Business-IT
21.03.2019
Swiss Infrastructure and Exchange
1. Teil: „Automatisierung und KI im Handel mit Finanzdaten“

Automatisierung und KI im Handel mit Finanzdaten

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Anton Khrupin anttoniart / shutterstock.com
Am Finanzplatz Schweiz werden Automatisierung und Künstliche Intelligenz großgeschrieben. Rund 20 Prozent der Daten müssen allerdings weiterhin manuell erfasst werden.
  • Robert Jeanbart: Leiter Financial Information der SIX
    Quelle:
    SIX
Die Finanzwelt bestand schon immer nur aus Daten. Einer der weltgrößten Händler von Finanz­informationen ist die Swiss Infrastructure and Exchange (SIX). Robert Jeanbart leitet die Geschäftseinheit Financial Information der SIX. Im Interview gibt er Einblicke in die Prozesse hinter dem globalen Datenhandel, benennt aber auch Herausforderungen wie weiterhin notwendige manuelle Tätigkeiten.
com! professional: Ihre Geschäftseinheit Financial Information hat ihren Ursprung in der Ticker AG. Was ist noch übrig aus den Gründungsjahren?
Robert Jeanbart: Die Ticker AG ist in den 1930er-Jahren von den Schweizer Banken gegründet worden. Sie hatte die Aufgabe, die Preise und Zeiten zu standardisieren. Die Banken wollten Vermögenswerte zu gleichen Bedingungen handeln. Dank der Ticker AG konnten sie Finanzprodukte mit einem eindeutigen Namen beziehen, bekamen identische Daten und zu einem Zeitpunkt X den gleichen Preis wie alle anderen Marktteilnehmer.
Dies war noch die Situation, als ich in den 1980er-Jahren in der Informatik einer Genfer Bank tätig war. Am Abend um 18 Uhr wurden die Bänder mit den Marktdaten des Tages geliefert. Erst wenn sie in die Bankrechner geladen waren, konnten wir in den Feierabend gehen. Denn das Einspielen dauerte dann bis zum nächsten Morgen.
Heute leistet SIX diese Dienste immer noch, allerdings ein bisschen anders. Unsere Datenbank umfasst Daten sowie Pricing-Infos für mehr als 27 Millionen Finanzinstrumente. Davon werden rund 80 Prozent vollautomatisch verarbeitet, bei den übrigen 20 Prozent ist noch Handarbeit erforderlich.
com! professional: Was sind das für manuelle Tätigkeiten?
Jeanbart: Die Kollegen lesen etwa Zeitung, um eine Dividende oder eine Geschäftsentwicklung nachzuvollziehen. Andere studieren Jahresberichte, um Finanzmarkt-relevante Entscheidungen zu identifizieren, oder sie rufen bei Firmen an, um Neuigkeiten zur Zusammensetzung der Geschäftsleitung zu erfahren. SIX hat alle diese manuellen Tätigkeiten ausgelagert. Unsere Partner in Indien und Polen leisten diese Arbeit und tragen die Informationen zusammen. Bei 27 Millionen Fakten sind 20 Prozent etwas mehr als 5 Millionen Daten.
2. Teil: „Nicht alle Daten sind digital verfügbar“

Nicht alle Daten sind digital verfügbar

  • Knotenpunkt: Am Züricher Hauptsitz der SIX laufen täglich Millionen Finanzdaten zusammen.
    Quelle:
    SIX
Bei elektronischen Informationen ist die Sache viel einfacher: Die Daten kommen herein und werden automatisiert verarbeitet. Dann ist der Job erledigt. Aber auch die Schweizer Börse etwa liefert nicht alles digital. Auch hier sind noch rund 20 Prozent manuelle Arbeiten erforderlich. Beispielsweise sind Steuerinformationen nicht in den Börsendaten enthalten, Beschlüsse einer Jahreshaupt­versammlung ebenfalls nicht. Manchmal sind Signale vorhanden, aber wir müssen dann immer noch herausfinden, was sie bedeuten.
com! professional: Sie handeln offenbar täglich mit einer riesigen Datenmenge. Was für Informationen sind das?
Jeanbart: Bei den über 27 Millionen Finanzinstrumenten handelt es sich um Informationen, die im Durchschnitt jeweils 3000 Attribute aufweisen. Nur um diese Daten zu verarbeiten, benötigen wir hochleistungsfähige Maschinen. Und natürlich unsere Kunden, die Banken, ebenfalls.
Die kleinste Schweizer Bank hat beispielsweise ein Port­folio von 10.000 Produkten. Bei mittelständischen Banken sind es rund 80.000, bei den großen Instituten zwischen 200.000 und 300.000 Produkte. Ein typischer Investor wird sich in der aktuellen Tiefzinsphase Aktien vorschlagen lassen, deren Wert stabil ist und die eine gute Dividende zahlen. Das Attribut „Dividende“ ist 1 von 3.000 in den Finanzdaten. Selbst die kleinste Bank mit ihren 10.000 Produkten muss für die Analyse 30 Milliarden Daten kalkulieren, um dem Investor ein adäquates Angebot unterbreiten zu können. Es wäre, als wenn ich um ein Glas Wasser bitten würde, dann aber eine ganze Zisterne über dem Glas ausgeschüttet würde. Das  Glas ist zwar voll, viel Wasser wäre aber verloren.
SIX hat dieses Problem adressiert mit seinem Service „SIX Flex“, bei dem die Kunden etwa nur die Dividenden von Swiss-Market-Index-Firmen beziehen können. Alle Daten liefern wir in Echtzeit, zu jeder Tages- und Nachtzeit sowie auf jede Plattform. Die Bestellung ist sogar am Smartphone möglich.
com! professional: Gibt es ein vergleichbares Angebot?
Jeanbart: SIX hat hier ein Alleinstellungsmerkmal. Schon in der Vergangenheit konnten wir Daten zwar liefern - wie auch die Marktbegleiter. Aber wir und auch sie konnten die Informationen nicht direkt ins Backoffice der Kunden einspeisen, um Prozesse wie Risikokalkulationen automatisiert anzustoßen. Das Einspeisen funktioniert neu mit SIX Flex.
3. Teil: „Regulierungen auf für Privatpersonen“

Regulierungen auf für Privatpersonen

com! professional: Welches sind noch weitere Alleinstellungsmerkmale von SIX?
Jeanbart: Die Regulierung betraf in den vergangenen 30 Jahren allein die Finanzinstitute und ihre An­gestellten. Von den neuen Vorschriften wie dem Automa­tischen Informationsaustausch (AIA), MiFID II,
  • Laufende Informationen: Die Daten der Tickerwand am SIX-Hauptsitz im Züricher Hard Turm Park liefert Robert Jeanbarts Geschäftseinheit Financial Information.
    Quelle:
    SIX
PRIIP und IRS 871(m) ist erstmals auch der private Investor betroffen. Anstatt früher rund 20.000 Banken werden nun zusätzlich noch 2 Milliarden Privatpersonen reguliert. Allen Vorschriften muss bei jeder einzelnen Transaktion zwischen Bank und Investor genügt werden. Und die Re­gulierung sieht vor, dass nur der ursprüngliche Hersteller eines Finanzprodukts verantwortlich ist sowie der Käufer (Investor) des Produkts allein die Entscheidung trifft.
Auf unserer Plattform können nun Händler wie UBS entsprechend den Regulierungen und den Anforderungen des Kunden ein Produkt wählen. In Echtzeit. Alle Angebote sind mit den notwendigen Informationen ausgestattet. Hier sprechen wir von 17 Millionen Fakten. So verbinden wir an einem Ort das ganze Universum der Einkäufer, Verkäufer, Produzenten und Distributoren von regulierten Finanzprodukten. Dieser Hub sucht seinesgleichen weltweit.
com! professional: Woher stammen die Produktideen?
Jeanbart: Der Schlüssel zum Erfolg in der Zukunft ist Innovation. Um innovativ zu sein, erfordert es manchmal „altes“ Know-how kombiniert mit neuem Talent. Aber insbesondere das neue Talent ist notwendig, damit Inno­vation entsteht. Denn das alte Know-how wird alles dafür tun, um seinen Status zu erhalten und sich so unersetzbar zu machen. Also versuchen wir, altes Know-how weitestgehend zu halten und viel neues Talent zu gewinnen.
com! professional: Wie gewinnen Sie neue Talente?
Jeanbart: Das ist einfach. Wir bieten den Talenten heute sowohl eine Vision als auch ein Versprechen an.
com! professional: Welche?
Jeanbart: Eine Geschäftsvision. Als ich hier vor vier Jahren antrat, stand SIX Financial Information nicht gut da. Wir schrieben rote Zahlen und hatten keine Idee, wie es weitergehen sollte. Unser Produktportfolio bestand aus unübersichtlichen 150 Lösungen und unsere Kundschaft war extrem diversifiziert. In dieser Situation definierten wir zuerst, welches unsere Zielmärkte und unsere Stärken sind. Auf der Basis eines soliden fachlichen Hintergrunds, einer wohldefinierten Zielgruppe und der Konzentration auf unsere Stärken schuf ich eine Strategie. Mit der Strategie können wir heute Leute überzeugen, für SIX zu arbeiten.
Hinzu kommt der Erfolg: Menschen arbeiten lieber in erfolgreichen Unternehmen als in Verliererfirmen. Niemand will in einem Konzern tätig sein, der jedes Jahr Dutzende Leute entlässt, weil er ihr Gehalt nicht bezahlen kann.
Und deshalb das Versprechen: Jeder einzelne Mitarbeiter hat heute die Möglichkeit, sich aktiv in das Geschäft einzubringen und sich in der SIX weiterzuent­wickeln.
com! professional: Haben Sie Ihren langjährigen Kollegen auch die „neue“ Geschäftsvision vermittelt?
Jeanbart: In einer meiner früheren Tätigkeiten war ich selbst ein Produktmanager für Telefone. Ich hatte bei der Entwicklung mitgeholfen und war stolz auf das Produkt, das ich nun verkaufen durfte. Als damals jemand Verbesserungsvorschläge machte, habe ich mein Produkt zunächst verteidigt. Bald erkannte ich aber, dass ich meine Fähigkeiten und Kenntnisse viel besser verwenden kann, um das Produkt weiter­zuentwickeln. Damit begann eine Entwicklung auch meiner eigenen Karriere.
Der Umgang mit langjährigen Kollegen ist die größte He­rausforderung unserer Zeit. Sie sollten zwar einen gewissen Stolz haben auf das Erreichte, sich aber nicht zu sehr mit den selbst entwickelten Produkten identifizieren. Sie sollten die Bereitschaft haben, ihr Wissen dafür einzusetzen, immer wieder neue Produkte zu entwickeln. SIX Flex ist genau so entstanden: Die Lösung basiert auf einem soliden Grundlagenwissen, das mit moderner Technologie kombiniert sowie umgesetzt wurde.
4. Teil: „Vollumfängliche Speicherung der Daten“

Vollumfängliche Speicherung der Daten

com! professional: Können Sie uns eine Idee von der IT-Infrastruktur hinter einer Lösung wie SIX Flex geben?
Jeanbart: Wenn wir allein die 27 Millionen Datenpunkte multiplizieren mit den 3.000 Attributen, dann sind wir bei 81 Milliarden Byte. Diese Menge generieren wir täglich. Sie wird verarbeitet, zum Teil für weitergehende Kalkulationen verwendet und täglich an Kunden übertragen.
com! professional: Müssen Sie die Daten speichern?
Jeanbart: Ja, wir speichern sämtliche Daten vollumfänglich. Nur so können wir eine lückenlose Historie generieren mit allen finanzrelevanten Ereignissen.
com! professional: Wie lang ist die Historie bereits? Reicht sie vielleicht sogar bis zur Ticker AG zurück?
Jeanbart: Offen gesagt weiß ich das nicht so genau. Wir haben einige Migrationen unserer IT-Systeme hinter uns, sodass möglicherweise nicht mehr alle Datensätze verfügbar sind. Aber trotzdem ist der Datenbestand sehr groß. Spannend ist, wie die Daten entstehen: Ich habe die 80 Prozent automatische und 20 Prozent manuelle Erfassung erwähnt. Um den Anteil der manuellen Arbeiten zu verringern, setzen wir seit zwei Jahren in einem Schweizer Pilotprojekt auf Machine Learning und Künstliche Intelligenz. Die Computerintelligenz erreicht heute einen Automatisierungsgrad von 75 Prozent bei den manuellen Tätig­keiten. Denn der Rechner kann selbstverständlich beispielsweise Jahresbilanzen, Webseiten oder Zeitungen genauso zuverlässig studieren wie ein Mensch.
com! professional: Welches wäre nach Ihrer Meinung ein ideales Einsatzgebiet für Künstliche Intelligenz?
Jeanbart: Eine exzellente Anwendung für Künstliche Intelligenz wären Schutzmaßnahmen im Wertpapierhandel. Wenn eine Aktie typischerweise für 15 Franken gehandelt wird, können Anleger definieren, dass der Wert zum Beispiel nicht unter 11 Franken fallen und über 18 Franken steigen darf. Alle anderen Veränderungen in diesem Bereich sind akzeptabel.
Als im Januar 2015 die Schweizerische Nationalbank SNB den Mindestkurs von Franken und Euro aufhob, stoppten alle Datenvendoren - sowohl Bloomberg und Thomson Reuters als auch wir - die Informationsübermittlung. Denn die Märkte spielten plötzlich verrückt. Dabei gab es überhaupt keine wirtschaftliche Grundlage für die Kursausschläge, sondern lediglich eine Ankündigung der SNB. Als die Ausschläge nach dem SNB-Entscheid während einer definierten Anzahl Sekunden und mit einer bestimmten Toleranz zu groß wurden, griffen die Schutzmaßnahmen. Der Handel betroffener Wertpapiere wurde automatisch gestoppt und die Experten gewarnt. Sie unterbrachen das Trading manuell und verschafften sich anschließend einen Überblick über die Situation.
Heute könnten Maschinen mit moderner Technologie und Künstlicher Intelligenz innerhalb von Millisekunden Millionen von Finanzdaten gleichzeitig verarbeiten. Anhand dieser Informationen wäre der Computer in der Lage zu erkennen, dass es sich um eine „normale“ Marktentwicklung handelt, bei der ein Handel weiterhin möglich ist.
com! professional: Wäre SIX heute besser vorbereitet?
Jeanbart: Ja. Ausgeklügeltere Eskalationsprozesse würden in einem vergleichbaren Fall viel schneller warnen. Zudem sind die Systeme heute noch besser örtlich verteilt, sodass von Anfang an mehr Informationen zur Verfügung stehen würden. Aber der letzte Entscheid, ob der Handel tatsächlich gestoppt wird oder nicht, liegt beim Menschen, damals wie heute. Dieser Entscheid bleibt der schwierigste - aber auch der wichtigste.

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