Digitalisierung
04.07.2017
Produktion nach Kundenwünschen
1. Teil: „Digitalisierung schafft Individualisierung“

Digitalisierung schafft Individualisierung

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Palto / Shutterstock
Die Digitalisierung von Produktionsprozessen erlaubt es, Produkte und Dienste immer genauer auf den einzelnen Kunden anzupassen. Individualisierung lautet das Zauberwort.
Individualisierung ist die neueste Waffe im Arsenal der Digitalisierung. Der Verbraucher 4.0 möchte eine auf sich selbst optimal zugeschnittene Leistung erhalten – kontextgerecht, passgenau, individuell.
Die digitale Transformation macht’s möglich. „Die Individualisierung ist einer der Megatrends“, sagt Christian Rätsch, CEO der Werbeagentur Saatchi & Saatchi Deutschland, und fügt hinzu: „Dahin geht die Reise in fast allen Produkt­bereichen.“

Zielgenaues Marketing

  • Quelle: Forbes „Individualized Marketing, 2016“
Diese Meinung ist inzwischen in den Führungsetagen breit vertreten. 70 Prozent der Marketing-Verantwortlichen schwören auf individualisiertes Marketing „in jeder Phase des Customer Life Cycles“, fand Teradata Marketing Applications im Auftrag von Forbes im vergangenen Jahr he­raus. 79 Prozent der Marketer weisen der Umsetzung von individualisiertem Marketing (anstelle der bloßen Personalisierung) eine hohe Priorität zu. 72 Prozent der Unternehmen haben durch individualisiertes Marketing auch bereits erste Erfolge in Hinblick auf Kennzahlen der Kundenbindung und Markenwahrnehmung zu verzeichnen.
Gleichzeitig räumt allerdings mehr als jede zweite der befragten Führungskräfte ein, ein individualisiertes Kundenerlebnis im Verlauf der gesamten Customer Journey bisher nicht durchgängig gewährleisten zu können. Laut Gartner scheint sich dies aber bald zu ändern. Die amerikanische Unternehmensberatung prognostiziert, dass 60 Prozent der Großunternehmen bis 2018 über eigene Fähigkeiten verfügen werden, die Customer Journey durchgängig zu gestalten und mitzuverfolgen – das entspräche einem Zuwachs um 200 Prozent gegenüber dem Stand von 2015.

Individuell in Massen

Besonders anschaulich zeigt sich das Potenzial der Individualisierung bei Schuhen. Maßgeschneiderte Fußbekleidung erhöht den Tragekomfort, verbessert das Wohlbefinden und optimiert das Lauf­erlebnis – und das dank moderner Technologie selbst bei Massenware, ohne dass ein Schuster Hand anlegen muss.
  • Adidas: Intelligente Roboter berücksichtigen in der Speedfactory individuelle anatomische Merkmale und Design-Wünsche des Kunden.
    Quelle:
    Adidas
Moderne Schuhherstellung nach Maß beginnt mit einem 3D-Scan der Füße, möglicherweise direkt auf dem Laufband erfasst. Das digitale 3D-Modell bildet die perfekte Vorlage sowohl für die konventionelle Leistenfertigung im klassischen Handwerk als auch für die kundenindividuelle Massenfertigung im roboterisierten 3D-Druck-Verfahren. Letzteres läuft dieses Jahr beim deutschen Sportartikelhersteller Adidas erstmals in hohen Stückzahlen an.
Mit der kürzlich vorgestellten Futurecraft 4D hat Adidas eine innovative Mittelsohle für individualisierte Laufschuhe entwickelt. Sie wird auf der Basis von 3D-Scans mit 3D-Drucktechnologie gefertigt. Diese flexible, atmungsaktive Kopie des Fußabdrucks stimmt mit Konturen und Druckpunkten exakt überein und lässt sich zudem rein digital an die individuellen Dämpfungsanforderungen jedes einzelnen Trägers anpassen. „Das ist der Heilige Gral“, so Eric Liedtke, SVP Brand Marketing Adidas, bei der Produktvorstellung.
Um seine Vision kundenindividueller Massenfertigung (Mass Customization) auf dem heimischen Markt zu verwirklichen, musste Adidas einige einschneidende Rationalisierungsmaßnahmen umsetzen. Zur Gewährleistung kurzer Lieferfristen hat sich der Hersteller entschieden, die Produktion aus Fernost zurück nach Deutschland in sogenannte Speedfactories zu verlagern. Kundenindividuelle Massenfertigung läuft hier vollständig automatisiert ununterbrochen rund um die Uhr. Jeder Auftrag ist spätestens nach einigen Stunden abgeschlossen. Die robotischen Fertigungsanlagen hat Adidas in Zusammenarbeit mit dem Mittelständler Oechsler aus dem bayerischen Ansbach entwickelt.
Das innovative Konzept der Speedfactories soll Zeit sparen. Bei der konventionellen Massenproduktion in Asien vergeht von der Bestellung bis zur Lieferung nach Deutschland schon mal ein ganzes Quartal. In dieser Zeit ändern sich aber die Präferenzen der Käufer. Der Anbieter kann im Extremfall auf einer ganzen Lieferung sitzen bleiben. Kundenindividuelle Massenfertigung, zum Beispiel dank additiver Fertigung auf Basis digitaler 3D-Konstruktionsdaten, eliminiert dieses Planungsrisiko und verbessert zudem die Nachhaltigkeit.
Doch damit nicht genug: Kundenindividuelle Massenfertigung ermöglicht es dem Anbieter, den Käufer am Design- und Herstellungsprozess zu beteiligen – nicht zuletzt mit der Absicht, sich den sogenannten Ikea-Effekt zunutze zu machen. Dieses wissenschaftlich nachgewiesene Phänomen besagt, dass Menschen Produkten, an deren Herstellung sie persönlich beteiligt waren, einen höheren Wert zuschreiben. Emotionale Bindung des Käufers schlägt sich für den Anbieter also in barer Münze nieder.
2. Teil: „Individuell mit 3D-Druck“

Individuell mit 3D-Druck

Nicht jedes Unternehmen kann für die Individualisierung aber so einen Aufwand treiben wie Adidas. Oft fehlt es derzeit auch schlicht an der Fähigkeit, Einzelstücke rentabel herzustellen. In der Untersuchung „SCM World Value Chain 2020“, für die gut 150 Unternehmen weltweit befragt wurden, nannten mehr als drei Viertel von ihnen (79 Prozent) das als Grund dafür, dass die Individualisierung der Produktion nicht in Angriff genommen wird.
Jedes zweite Unternehmen (50 Prozent) verweist zudem auf exorbitante Kosten als die größte Barriere für die Umstellung. Diesen Herausforderungen möchten die betroffenen Unternehmen mit einer digitalen Versorgungskette (50 Prozent) und einer intelligenten Fertigung (43 Prozent) begegnen, die Produktentwicklung, Fertigung und Logistikkette integriert. Besonders vielversprechend erscheint vielen dabei der 3D-Druck. Mehr als jeder vierte Hersteller (28 Prozent) evaluiert diese Technologie inzwischen als eine Möglichkeit, ein digitales Inventar individualisierter Produkte aufzubauen.
Bei den Schuh- und Textilherstellern findet der 3D-Druck augenscheinlich immer mehr Zuspruch. Dafür stehen unter anderem die in Duisburg ansässige Mifitto GmbH, die mit ihren 3D-Fußscannern dem Kunden zum perfekten Schuh verhelfen will, sowie das Kölner Start-up Die Schuhleister, das  auf der diesjährigen CeBIT ein neu entwickeltes komplettes Fertigungssystem für den Mittelstand vorstellte.
Unternehmen, die auf der Basis digitaler 3D-Konstruk­tionsdaten auf Abruf produzieren, verschaffen sich die Möglichkeit, auf individuelle Bedürfnisse des Käufers kurzfristig zu reagieren. Sie können direkt vor der Haustür des Kunden fertigen und dank einer sogenannten End-of-Runway-Logistik ihre Lieferfristen und -kosten auf ein Minimum senken. Eine Bestellung, die bis 18 Uhr eingeht, soll am nächsten Morgen beim Kunden sein. Nebenbei bleiben die Lagerbestände klein. Produkte liegen rein digital vor, bis sie vom Kunden benötigt werden.

3D-Druck für B2B-Kunden

Potenzial hat der 3D-Druck nicht nur für Unternehmen mit  privaten Konsumenten als Kunden, sondern auch für B2B-Anbieter. So haben sich SAP und UPS vorgenommen, die bedarfsorientierte On-Demand-Fertigung von Prototypen und Produktteilen mittels 3D-Druck zu ermöglichen und eine durchgängige Prozesskette von der Bestellung über die Herstellung bis hin zur Lieferung zu schaffen. Die beiden Konzerne wollen dazu SAP-Lösungen für das Supply Chain Management in UPS-Anwendungen für generative Fertigung und Logistiknetzwerke integrieren. So sollen Unternehmen jeder Größe mit nur einem Klick auf das System UPS On-Demand Manufacturing zugreifen können.
Die Software soll Entscheidungen in Echtzeit ermöglichen und zum Beispiel automatisch ermitteln, ob eine 3D-Druck-Herstellung im Vergleich zur traditionellen Beschaffung oder Fertigung rentabel ist. Bestellungen sollen reibungslos an UPS weitergeleitet werden, wo Produktion und Auslieferung erfolgen. UPS verspricht, die meisten Teilebestellungen, die bis 18 Uhr abends eingehen, bis zum nächsten Morgen zu fertigen und innerhalb der USA auszuliefern.
Vorteile der Individualisierung
Die Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen bringt Unternehmen und ihren Kunden zahlreiche Vorteile. Dazu zählen:
  • zusätzliche Wertschöpfung durch die Flexibilisierung des Angebots, die einen Mehrwert schafft
  • geringeres Planungsrisiko und minimale Lagerkosten durch bedarfsgerechte On-Demand-Fertigung
  • Steigerung des subjektiven Werts des Angebots aus Sicht des Käufers (Ikea-Effekt); Raum für höhere Margen
  • Erhöhung der emotionalen Bindungskraft der Marke
  • Stärkung der langfristigen Kundenloyalität
  • Steigerung der Wechselkosten des Käufers zu einem alternativen Anbieter
  • vorausschauende Bedarfsplanung
  • mehr Customer Intelligence für das Unternehmen gegenüber seinen Mitbewerbern durch die Verfügbarkeit granulierter Informationen über Kundenpräferenzen und – dank IoT-Sensorik im Endprodukt – über das Nutzungsverhalten, sogar in Echtzeit
3. Teil: „Vorsprung durch Wissen“

Vorsprung durch Wissen

  • Kompakt: 3D-Technik kann durchaus elegant aussehen, wie das Beispiel des 3D-Scanners von Mifitto zeigt.
    Quelle:
    mifitto
Eine wesentliche Folge der fortschreitenden Individualisierung ist: Noch nie war ein umfassendes Verständnis für Kundenbedürfnisse so wichtig wie heute. 90 Prozent der für „SCM World Value Chain 2020“ befragten Unternehmen haben denn auch schon konkret erfahren, dass ihre Kunden individualisierte Produkte schätzen würden. Gleichzeitig haben 74 Prozent der Führungskräfte eingeräumt, dass es für sie schwierig sei zu beurteilen, worauf die Kunden wirklich Wert legen und für welche Art von individualisierten Angeboten sie bereit wären, einen Aufpreis zu zahlen.
Hier könnten Big Data und IoT-Sensorik Abhilfe schaffen. Sie ermöglichen ein tief greifendes Verständnis für Kundenbedürfnisse und damit zielgenaue Kurskorrekturen. Die konventionelle Wertschöpfungskette erbringt dagegen eine massenmarktoptimierte Leistung in nahezu völliger Isolation vom Verbraucher. IoT ermöglicht erstmals eine enge Verzahnung zwischen dem Leistungsempfänger (dem Käufer oder Anwender) und dem Hersteller beziehungsweise Leistungs­erbringer.
Vorreiter sind Start-ups in der Insurtech-Branche, die mit IoT-gestützten Methoden der Risikobewertung experimentieren, um individualisierte Versicherungsangebote zu ent­wickeln. Die Plattform TrueMotion etwa ermöglicht es Autoversicherern, den individuellen Fahrstil des Fahrers in ihre Kalkulationen einzubeziehen. Und das kalifornische Start-up Sureify Labs hat eine leistungsstarke Analytics-Plattform entwickelt, die Sensordaten aus einer Vielzahl von IoT-Endgeräten anzapfen kann, um eine Lebensversicherung verhaltensgerecht und datengetrieben zu individualisieren. Eine Krankenkasse oder Lebensversicherung könnte damit beispielsweise auf Daten eines Fitness-Trackers zugreifen, um die gesunde Lebensweise eines Ver­sicherten bei der Berechnung individueller Versicherungsbeiträge zu seinen Gunsten zu berücksichtigen.

Kompressionshemd von Under Armour

Befeuert werden solche Entwicklungen von der rasch zunehmenden Zahl IoT-fähiger Gegenstände. Ein bemerkenswertes Beispiel kommt etwa vom Sportbekleidungshersteller Under Armour. Die US-amerikanische Firma hat ein mit Sensorik gespicktes Kompressionshemd entwickelt, das in der Lage ist, diverse leistungs- und gesundheitsbezogene Kennzahlen zu erfassen – unter anderem die Herzfrequenz, den Stoffwechsel, die Körperposition und die Lungenkapazität. Diese Daten helfen, das Training individuell anzupassen. Den Zuschauern könnten aber zum Beispiel auch die Messwerte von Stars auf einer Stadion­anzeige angezeigt werden. IoT-fähige Kleidungsstücke wie das Kompressionshemd von Under Armour verleihen dem Begriff Kundennähe eine neue Bedeutung.
IoT-gestützte Individualisierung bietet Unternehmen neue Anhaltspunkte für die Entwicklung kundengerechter Angebote und die persönliche Kundenansprache. Big Data bildet hierbei eine Wissensbasis für die Entwicklung neuer bedarfsgerecht individualisierter Produkte und Dienstleistungen.
Eine weitreichende Individualisierung verschafft dem Anbieter nicht nur klare Wettbewerbsvorteile, sondern auch eine zusätzliche Hebelwirkung: Mit steigender Integra­tionstiefe und zunehmender Dauer der Kundenbeziehung wachsen aus Sicht des Käufers nämlich die Kosten des Wechsels zu einer alternativen Lösung. Dank individualisierter Produkte und Dienstleistungen kann sich der Anbieter dem direkten Preisvergleich mit Mitbewerbern entziehen und eine wert­orientierte statt einer kostenorientierten Preispolitik verfolgen.
Diese Strategie fährt unter anderem Amazon.com unter der Bezeichnung Dynamic Pricing – noch mit gemischtem Erfolg.
4. Teil: „Tücken der Preisfindung“

Tücken der Preisfindung

Die Preise auf Amazon.com schwanken im Lauf eines Tages mitunter ohne ersichtlichen Grund recht erheblich. Sowohl die vielen Drittanbieter als auch Amazon selbst testen gern die Bereitschaft der Käufer, mehr zu zahlen – und manchmal auch die Neigung der Mitbewerber, sich auf einen Preiskrieg einzulassen. Die tägliche Preisgestaltung auf Basis von Künstlicher Intelligenz ist bei Amazon mittlerweile gang und gäbe, und Lösungen wie der Amazon Algorithmic Repricer von Feedvisor gelten als bewährte Werkzeuge zur Maximierung der Gewinnspanne.
Wenn jedoch das „individualisierte“ Marketing dem Käufer keinen Mehrwert bietet, dann ist ein Desaster vorprogrammiert. Im September vergangenen Jahres musste Amazon genau diese Lektion auf schmerzliche Weise lernen. Der E-Com­merce-Gigant hatte dieselbe Massenware an Einzelkunden zu wesentlich unterschiedlichen Preisen verkauft – zeitgleich. Die Käufer fanden, der Internetriese habe es mit seiner Experimentierfreude zu weit getrieben. Die Empörung war immens, weil der Online-Anbieter in seine Preisgestaltung Daten wie das durchschnittliche Haushaltseinkommen am Wohnsitz des Käufers, das Alter oder ähnliche demografische Kennzahlen einbeziehen könne, die mit dem Produkt selbst gar nichts zu tun haben.
Amazon hat sich denn auch prompt entschuldigt und den betroffenen Käufern das Geld erstattet. Doch der Imageschaden blieb. Individuelle Preisgestaltung ohne neue Wertschöpfung hat sich für Amazon als klarer Fehler erwiesen.
Damit Individualisierung zum Erfolg führt, muss sie für den Kunden zumindest subjektiv einen Mehrwert schaffen. Gelungen ist das zum Beispiel Chocri.de. Auf dem Webportal der traditionsbewussten Schokoladenmanufaktur können Käufer Form, Verpackung und Zutaten ihrer Schokoladen­tafel konfigurieren. Das handgemachte Produkt, das dabei herauskommt, verfügt über einen Mix-Code, der dem Käufer bei einer Nachbestellung trotz der mehr als 27 Milliarden Optionen eine garantierte Punktlandung sichert.
Was eine Schokoladenmanufaktur kann, können auch andere Hersteller. Mit der App BMW Individual 7er Augmented Reality können Käufer ihr Wunschauto aus individuellen Bauteilen konfigurieren und anschließend virtuell in Szene setzen. So entsteht – in den Worten des Autobauers – „eine faszinierende Einheit aus Realität und Vorstellung“.
Der Kunde kann sein Wunschfahrzeug auf dem Smart­phone etwa vor der eigenen Haustür „parken“ und aus allen Blickwinkeln betrachten, um seiner Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen. Das virtuelle Auto verleiht dem persönlichen Stil des Fahrers einen sichtbaren Ausdruck und markiert den Anfang der Customer Journey, die mit dem Kauf nicht enden muss – bei BMW beginnt sie dann sogar erst richtig.

Fazit

Im digitalen Zeitalter müssen sich Unternehmen einer neuen Herausforderung stellen: Verbraucher erwarten flexible, anpassungsfähige, maßgeschneiderte Lösungen, die sie selbst mitgestalten. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Digitalverbands Bitkom, bringt es auf den Punkt: „Digitalisierung heißt Individualisierung.“
Mit Technologien wie IoT-Sensorik, Big-Data-Analyse und 3D-Druck wird die kundengerechte Individualisierung Wirklichkeit.

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