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07.11.2021
Accenture

„Deutschland kann viel mehr, als wir gedacht haben“

Accenture / Oliver Rüther
Frank Riemensperger, bis Ende August Chef von Accenture, über Digitalisierungschancen für Industrie und Mittelstand, Arbeiten nach der Pandemie und die Forderung nach einem Digitalministerium.
Accenture ist eine der weltweit größten Unternehmensberatungen und Technologie- und Outsourcing-Dienstleister. Im Interview mit com! professional spricht der langjährige Deutschland-Chef Frank Riemensperger über Deutschland und die Digitalisierung.
com! professional: Herr Riemensperger, die Pandemie hat in Deutschland zu einem enormen Digitalisierungsschub geführt. Was hat Sie am meisten überrascht?
Frank Riemensperger: Was uns alle überrascht hat, war die unglaubliche Geschwindigkeit, in der Volkswirtschaften, nicht nur die deutsche, ihre Arbeitsweisen umgestellt haben. Digitalisierung war das Kernelement dieser Umstellung. Wer seine Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten nicht mehr treffen kann, muss digitale Wege der Kommunikation finden. Die meisten deutschen Unternehmen haben das binnen weniger Tage gemeistert – eine enorme Leistung.
com! professional: Wie ist es Accenture ergangen?
Riemensperger: Die Auftragslage und die wirtschaftliche Situation waren außerordentlich gut. Das ist aber auch kein Wunder, schließlich ist Digitalisierung unser Kerngeschäft. Die Kunden wollten schnelle Lösungen – und genau die können wir liefern. Dadurch haben wir Marktanteile gewonnen.
com! professional: Wo in Wirtschaft und Gesellschaft lief es Ihrer Erfahrung nach weniger gut?
Riemensperger: Es gibt zahlreiche Beispiele, wo Institutionen der öffentlichen Hand sich als nicht gut vorbereitet gezeigt haben. Wir reden seit Jahren über die digitale Verwaltung, aber die Realität sieht nach wie vor anders aus. So konnten Sie während des Lockdowns kein Auto anmelden, weil die Kfz-Zulassungsstellen geschlossen waren. Wir müssen einfach mehr tun, wenn es um die Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung und in der Bildung geht.
com! professional: Zum Teil können die Ämter aber auch gar nicht digitalisieren, weil die Gesetze für bestimmte Verwaltungsakte zwingend die Schriftform auf Papier verlangen. Muss sich da nicht auch etwas ändern?
Riemensperger: Auf jeden Fall, darüber diskutieren wir doch schon seit zehn Jahren. Andere Länder um uns herum haben den Zwang zur Schriftform längst abgeschafft und durch digitale Signaturen und Identitäten ersetzt. Wir wissen, dass das auch hierzulande funktionieren kann. Deutschland hat kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.
com! professional: Liegt die schleppende Digitalisierung der öffentlichen Hand am föderalen System?
Riemensperger: Sicher macht der Föderalismus die Umsetzung schwieriger. Ich glaube aber vor allem, dass es bis zur Corona-Krise am notwendigen Ehrgeiz gefehlt hat. Wir brauchen ein höheres Ambitionsniveau, eine größere Geschwindigkeit in der Umsetzung – nicht bloß Ankündigungen.
com! professional: Politiker und Wirtschaftsvertreter erklären gern, es liege am Datenschutz, dass die Digitalisierung in Deutschland stockt. Was halten Sie davon?
Riemensperger: Data Privacy ist gut und wichtig. Digitalkonzerne wie Amazon, Google, Facebook und viele weitere machen mit den bestehenden Datenschutzregeln gute Geschäfte. Es kann also keiner behaupten, er würde durch Datenschutzregeln an der Digitalisierung gehindert, denn die Regeln gelten schließlich für alle. Das ist keine stichhaltige Begründung.
com! professional: In Ihrem Buch „Titelverteidiger“ von 2019 zeichnen Sie eine positive Digitalisierungsper­spektive für die deutsche Wirtschaft. Halten Sie das nach den Erfahrungen der vergangenen 18 Monate aufrecht?
Riemensperger: Ich bin tatsächlich optimistischer als vor der Pandemie. Unsere Volkswirtschaft ist viel besser durch die Krise gekommen als unsere europäischen Nachbarn, ihre Wettbewerbsfähigkeit hat überhaupt nicht gelitten.
com! professional: Ist die digitale Welt nicht längst aufgeteilt? Wo ist noch Platz für deutsche Champions?
Riemensperger: Was die großen Business-to-Consumer-Plattformen angeht, ist die Aussage sicher richtig. Hier hat sich durch die Marktteilnehmer aus den USA – und zunehmend auch aus China – ein Oligopol herausgebildet. Aber das ist ohnehin nicht der Kern unserer Wirtschaft. Das ist die Industrie mit ihren Bauteilen, Maschinen und Anlagen. Deren Digitalisierung ist ungleich komplexer als der Aufbau eines Online-Retailers oder einer Social-Media-Plattform. Hier geht es grosso modo um die Infrastruktur für die physische Welt. Wer die digitalisieren will, muss erst einmal die physische Welt begreifen. Genau hier liegt die Chance für die deutsche Industrie. Wir müssen Stärken stärken und dort unsere Chancen suchen, im B2B-Umfeld, da wo es um Narrative geht, die die Menschen begeistern, etwa Mobilität, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Sicherheit und Sauberkeit.
com! professional: Aber auch in Kernbereichen der deutschen Wirtschaft wie der Automobilindustrie wächst die Konkurrenz. Was macht Sie so zuversichtlich?
Riemensperger: Die deutschen Autobauer haben sich längst auf den Weg gemacht, in ihrem Segment – das ist in der Regel das Luxussegment – Marktführer zu bleiben. Ich halte das für realistisch. Es ist auch für Tesla nicht einfach, qualitativ hochwertige Autos zu bauen. Das beherrschen die deutschen Konzerne perfekt, weil sie aus der physischen Welt kommen. In dieser Verbindung zwischen hochkomplexen Produkten und der Digitalisierung liegt unsere Chance.
com! professional: Wie bewerten Sie die Lage im deutschen Mittelstand? Oft herrscht hier noch ein sehr traditionelles Verständnis von Arbeit und Produktion?
Riemensperger: Hier trennt sich gerade die Spreu vom Weizen. Es gibt viele mittelständische Unternehmen, die seit Langem in eine durchgängige Digitalisierung investieren. Die haben sich natürlich in den vergangenen Monaten deutlich leichter getan. Andere der großen Mittelständler haben in der Krise richtig Geld ausgegeben, um in Rekordzeit bislang unterlassene Transformationen aufzuholen. Die meisten kleineren und mittleren Unternehmen beziehen ihre IT aber ohnehin schon größtenteils aus der Cloud, weil sie sich Eigenentwicklung und Eigenbetrieb gar nicht leisten können.
com! professional: Wie müssen sich Arbeit und Führung verändern, um den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht werden zu können?
Riemensperger: Auch wir haben uns das gefragt und direkt zu Beginn der Corona-Krise mit Raphael Gielgen von Vitra, einigen anderen Vordenkern und 15 Firmen in Deutschland in der Co-Creation-Studie „Work. Lead. Space.“ eine Vision für die Zukunft der Arbeit entwickelt. Arbeit, so unsere Überzeugung, sollte an ihrem Ergebnis gemessen werden und nicht daran, wie lange jemand physisch anwesend ist. Die immer kürzeren Zyklen und das agile Arbeiten in Sprints erfordern zudem eine andere Art der Führung. Sie muss empathisch und teamorientiert sein. Wer heute noch versucht, Führung durch Kontrolle zu praktizieren, hat verloren. Aber auch die Funktion des Büros wird sich komplett ändern. Arbeit, die nicht wie in der Produktion an einen festen Ort gebunden ist, kann überall stattfinden, sei es im Nachbarschaftscafé oder im Homeoffice. Deshalb geht es im Büro nicht mehr darum, etwas abzuarbeiten, sondern sich zu treffen, soziale Kontakte zu pflegen, Innovationen und Co-Creation zu entwickeln, Erfahrungen zu teilen. Das heißt auch, dass wir Gebäude umgestalten und den neuen Zwecken anpassen müssen. Die Welt der isolierten Einzelbüros mit geschlossenen Türen wird es kaum noch geben.
com! professional: Ist das auch einen Generationenfrage? Brauchen wir junge, neue Führungskräfte?
Riemensperger: Alle, die meinen, das sei eine Frage für die nächste Generation, haben als Arbeitgeber schon verloren. Wir suchen bei Accenture ja ganz aktiv nach neuen Talenten und haben selbst während der Krise in unserer Region Tausende von Mitarbeitern eingestellt. Es hat Monate gedauert, bis wir die neuen Kollegen das erste Mal im Büro treffen konnten. Wenn man das moderne, agile Arbeiten, die ganzen Erfahrungen, die Mitarbeiter machen, nicht als Designkriterium versteht, ist man als Arbeitgeber nicht mehr attraktiv. Es gibt mehr Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften als es Angebot gibt, das ist ein knallharter Wettbewerb.
com! professional: Wie können Mittelständler da mithalten, die irgendwo auf dem platten Land sitzen?
Riemensperger: Man muss den Mitarbeitern erklären können, warum sie genau für dieses Unternehmen arbeiten sollten, was dessen Purpose ist. Ist deine Arbeit gut für dich, für die Firma, für die Welt? Wenn die Leute außerdem nicht mehr jeden Tag ins Büro kommen müssen, ist man auch nicht mehr auf die Fachkräfte aus der Region angewiesen, der adressierbare Talentmarkt wird dadurch viel größer.
com! professional: Wie wichtig wird physische Anwesenheit bleiben? Werden in allen Bereichen, in denen das möglich ist, nur noch virtuelle Teams arbeiten?
Riemensperger: Wir sehen aktuell ganz viele unterschiedliche Varianten und Modelle. Eines haben sie gemein: In allen Modellen haben die Menschen den Wunsch, physisch aufeinander zu treffen, das ist ein Teil der Kultur.
com! professional: Sie haben das Thema Purpose, Unternehmenszweck, erwähnt. Ist es für junge Talente wirklich so wichtig, welchen Sinn ihre Arbeit hat?
Riemensperger: Absolut. Ganz viele unserer Kandidaten erkundigen sich nach unserer Einstellung zum Thema Nachhaltigkeit und wollen wissen, welche Maßnahmen wir durchgeführt haben oder planen. Auch Inclusion & Diversity sowie Corporate Social Responsibility sind wichtige Entscheidungskriterien – sicher nicht für alle, aber doch für immer mehr. Das sind heute alles Must-haves und nicht länger Optionen. Die Fachkräfte achten auch sehr genau darauf, ob es sich nur um Lippenbekenntnisse handelt oder ob das Unternehmen tatsächlich lebt, was auf der Webseite versprochen wird. Da muss man sich an seinen Taten messen lassen.
com! professional: Viel diskutiert werden zudem die Folgen der Künstlichen Intelligenz. Auch die EU beschäftigt sich mit den Risiken und will den Einsatz von KI regulieren. Was halten Sie von solchen Bestrebungen?
Riemensperger: Bei KI verhält es sich wie mit Wirkstoffen in der Pharmazie: Man kann damit heilen, man kann aber auch Menschen umbringen. Sollte man also die Forschung an den Wirkstoffen reglementieren? Wer die bessere Forschung hat, generiert am Ende auch die leistungsfähigeren Anwendungen. Anders sieht es bei der Künstlichen Intelligenz aus. Dürfen mit KI ausgestattete Maschinen in Kampfhandlungen selbstständig entscheiden, ob Menschen getötet werden? Das ist eine zutiefst ethische Frage, die von der Politik beantwortet werden muss. Aber das ist nur ein Einsatzgebiet von Tausenden. Es gibt unzählige Fälle, wo KI das Leben der Menschen verbessern kann, etwa im Straßenverkehr oder in der Medizin. Sie alle zu regulieren, wäre falsch und würde den Menschen die Chance auf ein besseres Leben nehmen. Daher sollten wir eine Regulierung finden, die unerwünschte Anwendungen klar unterbindet, aber genug Freiraum für Forschung und Entwicklung erwünschter Szenarien lässt. Um hier die richtige Balance zu finden, sind Lösungen mit Augenmaß notwendig.
  • Schwierige Balance: Die Wirtschaft sucht nach Corona ihren Weg zwischen Homeoffice und Präsenzarbeit.
    Quelle:
    Shutterstock / Girts Ragelis
com! professional: Muss KI nicht transparenter werden?
Riemensperger: Das ist ein ganz großes Thema. Ich bin selbst im Aufsichtsrat des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz und weiß, dass in der Forschung intensiv an „Explainable AI“ gearbeitet wird, also daran, die Erklärbarkeit von KI-Entscheidungen zu verbessern.
com! professional: Würde das die Akzeptanz erhöhen?
Riemensperger: Sicherlich stärken solche Maßnahmen das Vertrauen in die KI. Es wäre gut, zu verstehen, warum ein Algorithmus beispielsweise bei therapeutischen Maßnahmen zu einer bestimmten Empfehlung gekommen ist. Explainable AI löst allerdings nicht das eigentliche Problem. Die Kontroverse entsteht ja nicht an der Technologie selbst, sondern bei den Anwendungsmöglichkeiten: Ist das Resultat besser, weil sich erklären lässt, warum eine intelligente Kampfmaschine einen Menschen tötet? Mit Sicherheit nicht. Das bleibt ein unerwünschtes Einsatzgebiet. Und hier gilt es zu differenzieren.
com! professional: Welche Rolle spielt die Politik insgesamt für die Erfolgschancen der Digitalisierung?
Riemensperger: Der Stellenwert der Digitalisierung ist durch Covid-19 parteiübergreifend enorm gewachsen und alle Parteien haben ein explizit digitales Programm aufgelegt. Während man das auf der Seite des Digitalverbands Bitkom sehr schön nachlesen kann, taucht das Thema Digitalisierung im Wahlkampf kaum auf. Das finde ich schade. Es ist inhaltlich immens wichtig, denn es bestimmt unsere Zukunft.
com! professional: Manche Parteien fordern ein eigenes Digitalministerium, das alle Kompetenzen für die Digitalisierung bündelt. Was halten Sie davon?
Riemensperger: Diese Forderung sehe ich durchaus kritisch. Digitalisierung betrifft ja jeden Bereich, es kann also kein einzelnes Ministerium geben, das für die anderen die Digitalisierung „macht“. Alle Ministerien müssen digital kompetent sein, egal ob es sich um das Finanz-, das Innen- oder das Landwirtschaftsministerium handelt. Wenn ein Digitalministerium aber eine gemeinsame Infrastruktur für alle Ministerien bereitstellte, wäre das ein Fortschritt.
com! professional: Was sind abschließend die wichtigste Lehren, die Sie aus der Corona-Krise ziehen?
Riemensperger: Erstens: Eine rein digitale Arbeitswelt kann auf Dauer nicht funktionieren. Wir brauchen den direkten Austausch, auch wenn wir sicher nicht zur traditionellen Fünftagewoche im Büro zurückkehren werden. Viele junge Mitarbeiter wurden im Studium darauf trainiert, im Team zu agieren und sehr schnell in Sprints zu arbeiten. Diese hochqualifizierten Fachkräfte fühlen sich nach einem Jahr Homeoffice stark eingeschränkt. Deswegen müssen wir eine neue Arbeitswelt entwickeln, Zukunft gestalten – Work. Lead.Space., wie passt das zusammen?
Zweitens: Deutschland kann viel mehr, als wir gedacht haben! Was wir alles innerhalb kürzester Zeit an Fortschritt umsetzen konnten, ohne Abstimmungsgremien und Kommissionen, ist wirklich beeindruckend. Wenn wir einen Teil dieser Energie in die Zeit nach der Krise mitnehmen könnten, täte das allen gut.
Zur Person und Firma
Frank Riemensperger (Jahrgang 1962) war seit 2001 Vorsitzender der Geschäftsführung von Accenture Deutschland und seit 2020 Mitglied im Accenture Global Management Committee. Der Experte für Digitalisierung ist verantwortlich für die Weiterentwicklung nachhaltiger Marktstrategien und den Ausbau der Geschäftstätigkeiten in den deutschsprachigen Ländern. Angefangen hat der Informa­tiker bei Accenture 1989 als Spezialist für komplexe, IT-gestützte Unternehmenstransformationen. Ende August ist er in den Ruhestand gegangen. Seitdem führt die 47 Jahre alte Christina Raab die Geschäfte der Ländergruppe Deutschland, Österreich, Schweiz und Russland.

Accenture in Zahlen
Gründung: 1989
Zentrale: Dublin
Sitz in Deutschland: Kronberg bei Frankfurt a. M.
Mitarbeiter: 537.000 (DACH: 5000)
Kunden: 4000 weltweit
Umsatz: weltweit 44.300 Mio. Euro, Deutschland 2300 Mio.
www.accenture.com

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