Business-IT
07.01.2020
Schaltzentrale
1. Teil: „ERP-Systeme werden zu offenen Plattformen“

ERP-Systeme werden zu offenen Plattformen

ERPERPERP
Wright Studio / shutterstock.com
Die Anforderungen an das ERP der Zukunft sind hoch - für Anwender und Hersteller. Häufig setzen Unternehmen auf lokal betriebene ERP-Systeme zusammen mit cloudbasierten Speziallösungen.
  • Quelle:
    Trovarit
"Never touch a running system" - nach dieser Devise handeln viele Firmen beim Enterprise Resource Planning. Wer sich einmal für ein ERP-System entschieden hat, bleibt ihm meist sehr lange treu. Laufzeiten von zehn bis 15 Jahren sind die Regel. "Unternehmen tauschen ihr ERP-System nicht einfach so aus, da es historisch über mehrere Jahre gewachsen und individuell an spezifische Geschäftsprozesse und Anforderungen angepasst wurde. Es ist mit komplexen Rollen- und Rechtekonzepten verknüpft und bildet sozusagen die DNA des Unternehmens ab. Ein tiefer Eingriff oder gar der Austausch des ERP-Systems gleicht einer OP am offenen Herzen", sagt Frank Termer, Bereichsleiter Software beim Digitalverband Bitkom.
Das ERP-System ist tatsächlich mit dem Herzen eines Unternehmens vergleichbar. Es gibt die Geschäftslogik wieder, führt die wichtigsten Stamm- und Bewegungsdaten und dient als Datendrehscheibe für die meisten Software-Anwendungen. Neben dem klassischen Bereich der Finanzbuchhaltung bilden ERP-Lösungen mittlerweile auch die Geschäftsprozesse der zen­tralen Unternehmensbereiche ab, von Einkauf und Logistik über Personalwesen und Vertrieb bis hin zur Produktionsplanung.

Steigende Anforderungen

Im Kontext von Industrie 4.0 wird sich die Rolle des ERP-Systems als Datendrehscheibe und Integrations-Hub noch weiter verstärken. Es sammelt Marktdaten, Kundeninformationen, Lieferanten- und Produktdaten und verknüpft sie mit den Produktions- und Logistikdaten aus der Fertigungsebene und der Supply Chain. Mit dem Internet of Things (IoT) fließen zusätzlich noch die Sensordaten aus der Maschinenwelt mit ein. All diese Prozesse unter einen Hut zu bringen, ist alles andere als trivial. Die Liste der Anforderungen an ein modernes ERP-System ist deshalb lang. Es geht um Themen wie Verarbeitung und Analyse der wachsenden Datenflüsse - am besten in Echtzeit -, niedrige Latenzzeiten und ganz klassisch um die Sicherung der Daten und Prozesse.
"ERP-Systeme, wie wir sie heute vielfach kennen, werden sich in den nächsten fünf Jahren stark verändern. Das Geschäft unserer Kunden wird ungleich komplizierter. Neben überbetrieblichen Geschäftsabläufen mit einer wachsenden Verflechtung der Unternehmen innerhalb von Lieferketten sind überall datengetriebene Geschäftsmodelle auf dem Vormarsch. Das ERP-System muss als ‚Digital Core‘ der Unternehmens-IT die erhöhte Komplexität der digitalen Geschäftsabläufe abbilden, jedoch gleichzeitig wesentlich einfacher zu bedienen sein", erklärt Lars Landwehrkamp, CEO von All for One Group, unter der Marke All for One Steeb einer der führenden SAP-Dienstleister im deutschen Mittelstand.
Seiner Meinung nach ist die ERP-Entwicklung nicht mehr wie früher primär von neuen IT-Technologien getrieben, sondern vor allem durch den Transformationsdruck aus dem Business. Die ERP-Systeme der Zukunft müssten intelligent sein, agiles Arbeiten sowie Automatisierung erlauben, so Lars Landwehrkamp weiter. "Sie liefern nicht nur Echtzeitdaten, sondern auch Echtzeitanalysen. Das ist auch notwendig, denn Unternehmen müssen Trends zukünftig viel früher erkennen. Das alles unterscheidet sie erheblich von herkömmlichen ERP-Anwendungen."

Monolithen überfordert

Matthias Zacher, Senior Consulting Manager bei IDC, sieht das ähnlich. "Die Frage ist: Wie bekomme ich mit dem ERP-System die Komplexität aus dem Business in den Griff? Firmen müssen ihre Produkte schneller entwickeln, ihre Kunden besser ansprechen sowie ihre bestehenden Geschäftsmodelle wegen der Digitalisierung anpassen oder gar neu aufstellen. Auch die regulatorischen Anforderungen werden komplexer." Sie brauchen daher laut Matthias Zacher eine Lösung, die all das abbilden kann, Abläufe automatisiert und unterschiedliche Prozesse integriert. "Die klassischen ERP-Monolithen können das oft nicht leisten", konstatiert Zacher.
Denn traditionelle ERP-Systeme gelangen in der Praxis immer mehr an ihre Grenzen. Lange Zeit war die ERP-Welt relativ einfach. Firmen jeder Größe installierten eine breite ERP-Lösung, um alle Unternehmensbereiche mit durchgängigen Prozessen und einer gemeinsamen Datenverwaltung zu unterstützen. Deren großer Vorteil war und ist die Integration aller Software-Module in einer Gesamtlösung, die Workflows, Prozesse und Daten miteinander verknüpft.
Die Schattenseite: Klassische ERP-Systeme sind monolithisch und starr. Ihre Einführung war oft langwierig und teuer, und mit der Zeit wurden die Systeme durch viele tief greifende Anpassungen schwerfällig und unflexibel. Dadurch wurden auch Upgrades immer schwieriger. Kein Wunder also, dass Firmen sehr lange bei einem ERP-System bleiben. Dafür ist aber die Abhängigkeit vom jeweiligen Software-Hersteller hoch und die Anwender müssen der Strategie ihres ERP-Anbieters folgen.
2. Teil: „Cloud, KI und Best of Breed“

Cloud, KI und Best of Breed

  • Prioritäten der ERP-Anwender: Für die Nutzer von ERP-Systemen sind drei Themen besonders wichtig - Datensicherheit, Datenmanagement und rechtliche Vorgaben.
    Quelle:
    Trovarit (n = 1.415 Unternehmen)
Trotzdem erzwingen auch hier die Herausforderungen der Digitalisierung Veränderungen. Aufschlussreich sind dazu die Zahlen der aktuellen Studie "ERP in der Praxis" der Unternehmensberatung Trovarit. Demnach verfolgen die ERP-Anwender eine Taktik der kleinen Schritte. 45 Prozent der rund 2200 befragten Unternehmen wollen in ihr ERP investieren. Dabei setzen aber nur die wenigsten Firmen auf eine Neuinstallation, sondern überwiegend auf eine Erweiterung oder teilweise Modernisierung ihrer bestehenden Systeme. Denn beim Kauf einer neuen Lösung fallen neben den Anschaffungskosten Schulungen für die Mitarbeiter an, zum Teil sind zudem ein Doppelbetrieb und die Adaption neuer Prozesse notwendig. Diesen Aufwand nehmen Unternehmen nur in Kauf, wenn sie sich von der Implementierung einen wesentlichen Vorteil versprechen - oder wenn die IT-Schmerzen zu groß sind.
"Ein wesentlicher Treiber für Änderungen ist, wenn die Pflege der ERP-Systeme und ERP-Applikationen zu aufwendig wird, die bestehende ERP-Lösung keine Schnittstellen für notwendige Services aus der Cloud bietet, etwa bei IoT-Projekten, oder sich damit zum Beispiel neue gesetzliche Anforderungen nur mit hohen Investitionen umsetzen lassen", weiß Frank Termer vom Bitkom.
Natürlich haben die ERP-Anbieter bereits auf die neuen Anforderungen reagiert und die Integrationsfähigkeit ihrer Systeme mit externen Anwendungen verbessert. Daraus entwickelte sich vielfach eine hybride Landschaft, in der ein zentrales, meist lokal betriebenes ERP-System durch mehrere cloudbasierte Speziallösungen erweitert wurde. Zudem bieten fast alle ERP-Hersteller ihre Software auch als Service aus der Cloud an und lösen ihre Monolithen Schritt für Schritt auf.
"Die Zukunft gehört modularen ERP-Plattformen, die sich über offene Schnittstellen beliebig erweitern lassen, auch um Anwendungen anderer Anbieter. Die Kunden bauen sich dann in einer Art Best of Breed ihre eigene Lösung zusammen", so Frank Termer. Die ERP-Funktionen mit ihren fachlichen Geschäftsprozessen bleiben demnach weiter das Nervensystem der Firma, nur sind diese nicht mehr als großer Software-Block organisiert, sondern verteilt auf kleinere Einheiten.
"Moderne ERP-Systeme bleiben als Datendrehscheibe ein zentraler Teil der Software-Landschaft in Unternehmen, sind aber bei Weitem nicht der einzige", ergänzt Lars Landwehrkamp. Hinzu kämen Bereiche wie Customer Experience, Personal-Management, Performance Management, Planung oder agiles Arbeiten. Solche Lösungen aus den Fachbereichen werden laut Landwehrkamp zunehmend die ERP-Anwendungen ergänzen und werden schon heute überwiegend aus der Cloud bereitgestellt.
Das nahtlose Zusammenspiel der einzelnen Komponenten wird daher zur Schlüsselfrage in Unternehmen. "Solche Orchestrierungsleistungen sind das Betriebssystem von morgen. Die 'Best of Breed'-Frage muss daher neu gedacht werden. ‚Best of Breed‘-Lösungen bezogen auf die Enterprise- Management-Software im engeren Sinne sind auf dem Rückzug. 'Best of Breed' im Sinne der gesamten Corporate IT, also etwa CRM und HR eingeschlossen, sind auf dem Vormarsch", so Lars Landwehrkamp weiter.
Diese ERP-Zukunft dürfte sich vorwiegend in der Cloud abspielen. "Im Moment befinden sich viele Firmen in einer Zwischensituation mit einem hybriden Szenario aus einem lokal installierten Core-ERP-System, das um Spezialfunktionen aus der Cloud ergänzt wird. Manche Firmen setzen nur auf On-Premise-Lösungen, andere auf ERP als Komplett-Service aus der Cloud", stellt Matthias Zacher von IDC fest. Als Treiber für den Weg in die Cloud sieht er den Druck aus den Fachabteilungen, die schnell neue Funktionen benötigen und daher eine effiziente IT erfordern.
Laut IDC entwickeln sich ERP-Systeme in Richtung Intelligent ERP, kurz iERP. In der
ersten Stufe ermöglichen sie den Echtzeitzugriff auf Daten, die sie aus unterschiedlichen Datenquellen aggregieren. Ein Beispiel dafür ist die In-Memory-Datenbank SAP HANA, die Daten direkt im Arbeitsspeicher der Server vorhält und damit sehr schnelle Analysen ermöglicht. Aufgaben wie die Materialbedarfsplanung dauern damit statt Stunden nur noch Minuten.
In der zweiten Ausbaustufe kommen intelligente Anwendungen hinzu, die maschinelles Lernen nutzen und etwa über Algorithmen und Predictive Analytics automatisiert Bestellungen oder Servicevorgänge auslösen. Und in der dritten und umfassendsten Stufe, so IDC-Analyst Matthias Zacher, werden die ERP-Systeme selbst anspruchsvollere Entscheidungsvorgänge meistern: "Das wird dann nicht mehr regelbasiert sein, sondern die Systeme werden dazulernen und kontext­basierte Entscheidungen treffen. Ergänzt wird das durch Themen wie Spracheingabe oder auch die direkte Anbindung der Partner. Das ist aber fast immer noch Zukunftsmusik."
3. Teil: „Markt im Wandel“

Markt im Wandel

  • Langjährige Tendenz: Mit schlanken Lösungen, Branchenlösungen und Lösungen kleinerer ERP-Anbieter sind Anwender am zufriedensten.
    Quelle:
    Trovarit
All diese Entwicklungen bewirken einen massiven Umbruch auf dem ERP-Markt. Immer mehr ERP-Workloads werden als Services über die Cloud bereitgestellt. SAP beispielsweise verknüpft alle wichtigen Prozesse mit der cloudbasierten ERP-Lösung S4/HANA, die bis 2025 die bisherigen SAP-ERP-Lösungen für Großkunden ablösen soll. Die großen Service-Plattformen müssen zudem agiler werden, um neue Technologien wie KI, Blockchain, IoT und Robotik zu unterstützen.
Der ERP-Markt wächst daher stetig. 2018 betrug das Volumen des globalen ERP-Markts laut Gartner knapp 35 Milliarden Dollar, ein Wachstum von 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Bis 2022 soll der Markt um rund 7,1 Prozent wachsen. Mit einem ähnlichen Wachstum rechnen die IDC-Analysten. Sie gehen davon aus, dass die ERP-Ausgaben der Firmen bis 2023 jährlich durchschnittlich um 7,6 Prozent steigen.
Der weltweite ERP-Markt bleibt zudem fragmentiert. Die drei führenden Anbieter SAP, Oracle und Workday nehmen etwa 40 Prozent des Marktes ein, mit Sage und Infor auf den folgenden Plätzen sind es rund 50 Prozent. Dieses Verhältnis hat sich seit Jahren kaum geändert. Auch schon 2013 kamen die fünf führenden Anbieter SAP, Oracle, Sage, Infor und Microsoft auf einen Marktanteil von etwas mehr als der Hälfte. Doch bekommen die etablierten ERP-Hersteller Konkurrenz, sagt Bitkom-Mann Frank Termer voraus. Auf der einen Seite drängen demnach Hersteller von Produktionsleitsystemen (Manufacturing Execution Systems, MES) in den Markt. "Sie bringen mit Automatisierung und IoT viele Voraussetzungen mit. Da das MES eng mit dem ERP-System verknüpft ist, überschneiden sich viele Prozesse", so Termer. Auf der anderen Seite sieht er Industrieplattformen wie Mind­Sphere - laut Siemens ein "cloudbasiertes IoT-Betriebssystem" - in Richtung ERP gehen. 
"Die ERP-Hersteller stehen also von zwei Seiten aus unter Druck und müssen sich überlegen, wie sie sich positionieren. Suchen sie nach Partnern, klinken sie sich in eine modularisierte Plattform ein, bauen sie diese Plattform selbst?", fragt Frank Termer. Viele Anbieter starten zudem Testballons mit KI-Projekten, Cloud und Blockchain, um Erfahrungen zu sammeln und diese als Mehrwert an ihre Kunden weiterzugehen. "Damit sind sie nicht nur Technologielieferant, sondern erweitern ihr Geschäftsmodell und begleiten ihre Kunden als Berater bei der Digitalisierung. Ein Faustpfand ist hier die Branchenexpertise."
Karsten Sontow, Vorstand von Trovarit (siehe Interview auf Seite 32), fasst die Entwicklung so zusammen: Die großen Anbieter wie SAP, Microsoft oder Infor gingen in Richtung Cloud-Plattform. Kleinere Anbieter würden mit branchenspezifischem Prozess-Know-how überzeugen und könnten Innovationen einfacher umsetzen, da ihre zum Teil auch monolithischen ERP-Lösungen schlank und spezialisiert seien. Für mittelgroße Hersteller werde es dagegen schwer, ins Plattformgeschäft einzusteigen. Sie würden daher für die Entwicklung von Zusatzfunktionen eher auf Partnerschaften setzen, behielten aber den ERP-Kern im eigenen Unternehmen oder schlössen sich wie der deutsche ERP-Anbieter Abas anderen Firmen an. Abas gehört jetzt zu Forterro, einem Zusammenschluss internationaler ERP-Software-Firmen mit Fokus auf speziellen geografischen oder vertikalen Märkten. 
Plattform-Optionen für ERP-Anbieter
Um an der Plattform-Ökonomie teilzunehmen, können ERP-Anbieter zum einen ihr Portfolio um externe Services aus der Cloud erweitern und so selbst zum Kunden einer Plattform werden. Oder sie bieten ihre Produkte und Dienste auf einer Plattform an – als Betreiber oder als Partner eines Betreibers, dessen Plattform verschiedene Hersteller bündelt. Die Entwicklung vollzieht sich dabei oft in drei Schritten:
Die meisten Hersteller ergänzen zunächst ihre eigene Lösung um Services aus der Cloud – von kleineren Apps wie Zeiterfassung oder Reisekostenabrechnungen bis zu IoT-Diensten oder maschinellem Lernen. Zentral sind hier standardisierte Schnittstellen für den Zugriff auf Daten und die Verknüpfung von Prozessen. Einige Hersteller gehen noch einen Schritt weiter und vermarkten ihre Lösung selbst über eine externe Cloud-Plattform, um eine größere Anzahl potenzieller Nutzer zu erreichen. Dafür müssen sie aber ihr Angebot modularisieren und ihr Lizenzmodell auf Pay per Use umstellen.
Im letzten Schritt wird der ERP-Anbieter selbst zum Betreiber einer Plattform. Damit ist ein hoher technischer und finanzieller Aufwand verbunden, da der Betreiber die gesamte Lösungsinfrastruktur selbst verantwortet und möglichst viele Services von Partnern in das Angebot integrieren muss.
4. Teil: „Beispiel: proALPHA“

Beispiel: proALPHA

  • Suche nach der Bremse: Durch Process Mining macht proALPHA die Durchlaufzeiten von Prozessen im ERP-System sichtbar.
    Quelle:
    CERP
Sehr schön zeigt diese Entwicklung ein Blick auf die Plattformstrategie des deutschen ERP-Anbieters proALPHA mit rund 1.200 Mitarbeitern. Die proALPHA Gruppe ist eigenen Angaben zufolge in Deutschland, Österreich und der Schweiz drittgrößter ERP-Anbieter für mittelständische Unternehmen in Fertigung und Handel, überwiegend aus dem Maschinen- und Fahrzeugbau.
Ein wichtiges Thema für die Kunden von proALPHA ist das Internet der Dinge. Der ERP-Hersteller hat daher die Architektur seines Systems auf die Integration dieser externen Anwendungen und Services ausgelegt. "Wir haben unseren zentralen ERP-Prozesskern mit einer Integrationstechnik umgeben, die als eine Art Middleware fungiert. Die importierten Sensordaten von Maschinen, mobilen Geräten oder Webportalen gehen so nicht direkt ins ERP-System, sondern die vorgelagerte Schicht erkennt die Daten und leitet sie dann zur automatisierten Verarbeitung weiter", erläutert Friedrich Neumeyer, CEO von proALPHA. Da die Middleware-Schicht eine Vielzahl an Schnittstellen unterstütze, ermögliche sie die optimale Vernetzung mit externen Anwendungen und die effiziente Integration von Prozessen aus einem Guss.
Die optimale Architektur für ein ERP-System besteht für Neumeyer aus einem Mittelweg: "Weder 'Best of Breed' noch 'Best of Suite' - in der richtigen Kombination liegt die Power. Eine zukunftsfähige ERP-Plattform muss alle wettbewerbskritischen Kernprozesse durchgängig abbilden und gleichzeitig Drittsysteme integrieren können. Nur so sind konsistente Datenmodelle möglich - die Basis für Digitalisierung." Die Grenzen von Best of Breed sieht er bei komplexen Prozessen, die eine tiefe Integration und ein konsistentes Datenmodell benötigen.
Bei der Weiterentwicklung seiner Lösung verfolgt pro­ALPHA eine zweigleisige Strategie. Den ERP-Kern optimiert das Unternehmen selbst mit Hilfe von Forschungspartnerschaften, beim Einbau von Zusatzfunktionen außerhalb des ERP-Systems setzt man auf den Kauf spezialisierter Firmen oder auf Partnerschaften mit Drittanbietern.
Da sich die IT-Welt rasant verändert, muss auch proALPHA seinen ERP-Kern stetig aktualisieren. Der Anbieter garantiert seinen Kunden grundsätzlich, eine Technologie über zehn Jahre zu erhalten. In der Vergangenheit erfolgte etwa alle sechs Jahre ein Update des Kerns als Ganzes, heute liegt der Update-Zyklus bei etwa zwei Jahren und soll sich in naher Zukunft weiter deutlich verkürzen. Dazu gibt es kontinuierliche Funktions-Updates in kleineren Bereichen wie Einkauf, Vertrieb oder Service-Management. "Das geht dann schon in Richtung Microservices und Domain-driven Development, bei dem die Domains als kleine funktionale Bereiche im Datenmodell gekapselt werden. Die Kunst besteht darin, hier die richtige Granularität zu finden", so der CEO.
Das Kernsystem entwickelt proALPHA über Forschungspartnerschaften etwa mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern oder dem Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) der RWTH Aachen weiter. Zentrale Themen sind hier maschinelles Lernen und Process Mining für die Analyse und Visualisierung komplexer Prozesse. In einem ERP-System werden viele Daten bewegt wie Aufträge, Buchungen oder Materialflüsse. Process Mining trackt all diese Daten, macht die Durchlaufzeiten der Prozesse sichtbar und zeigt so, wo Bottlenecks bestehen. 
"An dieser Stelle können Firmen dann ansetzen und ihre Prozesse optimieren. Unser Ziel sind selbstlernende Prozesse mit Algorithmen, die geeignete Maßnahmen zur Lösung eines Problems vorschlagen", erläutert Friedrich Neumeyer.
"Der Zukauf von kleineren ERP-Anbietern für den Kern unserer Plattform bringt keinen strategischen Mehrwert, da wir beim Know-how etwa bei Datenanalyse oder mobilen Funktionen oft weiter sind", betont Neumeyer. "Etwas anderes ist es bei Bereichen, die rund um ERP stattfinden, wie Maschinendatenverarbeitung, Lagerverwaltungssysteme oder Zutrittskontrolle. Hier übernehmen wir Firmen und integrieren deren Funktionen und Prozesse über Schnittstellen in unsere Plattform." So hat proALPHA erst kürzlich mit Tisoware einen Spezialisten für Zeitmanagement, Maschinendatenerfassung und Zutrittssicherung erworben.

Fazit & Ausblick

Die Anforderungen ans Enterprise Resource Planning werden immer komplexer. Mittlerweile haben die Anbieter von ERP-Systemen auf die neuen Anforderungen reagiert und die Integrationsfähigkeit ihrer Systeme mit externen Anwendungen verbessert. Ergebnis ist oft eine hybride Landschaft, in der ein zen­trales, meist lokal betriebenes ERP-System durch mehrere cloudbasierte Speziallösungen erweitert wurde.
Zudem bieten fast alle ERP-Hersteller ihre Software auch als Service aus der Cloud an und lösen ihre Monolithen Schritt für Schritt auf. Die Zukunft dürfte daher modularen ERP-Plattformen gehören, die sich über offene Schnittstellen beliebig erweitern lassen - auch um Anwendungen anderer Anbieter.
Best of Breed: Vor- und Nachteile
Starre monolithische ERP-Systeme erfüllen die künftigen Anforderungen nicht mehr. ERP-Systeme müssen offene Schnittstellen für externe Anwendungen bieten und auch im Kern flexibel werden. Eine mögliche ERP-Variante könnten künftig eher cloud­basierte Best-of-Breed-Plattformen sein, die verschiedene ERP-Funktionen flexibel miteinander koppeln und spezialisierte Services von Drittanbietern integrieren. Gartner hat dafür vor einigen Jahren den Begriff „Postmodernes ERP“ geprägt. Die wichtigsten Vor- und Nachteile dieser ERP-Ausprägung sind:
Vorteile
Höhere Flexibilität: Mit einem Best-of-Breed-Konzept kann ein Unternehmen die Module frei aussuchen, die für seine Anforderungen am besten passen. Damit enthält die Lösung nur die Komponenten, die in der Praxis wirklich im Einsatz sind. Firmen verschwenden kein Geld für unnötige Funktionen und Ressourcen und können je nach Bedarf neue Services hinzufügen oder wieder abbestellen. 
Große Auswahl: Die Firmen können bei diesem Ansatz auch die Lieferanten frei bestimmen. Sie haben die Wahl aus einer Vielzahl von Software-Services, um das Modul zu finden, das für
ihren Bedarf am besten geeignet ist. Häufig sind die Spezialanwendungen einzelner Anbieter qualitativ viel höherwertig als einzelne Funktionen in einem umfassenden monolithischen ERP-System jemals sein können.
Pay per Use: Klassische ERP-Systeme sind meist teuer in der Anschaffung und erfordern einen hohen Aufwand für Installation und Betrieb. Da ein Best-of-Breed-ERP meist cloudbasiert sein dürfte, entfallen die hohen einmaligen Lizenzgebühren und das Service- und Abrechnungsmodell läuft auf Monats- oder Jahresbasis nach tatsächlichem Bedarf und Einsatz. Die Kosten verteilen sich damit über eine längere Laufzeit. Ob die Gesamtkosten langfristig tatsächlich niedriger sind als bei einer klassischen ERP-Lösung, ist nicht pauschal zu beantworten, da der Integrationsaufwand erheblich steigt.
Nachteile
Komplexität zwischen den Systemen: Bei einem modularen ERP-System ist die Integration viel schwieriger, da Firmen häufig Programme und Services verschiedener Anbieter orchestrieren müssen. Hier können Probleme mit den Schnittstellen, bei der Datenhaltung oder auch der Verbindung unterschiedlicher Datenformate entstehen. Wegen des hohen Integrationsaufwands kann es sein, dass ein Best-of-Breed-Konzept langfristig mehr kostet als ein monolithisches ERP-System.
Kein zentraler Ansprechpartner: Bei einem modularen ERP-System fehlt ein zentraler Ansprechpartner, der bei Updates, Problemen im Betrieb oder bei der Wartung Support leistet. 
Schwierigere Updates: Bei Updates der einzelnen Module muss das IT-Team dafür sorgen, dass die Kommunikation zwischen den Systemen weiterhin reibungslos abläuft und die Leistung der einzelnen Funktionen nicht negativ beeinflusst wird.
Cloud als Risiko: Bei ERP-Lösungen aus der Cloud sind Firmen auf das Internet angewiesen, um auf alle ihre Daten zugreifen zu können. 
5. Teil: „Im Gespräch mit Dr. Karsten Sontow, Vorstand der Trovarit AG“

Im Gespräch mit Dr. Karsten Sontow, Vorstand der Trovarit AG

  • Dr. Karsten Sontow: Vorstand der Trovarit AG
    Quelle:
    Trovarit
Karsten Sontow ist Vorstand bei der auf Business-Prozesse und Business-Software spezialisierten Unternehmensberatung Trovarit. Im Interview mit com! professional beschreibt er die spannenden Entwicklungen auf dem ERP-Markt sowie die damit verbundenen komplexen Herausforderungen für ERP-Hersteller und ERP-Anwender.  
com! professional: Herr Sontow, mit der Studie "ERP in der Praxis" verfolgt Trovarit seit vielen Jahren die Entwicklungen auf dem ERP-Markt. Welche Trends sehen Sie derzeit?
Karsten Sontow: Auch unsere aktuelle Studie zu ERP in der Praxis bestätigt eine langjährige Erkenntnis: Schlanke, meist eher monolithische ERP-Lösungen, ausgesprochene Branchenlösungen und/oder Lösungen kleinerer Anbieter mit verhältnismäßig kleinem Kundenstamm schneiden in Sachen Anwenderzufriedenheit insgesamt am besten ab. Diese Produkte verzichten auf Sonderfunktionen und sind sehr stark vorpaketiert auf die Belange der Zielgruppe, sprich kleine Firmen mit einfachen Prozessen im Bereich Finanzen. Für sie bringt ein kleines ERP-System einen großen Mehrwert. Diese Lösungen eignen sich aber für komplexe Unternehmensstrukturen nur eingeschränkt.
com! professional: Wie sieht es mit den ERP-Systemen in den größeren Unternehmen aus?
Sontow: Die besten Lösungen unter den größeren Installationen finden sich bei der Anwenderzufriedenheit erst im Mittelfeld. Ein Grund hierfür ist das hohe Anforderungsniveau in Verbindung mit spürbar größerem Aufwand bei Einführung, Wartung und (End-) Anwenderbetreuung.
Nehmen Sie als Beispiel ein Fertigungsunternehmen mit vielen Produktionsstandorten, einem breiten Produktspektrum, mit fortgeschrittener Digitalisierung und komplexen Prozessen, einer tiefen Integration von Anlagen und IT-Systemen sowie mit Projekt- und Systemgeschäft. Ein derartiges Unternehmen bräuchte eigentlich zwei oder mehr ERP-Systeme. Der Ansatz, alles in einem ERP vorzupaketieren, ist hier aufgrund der hohen Komplexität nicht möglich. 
com! professional: Welche Rolle spielt das ERP-System in diesen komplexen Unternehmensstrukturen?
Sontow: Es ist die zentrale Instanz im Unternehmen. Das ERP-System bildet das Rückgrat der Auftragsabwicklung, da es die kaufmännischen und produktbezogenen Stammdaten zu Lieferanten, Kunden, Ressourcen und so weiter vorhält und die gesamte Geschäftslogik abbildet, seien es Verwaltung, Bestellung, Preise, Lieferung  oder Abrechnung. Darüber hinaus bündelt es alle wichtigen Unternehmensfunktionen und integriert zusätz­liche Software-Anwendungen wie HR-Management, FiBu oder CRM.
Das Problem: Durch die fortschreitende Digitalisierung entstehen immer mehr Prozesse oder Teilprozesse, die das ERP nicht mehr abdecken kann. Es entsteht eine IT der zwei Geschwindigkeiten mit einem robusten ERP-Kern und einer dynamischen und granularen Software-Landschaft außen herum. Die Frage ist: Welche ERP-Architektur eignet sich dafür am besten?
com! professional: Stichwort Architektur. Laut Gartner entwickeln sich ERP-Systeme immer mehr von monolithischen Lösungen hin zu einer Art Best-of-Breed-Plattform, die verschiedene ERP-Funktionen flexibel miteinander koppelt und auch spezialisierte Services von Drittanbietern integriert.
Sontow: Das könnte durchaus ein Bild der Zukunft sein. Heute finden wir in vielen Unternehmen eine ERP-zentrische Struktur. Das ERP-System bildet den Daten- und Prozess-Hub, in dem Firmen das Zusammenspiel ihrer wichtigsten Geschäftsprozesse zentral koordinieren. Technisch gibt es hier mehrere Optionen. Man kann die neuen Workflows und Funktionen wie bisher mit Software Punkt für Punkt an das ERP-System anbinden, oder man schafft künftig eine eigene Plattform und Integrationsebene, bei der die ERP-Funktionen mit anderen Services gekoppelt sind,  aber "nur" einen Service unter vielen darstellen.
com! professional: Wo liegen die Vor- und Nachteile einer der­artig serviceorientierten ERP-Architektur, die auch Non-ERP-Funk­tionen wie ein Produktionsleitsystem integriert?
Sontow: Wenn Firmen das künftig beherrschen sollten, können sie ihre Prozesse fachlich optimal unterstützen. Schließlich stellen sie sich wie bei Legobausteinen die besten Funktionalitäten für die jeweilige  Aufgabenstellung zusammen. Die Herausforderung besteht darin, diese verschiedenen Komponenten effizient zu verknüpfen und zu orchestrieren. Das ist heute so noch nicht gegeben. Sie bauen sich damit eine neue Komplexität.
ERP wird nicht als System verschwinden, da es einen großen Teil der Geschäftsprozesslogik trägt. Und diese Prozesslogik muss anwendungsübergreifend zusammenpassen. Auch benötigen die Firmen ein übergreifendes Datenmodell. Die Integration der unterschiedlichen Lösungen und Funktionen auch unterschiedlicher Hersteller wird daher eine große Hürde bleiben. Der Best-of-Breed-Ansatz ist grundsätzlich positiv, aber nicht um jeden Preis. Es ist eine Frage des Grades oder Ausmaßes. Wie viel Best of Breed ergibt Sinn? Wie viel Best of Breed kann sich ein Unternehmen leisten, bevor der Integrationsaufwand den Nutzen übersteigt? Oder bleibe ich doch lieber bei einem ERP-Hersteller, der mir alles aus einer Hand liefert? Das sind spannende Fragen, die sich Firmen künftig stellen müssen.
com! professional: Welche Faktoren und Technologien treiben die Veränderung? Warum entscheiden sich Unternehmen für den Kauf eines neuen ERP-Systems beziehungsweise für eine neue ERP-Architektur?
Sontow: Die meisten Firmen handeln bei ERP nach der Devise "Never touch a running system". Die Laufzeiten von ERP-Systemen liegen im Schnitt zwischen zehn bis 15 Jahren. Es ist schmerzhaft und durchaus riskant, ein derart zentrales Kernelement des Unternehmens auszutauschen. Dafür muss es gute Gründe geben. Diese kommen nicht abrupt, sondern schleichen sich ein. 
Oft erfüllt die bestehende Lösung die Anforderungen nicht mehr. Sie bietet beispielsweise zu wenig Funktionen, um das internationale Wachstum zu unterstützen, oder ist technisch nicht mehr auf dem neuesten Stand. Da sich beispielsweise die mobile Nutzung nur bedingt umsetzen lässt, steigt die Unzufriedenheit bei den Anwendern. Oder ein Unternehmen muss agiler werden und benötigt schnell neue ERP-Funktionen. Wenn der Anbieter diese nicht liefern kann, ist die Schwelle überschritten - und Firmen setzen auf eine neue Lösung.
com! professional: Inwiefern treiben Technologien wie Cloud, IoT oder KI den Wandel? 
Sontow: Da man mittlerweile fast alle ERP-Lösungen in einer Private Cloud betreiben kann, ist Cloud-Computing per se kein Treiber für neue Installationen und ERP-Investitionen. Beim IoT läuft viel außerhalb des ERP-Systems ab. Hier werden Betriebsdaten und Produktdaten erfasst, um daraus Informationen etwa für eine optimierte Steuerung der Produktion zu erhalten. Diese Daten werden nicht im ERP geführt, außerhalb verdichtet und dann als Statusinfos in das ERP-System eingebracht. Die meisten ERP-Lösungen sind offen für diese Systeme und bieten entsprechende Schnittstellen.
Künstliche Intelligenz oder maschinelles Lernen sind Innova­tionstreiber im Umfeld, lösen aber den Wechsel nicht alleine aus. KI steht im ERP-Umfeld für Innovationen wie Sprachbedienung, die effizientere Qualitätsprüfung von Stammdaten im laufenden Betrieb oder deren Übersetzung in verschiedene Sprachen. Auch Themen wie Predictive Maintenance oder die Planung und Disposition der Ressourcen auf Basis von KI werden in den ERP-Kern Einzug finden.
com! professional: Wie weit sind die Hersteller auf dem Weg zu einem offenen, flexiblen ERP-System?
Sontow: Die großen Anbieter wie SAP, Microsoft oder Infor gehen in Richtung Plattformstrategie. Sie haben die Grundzutaten, müssen dafür aber ihre Architektur umbauen. Die Anwender sind davon nicht begeistert. Das ist im Moment ein Ringen im Markt. Die Hersteller versuchen ihre Plattformen durchzudrücken. Microsoft beispielsweise kündigt den Support für Dynamics AX 2009 und 2012 ab und hat mit Microsoft Dynamics 365 Finance & Operations alles auf die Azure-Plattform migriert. Bei SAP zeigen sich ähnliche Tendenzen, wenn auch noch nicht mit der gleichen Konsequenz wie bei Microsoft. Diese Entwicklung ist herstellergetrieben, nicht kundengetrieben. Die Anwender sind hier zum Teil machtlos. Das ERP-Thema ist also durchaus abhängig vom Hersteller.
com! professional: Und welche Strategie verfolgen die kleineren Hersteller?
Sontow: Die sind bei der Zufriedenheit vorne, da sie stark auf die Bedürfnisse ihrer Kunden eingehen. Sie überzeugen mit branchenspezifischem Prozess-Know-how und gleichen technologische Schwächen mit Service und Branchenkenntnis aus. Da ihre ERP-Lösungen schlank und spezialisiert sind, können sie Innovationen auch einfacher umsetzen.
Für mittelgroße Hersteller wird es schwer, ins Plattformgeschäft einzusteigen. Sie setzen für die Entwicklung von Zusatzfunktionen eher auf Partnerschaften, behalten aber den ERP-Kern im eigenen Unternehmen.

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