13.06.2017
Künstliche Intelligenz
1. Teil: „Industrie 4.0 war gestern“
Industrie 4.0 war gestern
Autor: Michael Kurzidim
Sergey Tarasov / shutterstock.com
Industrie 4.0 ist erst der Anfang. Wie die nächste Digitalisierungswelle aussehen wird, skizziert Rolf Schumann, Global General Manager Platform and Innovation bei SAP, im Interview mit com! professional.
com! professional: Herr Schumann, erzählen Sie uns ihr eindrücklichstes Digitalisierungserlebnis.
Rolf Schumann: Ich stand in München am Bahnhof, und da kommt ein Junge an, so acht bis zehn Jahre, und drückt mit dem Finger auf den Fahrplan, der dort hängt. Natürlich passiert nichts und er dreht sich um und sagt enttäuscht: Mama, der Fahrplan funktioniert nicht.
com! professinal: Schöne Geschichte. Auf Events wie der Hannover Messe Industrie sieht man Machine Learning, den digitalen Zwilling, Robots und automatisierte Produktionsanlagen. Wie kann man das noch toppen? Wohin geht die Reise?
Schumann: Es ist Wahnsinn, was man da sieht. Wir verbinden die physische mit der digitalen Welt, es gibt keine Grenze mehr zwischen den beiden Welten. Wir haben die Maschinen, die Daten produzieren, und zusätzlich den gesamten Datenkontext – alles in Echtzeit. Ich bin optimistisch und glaube, dass der Mensch dadurch trotzdem nicht überflüssig wird. Wenn Sie sich heute eine Fertigungsstraße in der Automobilindustrie anschauen, dann gibt es dort Einheiten, die vollkommen automatisch und autonom produzieren. Wollen Sie aber einen neuen Autotyp produzieren, dann braucht es Menschen, die den Roboter neu justieren.
Die Fortschritte sind enorm: Nehmen Sie den Mitsubishi-Robot und den Schunk-Greifer. Der Greifer besteht aus einer dem Menschen nachgebildeten Hand, die in den Fingern Sensoren eingebaut hat. Angenommen, Sie produzieren Schokolade. Dann kann der Schunk-Greifer mit seinen Sensoren ans Schokoladenstück greifen und anhand der Ströme die Qualität des Nahrungsmittels messen. Sie machen die Qualitätssicherung in Echtzeit während der Produktion am Werkstück. Eine eigene Qualitätssicherungsstufe fällt weg, Produktion/Manufaktur und Qualitätscheck fallen zusammen.
Die Fortschritte sind enorm: Nehmen Sie den Mitsubishi-Robot und den Schunk-Greifer. Der Greifer besteht aus einer dem Menschen nachgebildeten Hand, die in den Fingern Sensoren eingebaut hat. Angenommen, Sie produzieren Schokolade. Dann kann der Schunk-Greifer mit seinen Sensoren ans Schokoladenstück greifen und anhand der Ströme die Qualität des Nahrungsmittels messen. Sie machen die Qualitätssicherung in Echtzeit während der Produktion am Werkstück. Eine eigene Qualitätssicherungsstufe fällt weg, Produktion/Manufaktur und Qualitätscheck fallen zusammen.
com! professinal: Machen wir das nicht heute schon?
Schumann: Nur zum Teil. Der Greifer misst auch die Zeit, die Taktung und lernt durch KI, einzelne Produktionsschritte effizienter auszuführen. Er bemerkt außerdem, wenn der Grip nachlässt und bestimmte Verschleißteile ausgetauscht werden müssen. Ein Roboter kann automatische Belastungstests durchführen und ein Produktionsstück so lange bearbeiten, bis es bricht, und er misst die Parameter kurz vor dem Bruch, die so auf einen baldigen Ausfall hindeuten. Ingenieure erstellen mithilfe dieser Daten Verhaltensprofile für einzelne Maschinenteile, die eine Vielzahl sich verändernder Kenngrößen enthalten und miteinander korrelieren. Damit verändern Sie alle Produktionsprozesse – aus Kostensicht, Effizienzsicht und in Sachen Life Cycle Management. Sie korrelieren Prozesse, Prozesskontexte, Verhalten (von Maschinen und Menschen) und Daten. Diese Dimension blitzt heute gerade erst auf.
2. Teil: „Zukunft der Künstlichen Intelligenz“
Zukunft der Künstlichen Intelligenz
com! professinal: Ist die Künstliche Intelligenz wirklich schon so weit?
Schumann: Über künstliche Intelligenz sprechen wir schon seit 30 Jahren, das ist nichts Neues. Aber bislang war KI nicht finanzierbar und nicht machbar. Heute aber haben wir die superschnellen Rechner, wir haben die Algorithmen und wir haben die Daten. Jetzt gibt es keine Ausrede mehr, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun. Feasibility (Machbarkeit), Affordability (Finanzierbarkeit) und Viability (Wirtschaftlichkeit) heißen die Hürden, die jede neue Technologie überwinden muss. KI ist heute technisch machbar, wirtschaftlich finanzierbar und durch Unmengen von Daten validierbar. Denn ohne ausreichend Daten können Sie kein Deep Learning durchführen, um die KI-Systeme zu trainieren.
com! professional: Können Sie einige Beispiele für praktische Anwendungen nennen?
Früher lief das menügesteuert: für Thunfisch drücken Sie die Taste eins, für Zwiebeln die Taste zwei. Chatgesteuert erfahren Sie aber viel mehr über das, was ihre Kunden wollen, was sie wissen oder noch nicht wissen. Das Interessante: Chat-Robots lernen bei jeder Bestellung und können nach 1.000 Bestellungen einem Kunden sein individuelles Lieblingsmenü offerieren. Es ist unglaublich, was man mithilfe der Algorithmen alles herausfinden kann.
Jetzt nehmen Sie Verhaltensparameter hinzu: Angenommen, eine Kollegin in ihrer sozialen Jogging-Gruppe hat Geburtstag und Sie wollen ihr etwas schenken. Der Algorithmus weiß, wie viel Geld Sie typischerweise für ein Geschenk auszugeben bereit sind. Er weiß auch, welche Artikel sich ihre Kollegin bereits angesehen hat, was ihre Lieblingsfarbe ist und welche Sportartikel Sie sich bereits gekauft hat – und macht ihnen nach diesen Parametern einen Super-Geschenkvorschlag. Bingo!
Jetzt nehmen Sie Verhaltensparameter hinzu: Angenommen, eine Kollegin in ihrer sozialen Jogging-Gruppe hat Geburtstag und Sie wollen ihr etwas schenken. Der Algorithmus weiß, wie viel Geld Sie typischerweise für ein Geschenk auszugeben bereit sind. Er weiß auch, welche Artikel sich ihre Kollegin bereits angesehen hat, was ihre Lieblingsfarbe ist und welche Sportartikel Sie sich bereits gekauft hat – und macht ihnen nach diesen Parametern einen Super-Geschenkvorschlag. Bingo!
3. Teil: „Verhaltensmodelle für den Handel“
Verhaltensmodelle für den Handel
com! professinal: Ich sehe, Machine Learning kann das Verhältnis zu Freunden ganz maßgeblich beeinflussen. Wer KI einsetzt, ist dabei eindeutig im Vorteil.
Schumann: Ja, aber auch im Handel gibt es viele Probleme, die man mit Verhaltensmodellen sehr gut lösen könnte. Zum Beispiel: Wann erhöhen Sie einen Preis, und wann reduzieren Sie ihn? Dafür müssen Sie ihren Warenbestand mit dem Kaufverhalten der Kunden, die sich gerade in ihrem Geschäft befinden, und dem Preisverhalten der Konkurrenz abgleichen. Lassen Sie mich ein einfaches, nicht ganz ernst gemeintes Beispiel erzählen, das den Mechanismus aber ziemlich gut erklärt. Nehmen wir an, ein leitender Angestellter, 40 Jahre alt, geschieden, möglicherweise in Begleitung seiner jüngeren Freundin, betritt nach 18.00 Uhr ein Schuhgeschäft. Dann wissen Sie, dass für diesen Kunden der Preis kaum eine Rolle spielen dürfte und es keine gute Idee wäre, jetzt eine Pricing-Down-Strategie zu fahren.
Maßgeblichen Einfluss auf den Preis hat außerdem die Geschäftsstrategie des Händlers. Möchte er die Kundenbindung stärken, oder möchte er vor allem abkassieren, also möglichst viel in möglichst kurzer Zeit verkaufen? Will er den größtmöglichen Profit mit den High-Volume-Kunden oder lieber alle Kunden möglichst gut bedienen, in Zürich, Amsterdam, Paris oder München? Hier stoßen Sie in eine Dimension vor, die so komplex ist, dass der Mensch sie nicht mehr überblicken kann. Die KI kann das aber schon und gibt ihnen am Samstag um 11.00 Uhr für ein Produkt in einer bestimmten Stadt für eine Kundengruppe, die gerade ihr Geschäft betreten hat, abgestimmt auf ihre Filiale und ihre Geschäftsstrategie eine ganz konkrete Preisempfehlung.
com! professional: Verhaltensmodellierte Algorithmen, die eine Vielzahl von Datenquellen anzapfen, krempeln die Verkaufswelt um. Da sieht die bisher bekannte, alte Empfehlungs-Engine von Amazon wie ein Spielzeug aus.
Meine Prognose lautet: Diejenigen Firmen, die die besten Ingenieure und die besten Verhaltensmodelle haben, werden in Zukunft ganz vorne mitspielen. Die Ingenieure haben das Domain-Wissen und können die Algorithmen bauen. Jedoch sieht für unterschiedliche Firmen der optimale Algorithmus unterschiedlich aus. Er hängt vom Verhaltensmodell (der Produkte und Mitarbeiter), von der Firmenstrategie und davon ab, wie ihre Firma mit ihren Kunden umgehen will.
Nur Lionel Messi kann KI noch schlagen
com! professional: Machen das die Walmarts und die Migros dieser Welt nicht schon?
Schumann: Die großen Ketten führen heute Warenkorbanalysen durch, um herauszufinden, wer wann welche Produkte kauft. Und sie beobachten den Wettbewerb. Ein junger Trend ist der Shop im Shop, etwa ein Blumen- oder Schokoladengeschäft. Schokolade und Blumen verkaufen sich immer. Entweder hatte der Kunde einen schlechten Tag und kauft die Blumen als Geschenk für seine Frau, um den Abend zu retten. Oder aber der Einkauf war erfolgreich und der Kunde nimmt die Blumen oder die Schokolade als Mitbringsel noch obendrauf. Mit Datenanalysen und Verhaltensmodellen können Sie beides steuern. Im Maschinenbau oder beim Transport läuft das ähnlich ab. Bei der italienischen Bahngesellschaft TrenItalia hat SAP die Wertschöpfung um 40 bis 50 Prozent verbessert. Daten zu sammeln ist erst der Anfang. Kombiniert mit Verhaltensmodellen und Prozesssteuerung stoßen Sie in völlig neue Dimensionen vor.
Auch der Fußball lässt sich mit Verhaltensmodellanalysen verbessern. Was meinen Sie: Kann man mithilfe von Datenanalysen vorhersagen, wo ein Elfmeterschütze den Ball platziert?
com! professional: Individuell, für den einzelnen Schützen am Elfmeterpunkt?
Schumann: Ganz genau. Wir können das bereits in bestimmten Situationen mit einer Wahrscheinlichkeit von über 95 Prozent vorhersagen. Es gibt bestimmte Merkmale beim Elfmeter: der Druck auf den Schützen (seine Mannschaft führt oder liegt in Rückstand), die Schussgeschwindigkeit, die Anlaufgeschwindigkeit, die Schusstechnik (zum Beispiel Innen- oder Außenseite und so weiter) und – jetzt kommt das Beste – der sogenannte biomechanische Vor- oder Nachteil beim Anlauf . Unter Druck, also wenn die Mannschaft in Rückstand liegt, laufen manche Spieler beispielsweise so unvorteilhaft an, dass sie nur noch in eine der beiden unteren Ecken schießen können. Je nach Anlauf lässt sich sogar prognostizieren, in welche der beiden Ecke diese Spieler den Ball platziert.
Das ist komplett vorhersagbar. Diese Spieler würde ich unter Druck keinen Elfmeter mehr schießen lassen. Auf der anderen Seite gibt es Fußball-Genies wie Lionel Messi von FC Barcelona, ein raffinierten Trickser, dem kommen Sie selbst mit Machine Learning nicht auf die Schliche.
Das ist komplett vorhersagbar. Diese Spieler würde ich unter Druck keinen Elfmeter mehr schießen lassen. Auf der anderen Seite gibt es Fußball-Genies wie Lionel Messi von FC Barcelona, ein raffinierten Trickser, dem kommen Sie selbst mit Machine Learning nicht auf die Schliche.
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