Digitalisierung
14.09.2017
Mitarbeiter-Recruiting 4.0
1. Teil: „Digitale Transformation in der HR“

Digitale Transformation in der HR

Recruitment 4.0Recruitment 4.0Recruitment 4.0
Wright Studio / shutterstock.com
Integritätstests und Sprachanalyse – das sind die neuen Methoden der Personalauswahl. Große Unternehmen setzen inzwischen auf Roboter-Recruiting.
Die Rekrutierung von Personal ist alles andere als einfach. Je nach Stelle, die es zu besetzen gilt, gibt es verschiedene Methoden, um Kandidaten auszuwählen. Der klassische HR-Mitarbeiter, der den Bewerbungsprozess adminis­trativ abwickelt, hat ebenso ausgedient wie die klassische Bewerbung. Längst hat die Digitalisierung den Recruiting-Prozess transformiert. Die HR-Verantwortlichen müssen die Vor- und Nachteile der neuen Werkzeuge kennen und die Bewerber sollten wissen, was ihnen so alles blühen kann.

Die Robotermethode

Was für das Aufspüren potenzieller Kunden und Geschäftschancen gut ist, kann für das Aufspüren des richtigen Kandidaten für eine Stelle nicht so falsch sein. Deshalb wenden gerade Großunternehmen Big-Data-Analysetechniken auch bei der Mitarbeitersuche an. Roboter-Recruiting nennt sich diese Methode salopp, mit der Kandidaten schneller, effizienter und angeblich auch gerechter beurteilt werden können. Nicht der Personalchef und sein Bauchgefühl, sondern Algorithmen entscheiden, wer sich persönlich vorstellen darf und wer gleich von Anfang an rausgekickt wird.
Wer seinen Lebenslauf nicht computerkonform designt, hat dann mitunter Pech. Ein Analyseprogramm durchforstet die Bewerbungen nach vorher definierten Erfolgsmustern und wird so jene potenziellen Mitarbeiter herausfiltern, die optimal zum Anforderungsprofil passen. Alles, was man für die Stelle nicht will, sondert der Computer automatisch aus. Will jemand keinen Kandidaten mit geisteswissenschaftlichem Background, raus damit. Keine Auslandserfahrung, zu oft oder zu selten den Job gewechselt, nicht der perfekte Notendurchschnitt? Delete. Auch eine Kündigungswahrscheinlichkeit lässt sich per Datenanalyse ausrechnen.
Das klingt alles nicht sehr einladend, die Methode hat aber durchaus ihre Vorteile: Sie spart der HR-Abteilung viel Zeit, die Trefferquote ist zwar niedriger, aber oft genauer. Vor allem bei gefragten Jobs, auf die sich Hunderte bewerben, oder wenn es in erster Linie um ganz spezifische technische Skills geht, kann die Computermethode sehr hilfreich sein. In den USA sieben mittlerweile praktisch alle Großkonzerne ihre Kandidaten damit aus. Entscheidet die Software, nicht ein Mensch, bekommen zudem auch Kandidaten eine Chance, die einen nicht ganz so makellosen Lebenslauf vorzuweisen haben. Der Computer, je nachdem wie er programmiert wurde, selektiert in der Regel auch nicht nach Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, Religion, Kleidung oder Gesicht, er diskriminiert also nicht. Klischees und Emotionen bleiben außen vor. Und Bewerber können sich kreative Motivationsschreiben und ausgefallenes Design für ihre Unterlagen sparen.
2. Teil: „Ist ein Kandidat integer?“

Ist ein Kandidat integer?

Der Firmenchef stellt seinen Golfpartner oder seinen Neffen ein, auch wenn andere besser für die Stelle geeignet wären. Ein Mitarbeiter läuft den ganzen Tag durchs Büro und prahlt mit seinen großartigen Leistungen fürs Unternehmen, während die Kollegen seine Arbeit erledigen. Andere schreiben Überstunden auf, die sie gar nicht geleistet haben, frisieren Spesenabrechnungen, reden schlecht über Kollegen und manch einer macht Homeoffice mit Betonung auf Home. Und natürlich gibt es auch immer wieder Mitarbeiter, die der Konkurrenz Firmengeheimnisse verraten, Daten verkaufen oder sich bestechen lassen. Auf der anderen Seite können manche nicht Nein sagen oder führen ohne Eigeninitiative nur Dinge aus, die der Vorgesetzte von ihnen verlangt, und mögen sie noch so sinnentleert erscheinen.
Wer kennt in seinem beruflichen Umfeld nicht solche oder ähnliche Situationen? Hinzu kommt, dass sich die unkollegialsten Leute häufig selbst für ausgesprochen sozial kompetent und für ethisch-moralisch einwandfrei oder gar überlegen halten. Im harmlosesten Fall sorgen derartige Arbeitskollegen oder Führungskräfte für schlechte Stimmung und Frustration, schlimmstenfalls entsteht dem Unternehmen messbarer finanzieller Schaden.
Wer sich nicht integer verhält, vergiftet das Arbeitsklima und letztlich auch die Firmenkultur. Auch wenn beim Recruiting neuer Mitarbeiter noch mehrheitlich die Fachkompetenz im Aufmerksamkeitsfokus steht, gewinnt der Integritätsgrad, also Werthaltungen und Prinzipienorientierung potenzieller Kandidaten, zunehmend an Bedeutung. Doch wie und woran erkennt man, ob ein Job-Kandidat integer ist? Lässt sich ethische Kompetenz überhaupt beurteilen?

20 Prozent fallen durch

„Die Integrität eines Menschen lässt sich nicht wirklich messen“, sagt Eva Häuselmann vom Beratungsunternehmen Despite. Allerdings kann man mit Hilfe eines ausführlichen Assessments herausfinden, ob ein Kandidat den Anforderungen bezüglich Integrität einer Stelle gewachsen ist, und zwar sowohl menschlich als auch der jeweiligen Unternehmenskultur entsprechend. Dafür hat Häuselmann zusammen mit Carmen Tanner von der Universität Zürich und der Zeppelin Universität Friedrichshafen, die zu Moral Intelligence forscht, ein Konzept entwickelt. Damit werden in ausgedehnten Assessment-Sitzungen potenzielle Kandidaten auf Herz und Nieren geprüft und beurteilt.
Je nachdem welche Anforderungen bei der ausgeschriebenen Stelle im Fokus stehen, kommen auch verschiedene Rollenspiele zum Einsatz, in denen die Bewerber mit moralischen Grenzsituationen konfrontiert werden, die sich im Arbeitsalltag tatsächlich ereignen könnten. Despite ist vor allem auf Fachkräfte aus der Informatik spezialisiert.
150 Assessments hat Häuselmann schon durchgeführt. Ihr Fazit: Knapp 20 Prozent der Kandidaten bestehen den Test nicht. Denn die praxisnahen Übungen, in denen der Kandidat beispielsweise die Rolle eines Abteilungsleiters und ein professioneller Schauspieler die des Vorgesetzten übernimmt, sind eine stressige Gratwanderung zwischen Richtig und Falsch. „Wir sagen nie, der Kandidat handelt falsch oder könnte, wenn sich ihm Gelegenheit bietet, kriminell werden. Aber sein Verhalten birgt mitunter ein Risiko in sich, das der potenzielle Arbeitgeber nicht eingehen will“, erklärt Häuselmann.
3. Teil: „Jasager und Einknicker“

Jasager und Einknicker

Rund 17 Prozent zeigten ein Risikoverhalten, soll heißen, bis zu einem Sechstel der von Despite geprüften Bewerber entsprechen nicht den hohen Anforderungen der Auftraggeber. Konkret bedeutet das, dass ein Kandidat beispielsweise nichts hinterfragt und gegenüber Aufträgen unkritisch ist. „Viele stellen keine Fragen, denken nicht mit und machen alles, was man ihnen sagt“, so die Beraterin. „Derartiges Verhalten steht meist nicht im Einklang mit den Firmenwerten.“
Andere wiederum hätten kein Rückgrat, knickten vor Autoritäten ein und schöben die Schuld anderen in die Schuhe, um ihr Gesicht zu wahren. „Vor allem in der IT-Abteilung kann so ein Verhalten verheerende Folgen nach sich ziehen.“ Für Projekte steht immer weniger Zeit zur Verfügung, der Chef drängt auf termingerechten Abschluss, wer neigt hier nicht dazu, mal einen Testlauf ausfallen zu lassen oder etwas freizugeben, bevor beispielsweise die Sache mit dem Copyright abgeklärt ist? „In sicherheitssensiblen Bereichen geht es nicht, dass man eine Abkürzung nimmt“, warnt Eva Häuselmann. Es drohen sicherheitsrelevante oder rechtliche Desaster.
Hauptsächlich im IT-Bereich eines Unternehmens reicht es also bei Weitem nicht aus, wenn nur die Technologie sicher ist. Man müsse sich auch die Menschen, die damit arbeiten, ganz genau ansehen, so die Beraterin.

Drittmeinung erwünscht

Gelegenheit macht Diebe, heißt es, aber nicht jeder nimmt die Gelegenheit auch wahr. Es lohne sich deshalb, genau hinzuschauen. Der Schweizer Logistikkonzern Valora beispielsweise lege auf eine gesamtheitliche Beurteilung eines potenziellen Mitarbeiters Wert, sagt CIO Roberto Fedele. Neben Fachkenntnissen würden daher auch Werte systematisch in die Entscheidungsbasis einfließen, „um mit situativer Unterstützung durch externe Berater auch Funktionen mit erhöhten Anforderungen (Führungskräfte oder Spezialisten) nachhaltig besetzen zu können“, so der Valora-CIO.
Das Unternehmen Switzerland Global Enterprise (S-GE) prüft die Integrität potenzieller Mitarbeiter ebenfalls über eine unabhängige Drittmeinung, wenn auch erst auf Geschäftsleitungsstufe. Weitere Tools für alle Stufen würden aber geprüft.
Bei den Schweizerischen Bundesbahnen SBB werden Fachkompetenzen im Rahmen der Vorstellungsgespräche durch Vorgesetzte und Peers geprüft. „Damit sind wir bisher gut gefahren“, sagt CIO Peter Kummer: „Führungskompetenzen prüfen wir aktuell auch mit Unterstützung externer Assessments.“
Das macht auch das Industrieunternehmen Sulzer so: Bei höheren Positionen führt es ein eintägiges Assessment-Center bei einer externen Firma durch. Das Software-Unternehmen Netcetera schließlich führt bei der Fachkräfterekrutierung intern vertiefte Befragungen und Tests durch, bei der Besetzung von Führungspositionen auch externe Assessments. Denn: Auch in den Chefetagen muss sich etwas bewegen.
4. Teil: „Arbeit mit den Führungskräften“

Arbeit mit den Führungskräften

Voraussetzung dafür ist eine Unternehmenskultur, die auf ethisch-moralischen Werten aufbaut und integres Verhalten fördert. Eine solche sei aber keinesfalls schon überall vorhanden, sagt Eva Häuselmann von Despite. „Wir müssen mit den Führungskräften arbeiten und diese schulen. Der Fisch stinkt bekanntlich ja vom Kopf her.“ Auch Chefs handeln mitunter unmoralisch, sind keine Vorbilder und schaden dem Unternehmen, indem sie den Nährboden für Verstöße gegen gesetzliche und soziale Regeln bereiten.
Die Führungsebene muss einerseits an sich selbst arbeiten, andererseits aber auch den Mitarbeitern erlauben, die Hand zu heben und gegen den Chef zu sprechen, kritisch zu sein und auch mal Nein zu sagen.
Wenn eine Firmenkultur funktioniert, gibt es im Unternehmen Möglichkeiten, um Interessenkonflikte und Probleme anzusprechen und zu lösen. Diese reichen von regelmäßigen Teamsitzungen bis zu einer Compliance-, Inte­grity- oder Whistleblower-Hotline. Die Recruiting-Prozesse werden also insgesamt strenger, genauer und komplexer. Darauf müssen sich Unternehmen und auch potenzielle Kandidaten ein­stellen.
Am Ende noch ein Rat eines anonym bleiben wollenden Fachkräftebeschaffers: Er rekrutiert seit zwei Jahren Mitarbeiter primär über Connections auf Messen, Empfehlungen aus dem Umkreis und in ungezwungenem Rahmen, etwa beim Essen: „Seitdem sind die Re­krutierungserfolge stark gestiegen.“
Recruiting mit KI: Du bist, wie du sprichst
Das Aachener Unternehmen Precire Technologies hat eine Software entwickelt, die anhand der Sprache Rückschlüsse auf den Charakter eines Menschen ziehen und erkennen will, ob ein Bewerber zu einem Unternehmen passt oder nicht.
Sprache ist so individuell wie ein persönlicher Fingerabdruck. Precire identifiziert mit Künstlicher Intelligenz Muster in gesprochener und geschriebener Sprache, leitet daraus linguistische, psychologische und kommunikationsbezogene Merkmale ab und erstellt ein detailliertes Persönlichkeitsprofil. Dabei werden neben sogenannten Natural-Language-Processing-Verfahren auch spezifische Textmuster wie Wortkombinationen, Wortfolgen und Satzstrukturen sowie Sprechgeschwindigkeit, Betonung, Anzahl Pausen oder Lautstärke erfasst und ausgewertet. Mit Hilfe einer Referenzgruppe von über 5000 Personen wurde ermittelt, welche Sprachmuster typisch sind bezüglich Motiven, Einstellungen und Verhalten. Precire verwendet Machine Learning und Data-Mining-Algorithmen, die Treffsicherheit soll bei 85 Prozent liegen.
Ein zwanzigminütiges, automatisiertes Telefoninterview soll valide Aussagen zu Kommunikation, Persönlichkeit und Kompetenzen machen. Das Unternehmen verspricht eine Senkung der Frühphasenfluktuation um 45 Prozent, der Time2Hire um 60 Prozent und auch, dass keine echten Talente versehentlich ausgesiebt werden. Die Software lässt sich auch bei der Personalentwicklung, für die Messung der Kundenzufriedenheit und in den Bereichen PR und Media sowie Risk und Chance einsetzen. Mit „VoiceCheck“ und „VoiceReflection“ sollen sich zudem psychische und mentale Belastungen sowie fördernde und hemmende Kommunikationsmuster im Berufsalltag erkennen lassen.

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