft fangen Firmen mit Batch-Daten an, bevor sie APIs für den automatisierten Datentransfer einsetzen. Ziel ist eine dedizierte Analytics-Plattform in der Cloud, die Daten aus allen anderen Systemen zusammenführt und die Ergebnisse der Analyse verständlich visualisiert. Das Tool sollte einfach zu bedienen sein und sich für die Nutzer der Daten im Endeffekt wie eine Suchmaschine anfühlen.
com! professional: Data-driven Commerce erfordert den Abbau von Datensilos und eine zentralere Steuerung, Stichwort Data Governance. Inwieweit wirkt sich das auf die Organisationsstrukturen in Unternehmen aus?
Schwan: Wir empfehlen unseren Kunden eine Hub-and-Spoke-Organisation mit einem Zentrum, das mit den dezentralen Standorten verbunden ist. Die zentrale Steuerung übernimmt ein Center of Excellence (CoE), das sich permanent mit den Fachabteilungen austauscht und Best Practices sowie Standards vorgibt: Wer darf wie auf die Daten zugreifen? Wer darf die Daten verändern oder lesen? Hier ist auch das C-Level involviert. Die Mitarbeiter des CoE sitzen teilweise lokal in den Regionen oder Domänen wie Marketing oder Supply-Chain.
Diese Organisationsstruktur ist sehr flexibel. Sie kann zeitweise straffer zentral sein mit stärkerer Lenkung durch das Center of Excellence oder den lokalen Satelliten mehr Freiräume bieten. Dann fungiert das
CoE eher als Hüter der Konventionen oder als Ort für Schulungen und Weiterbildung. Letztendlich muss sich das CoE für Data-driven Commerce rechnen, KPIs sind Umsatz und Gewinn.
Die Teams sollten nie kleiner als fünf Leute sein, ideal sind zehn Mitglieder als Startgröße mit Experten für Data Engineering, Data Science, Visualisierung, Reporting und Compliance sowie aus der IT-Abteilung und den Business- und Fachabtei­lungen.
com! professional: Welche Lösungen eignen sich denn für Data-driven Commerce?
Gehrckens: Jedes Unternehmen verfügt über eine Legacy-In­frastruktur und individuelle Prozesse. Daher muss die Lösung für Data-driven Commerce immer zum Kontext der Firma passen. Die Lösungen für diesen Bereich sind noch sehr jung und entwickeln sich stetig weiter. Wer Use-Cases schnell umsetzen will und wenig Leute mit Daten-Skills im Haus hat, setzt meist auf eine Standardlösung. Firmen hingegen, die sich vom Wettbewerb differenzieren wollen, sollten eine eigene Lösung entwickeln. Um diese Lösungen zu bedienen, benötigen die Mitarbeiter entsprechende Skills, um mit den Daten wertschöpfend arbeiten zu können. Hier sind oft Fortbildungen, Coaching und Changemanagement notwendig, da die Einführung datengetriebener Use-Cases eine große Veränderung in Unternehmen darstellt.

Business-Case schon beim Start

Doch wie können sich Handelsfirmen auf Data-driven Commerce vorbereiten? Welche Vorgehensweise empfiehlt sich bei der Implementierung? Neben der technischen Infrastruktur für die effiziente Analyse von Daten geht es zunächst darum, die eigenen Anforderungen zu klären mit Fragen wie: Was will ich erreichen? Welche Daten, welche Prozesse sind betroffen? Welche Datenquellen müssen wir integrieren? Wie soll die Architektur aussehen?
Martin Böhn von BARC rät Firmen hier, zunächst strategische Ziele zu definieren (zum Beispiel 20 Prozent mehr Umsatz) und mit einem einfacheren Anwendungsfall zu beginnen: „Der Use-Case muss klar beschrieben sein, um sich nicht zu verzetteln. Der Fall sollte so gestaltet sein, dass Firmen nicht zu viele Systeme wie Webshop, ERP- oder CRM-Lösung miteinander koppeln müssen. Zudem sollten die notwendigen Daten und Informationen bereits vorhanden sein. Es empfiehlt sich, klein anzufangen und dann in den Folgeprojekten tiefer und breiter zu werden, sprich mehr Kanäle, Produkte oder Kundengruppen einzubeziehen.“
Laut Ulrich Hatzinger von Tibco sollte bei jedem Projekt von Anfang an ein Business-Case stehen mit Zielen wie Kundenzufriedenheit steigern oder Umsatz oder Marktanteile erhöhen: „Sind diese Ziele klar definiert, ist es einfacher, die richtigen und passenden Daten für den jeweiligen Anwendungsfall auszuwählen.“ Hintergrund: Die Daten stammen aus verschiedenen Quellen wie dem CRM- oder ERP-System, Payback, Zufriedenheitsumfragen oder Social Media. Firmen benötigen nicht alle Datentöpfe, sollten aber möglichst schnell und mit möglichst geringem Aufwand auf die Daten zugreifen können.
„Der Zugriff auf die Daten stellt die erste große Herausforderung beim Data-driven Commerce dar, weil die Daten aus unterschiedlichen Quellen stammen und für jeden Use-Case entsprechend zusammengeführt werden müssen. Für die schnelle Bereitstellung ist eine agile Datenarchitektur notwendig. Hier gibt es verschiedene Ansätze mit Data Warehouses, Data Lakes oder auch Datenvirtualisierung beziehungsweise einem Mix aus diesen Methoden“, erklärt Ulrich Hatzinger.
  • Viele Datenpunkte: Die Informationen über Kunden fließen aus verschiedenen Quellen zusammen und lassen sich in Datengruppen zusammenfassen.
    Quelle:
    BDVW

Data Lake vs. Data Warehouse

Kurze Begriffsklärung: Ein Data Lake (Datensee) speichert und verwaltet als zentrales Repository sämtliche Daten aus verschiedenen Quellen in ihrem ursprünglichen Rohformat. Die Daten können strukturiert oder unstrukturiert sein; neben text- oder zahlenbasierten Daten kann der Data Lake auch Bilder, Videos oder andere Datenformate aufnehmen. Roh bedeutet, dass die Daten nicht bereinigt, validiert oder transformiert werden. Es handelt sich wirklich um die Originaldaten im Originalformat.
Dazu Ulrich Hatzinger: „Der zentrale Speicherort erleichtert zwar die Erfassung von Daten und bietet eine hohe Rechenleistung, aber die Herausforderungen an Verfügbarkeit, Aufbereitung und Integration der Daten bleiben. Denn es reicht nicht, Daten in ihrer Rohform zu speichern. Firmen müssen ihre Daten validieren, mit Metadaten ver­sehen, normalisieren oder verknüpfen, um sie in möglichst optimaler Qualität für analytische Aufgaben einsetzen zu können.“
Anders verhält es sich mit dem Data Warehouse, in dem die gespeicherten Daten bereinigt, transformiert, standardisiert, integriert und angepasst werden, um sie meist in SQL-Tabellen zu speichern. Letzteres eignet sich daher auch als Basis für Analysen durch klassische Business-Anwender – nicht nur für Data Scientists. Die Daten sollten na­türlich alle Kriterien für hohe Qualität erfüllen wie Korrektheit, Konsistenz, Vollständigkeit, Aktualität oder Einheitlichkeit. Das kostet viel Zeit und Geld, da es komplexer wird, je mehr Daten integriert werden.
Traditionelle Ansätze wie ETL (Extract, Transform, Load) auf Basis von Data Warehouses oder Data Lakes, bei denen Daten für Analysen zunächst gespeichert und transformiert werden müssen, gelangen mit der wachsenden Anzahl an Datenquellen, Big Data und Cloud-Applikationen sowie den Anforderungen an hohe Agilität und möglichst geringen Zeitaufwand zunehmend an Grenzen.

Agil durch Datenvirtualisierung

Hier kommt die Datenvirtualisierung ins Spiel. Sie bündelt als eine Art Middleware über Konnektoren Daten aus verschiedenen Quellen in einem virtuellen Datenmodell und stellt diese direkt bei der Abfrage zur Analyse bereit. Die Daten werden dabei nicht physisch bewegt und kopiert, sondern bleiben an ihrem ursprünglichen Speicherort, sei es in der Cloud oder auf einer lokalen Storage-Lösung. Das System im Hintergrund kann dabei auch ein Data Lake oder ein Data Warehouse sein.  
Bei der Datenvirtualisierung werden Informationen nicht als physische Kopie gespeichert, sondern stehen virtuell zur Verfügung. Wenn die Datenquelle die Daten nicht schnell genug zur Verfügung stellen kann, dann lässt sich der Zugriff mit einem leistungsfähigen Cache optimieren. In vielen Fällen ist das nicht notwendig, da der Query- Optimizer den effizienten Umgang mit Ressourcen gewährleistet. Die Integration der Daten, also das Laden aus den Zielsystemen und die Aufbereitung, erfolgt zum Zeitpunkt der Abfrage. Das sorgt für die schnelle Verfügbarkeit der Daten und eine agile Datenarchitektur. Neue virtuelle Sichten können innerhalb weniger Minuten zur Verfügung gestellt werden.
„Durch Datenvirtualisierung ist es möglich, relevante Informationen aus verschiedenen Quellen mehr oder weniger in Echtzeit zu integrieren. Die Anwender finden Daten selbst für spezielle Fragestellungen oder Auswertungen für bestimmte Regionen ohne aufwendige Suche, können binnen weniger Minuten die benötigte Sicht auf Daten erstellen und die Ergebnisse visualisieren“, sagt Tibco-Mann Ulrich Hatzinger. Die Datenexperten arbeiten zudem viel effizienter, da sie weniger Zeit für die Aufbereitung der Daten benötigen.
Ein weiterer Effekt: Datenvirtualisierung überwindet Datensilos und schafft eine einheitliche Schnittstelle für alle benötigten Datenquellen. Für die Anwender sieht es so aus wie eine einzelne, einheitliche Datenbank, sie wissen nicht, aus welchem Topf die Informationen stammen. „Es sind keine Datenkopien für die Analyse mehr notwendig, der Bedarf an Speicherplatz sowie der Administrationsaufwand sinken und die Data Governance vereinfacht sich mit der einheitlichen Datenzugriffsschicht für unterschiedliche Systeme“, betont Ulrich Hatzinger.

Erkenntnisse operativ umsetzen

Neben der Datenqualität, der Datenintegration sowie dem schnellen Zugriff auf Daten aus unterschiedlichsten Quellen gibt es beim Thema Data-driven Commerce noch weitere Fallstricke. Häufig werden die Datenquellen unrealistisch eingeschätzt. „Firmen wählen zu viele Datenquellen aus, die nicht zueinander passen; die Quelle ist zu klein für das, was ich haben will. Oder die Daten sind nicht verlässlich, unvollständig oder veraltet“, sagt Martin Böhn.  
Im nächsten Schritt fließen die vorbereiteten Daten in das Datenmodell ein. Hier ist zu beachten: Es gibt viele unterschiedliche Ansätze und Modelle, um aus Daten etwa Prognosen zum Kaufverhalten abzuleiten. Die Palette reicht von klassischen Data-Mining-Methoden wie Clustering oder Regressionsanalyse über Elemente der Spieltheorie bis hin zum maschinellen Lernen. Dazu Martin Böhn: „Welche Methode oder welcher Algorithmus am besten funktioniert, hängt von vielen Faktoren ab, etwa vom Ziel, den Fragestellungen und auch von den Datenmerkmalen. Dann geht es darum, die Modelle, die Datenanalyse und das Training der Modelle in einem immerwährenden Prozess stetig zu verfeinern.“
Am Ende sollten Unternehmen die gewonnenen Erkenntnisse erfolgreich in die Geschäftspraxis übertragen. Führungskräfte treffen auf Basis der automatisierten Prognosen Entscheidungen, die eine bestimmte Zielgröße im Unternehmen verbessern und einen Mehrwert für das Unternehmen stiften. Die Maschine liefert Handlungsemp­fehlungen und beantwortet die Frage: Wie müssen wir handeln, damit ein zukünftiges Ereignis (nicht) eintritt? Ein Beispiel: Ein Supermarkt kann dank der besseren Absatzvorhersage die Warendisposition effizienter gestalten und seine Lager rechtzeitig auffüllen, Fehlmengen senken oder vermeiden – und dadurch im Ergebnis seine Umsätze erhöhen.
„Die verantwortlichen Manager im Unternehmen sollten sich natürlich nicht blind auf die Ergebnisse der Maschine verlassen, sondern die Empfehlung auch mit ihrem Fachwissen und ihrem gesunden Menschenverstand überprüfen und bewerten. Gibt es Sondereffekte? Ein unerwarteter Erfolg etwa bei der Fußball-EM kann den Bierkonsum schnell steigern und die Prognosen übertreffen“, gibt Martin Böhn zu bedenken.  
Implementierung von Data-driven Commerce
Der Einstieg erfordert ein schrittweises Vorgehen:
  1. Business-Case festlegen: Definition eines kon­kreten Ziels mit Kennzahlen, das mithilfe der Datenanalyse erreicht werden soll (etwa Kundenzufriedenheit steigern oder Umsatz erhöhen)
  2. Start mit einem kleinen und überschaubaren Anwendungsszenario
  3. Daten vorbereiten: Auswahl der für das Ziel re­levanten Datensätze mit einer garantiert hohen Datenqualität
  4. Datenmodell aufbauen: Auswahl geeigneter Verfahren und Methoden und Aufbau eines KI-gestützten Datenmodells; Analysemethoden und Modelle werden ständig optimiert und evaluiert, um die Qualität zu verbessern
  5. Integration der gewonnenen Erkenntnisse in die alltägliche Geschäftspraxis
  6. Organisationsstruktur: Abbau von internen Silos und – im Idealfall – Aufbau eines abteilungsübergreifenden Kompetenzzentrums

Changemanagement

Dabei ist auch Changemanagement gefragt. Beim Data-driven Commerce müssen sich etwa Produktentwickler, Vertriebs- oder Marketingmitarbeiter von ihrer herkömmlichen Arbeitsweise zum Teil verabschieden oder sich selbst hinterfragen. „Wenn die Maschine sagt, mit dieser Methodik verkaufen wir 10 Prozent mehr Produkte, sollten die Mitarbeiter das nicht als Kritik an ihrer Person wahrnehmen. Hier entsteht eine neue Art der Interaktion. Entscheidend ist hier Transparenz, damit die Menschen verstehen, wie die Maschine zu dieser automatisierten Entscheidung kommt“, so Martin Böhn weiter.
Ulrich Flamm von ServiceNow sieht als weitere Herausforderung das Thema Data Governance. Da die Daten und Datenquellen immer heterogener werden, sollten Firmen seiner Meinung nach Organisationsstrukturen und Regelwerke aufbauen, die den Umgang mit diesen Daten regeln. „Hier werden neue Rollen ausgeprägt, etwa die des Data Stewards, der sich um die Pflege und die Qualität all dieser Daten kümmert. Außerdem sollten Unternehmen Silos in der Organisation auflösen und Schnittstellen zwischen den einzelnen Abteilungen schaffen, zum einen technisch für den Austausch von Daten, zum anderen personell zum Aufbau übergreifender Omnichannel-Teams“, erläutert Ulrich Flamm.
Noch besser sei der Aufbau eines eigenen Kompetenzzentrums oder einer eigenen Abteilung für das Thema Data- driven mit Mitgliedern aus der IT, den Fachabteilungen und Analytics-Spezialisten wie Data Scientists, so Ulrich Flamm. „Die Leitung dieser Abteilung sollte am besten eine Verbindung zum Business-C-Level aufweisen. Sie brauchen eine übergeordnete Instanz, um Veränderungen beziehungsweise einen Change durchdrücken zu können.“

Fazit & Ausblick

Data-driven Commerce bietet viele Potenziale zur besseren Kundenansprache und zur Stärkung von Umsatz und Kundenbindung. Der Erfolg von Unternehmen wie Amazon oder Zalando beruht auf der Auswertung von Daten. Die beiden Online-Händler wissen, was ihre Kunden wollen, können ihr Sortiment optimieren und ihren Kunden die richtigen Produkte anbieten. Es ist davon auszugehen, dass künftig diejenigen Händler den Markt dominieren beziehungsweise im Wettbewerb bestehen, die das Potenzial der Datenanalyse ausschöpfen und daraus die richtigen Schlüsse für ihr Geschäft ziehen.
Auf dem Software-Markt gibt es natürlich eine sehr große Anzahl an Lösungen, die Firmen beim Aufbau von Data-driven Commerce unterstützen. Das Problem: Die Software-Landschaft ist überaus vielfältig.
Entsprechend schwer fällt die Auswahl. Die Palette reicht dabei von umfangreichen CRM-Tools wie Microsoft Dynamics 365, SAP oder Salesforce bis hin zu Speziallösungen, etwa von Acquia oder Pegasystems, und Software zur Datenvirtualisierung wie Tibco oder Informatica mit Funktionen für Advanced Analytics, die Kundendaten aus unterschiedlichen Quellen aggregieren und analysieren – eine Grundvoraussetzung für funktionierenden Data-driven Commerce.
Für den Start gilt folgende Empfehlung: Firmen sollten mit einem konkreten, überschaubaren Anwendungsszenario anfangen und dann einen Schritt nach dem anderen machen. Wichtig sind zudem die Unterstützung durch das Management und ein passender organisatorischer Rahmen mit einem abteilungsübergreifenden, interdisziplinären Kompetenzteam.

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