Digitalisierung
06.09.2019
Digital Business
1. Teil: „Von analog nach digital transformieren“

Von analog nach digital transformieren

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Sashkin / Shutterstock.com
Bei der Digitalisierung muss nicht das gesamte Geschäftsmodell umstrukturiert werden. Selbst kleine Projekte ebnen einen erfolgreichen Start in die Transformation, wenn das Management mitspielt.
  • Zeitenwende: Die Digitalisierung wirkt sich immer stärker auf die Produktpaletten aus. Neue Produkte entstehen, alte verschwinden.
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Auf den ersten Blick sieht die Lage in Deutschland gar nicht schlecht aus, was die Digitalisierung von Produkten und Services betrifft. So bieten laut ITK-Verband Bitkom 53 Prozent der Firmen schon neue digitale Lösungen an. Und fast drei Viertel der Unternehmen passen vorhandene Dienstleistungen und Produkte an.
Doch trotz dieser Zahlen ist bei der Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle durchaus noch Luft nach oben. Das zeigt eine Studie von Tata Consultancy Services (TCS). Das Beratungshaus hat analysiert, welchen Erfolg digitale Business-Modelle von Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren hatten. Befragt wurden Chief Information Officer (CIOs) von Unternehmen in Deutschland, den USA, Kanada, Großbritannien und den Niederlanden. Ergebnis: Rund 36 Prozent der Firmen waren mit Geschäftsmodellen, Produkten und Dienstleistungen erfolgreich, die einen rein digitalen Ansatz verfolgten oder auf digitalen Technologien basierten. Dagegen meldeten 38 Prozent der Befragten keinen oder nur einen geringen Erfolg.
„Die Erfahrungen überraschen nicht. Denn digitale Geschäftsmodelle erschließen sich nicht sofort, sondern sind oft Ergebnis eines längeren Transformationsprozesses im Unternehmen“, erläutert Kay Müller-Jones, Leiter Consulting und Services Integration bei TCS. „Zu beachten ist außerdem, dass die Digitalisierung von Produkten und Dienstleistungen an sich noch nicht notwendigerweise neue Umsatzpotenziale generiert“, so Müller-Jones weiter. Vielmehr müssten die digitalen Services bei Produktherstellern ein zentraler Bestandteil des Kernprodukts selbst werden, um dessen langfristige Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen.
2. Teil: „Analog, digital, hybrid“

Analog, digital, hybrid

Das Beratungsunternehmen Horváth & Partners differenziert in einer Studie zum Thema digitale Geschäftsmodelle zwischen drei Gruppen:
Analoge Ansätze: Sie nutzen traditionelle Vertriebskanäle für den Verkauf von Produkten und Services, die sich durch die Digitalisierung kaum verändert haben.
Digitalisierte Modelle: Ein Teil des Umsatzes wird mit traditionellen Angeboten generiert, ein Teil mit digitalen Produkten und Dienstleistungen. Die Produktpalette wird in Richtung Digitalisierung und Steigerung des Kundennutzens ent­wickelt.
Digitale Geschäftsmodelle: Ein Merkmal digitaler Geschäftsmodelle ist, dass überwiegend nicht physische Produkte oder Dienstleistungen angeboten werden. Horváth & Partners legt dabei drei Kriterien an: So müssen über 75 Prozent der Produktpalette nur aufgrund der Verwendung und Integration von digitalen Lösungen bestehen. Des Weiteren entsteht hier durch Anwendung und Integration neuer Technologien, Methoden und Prozesse ein völlig neuer Kundennutzen. Und schließlich liegt der Fokus auf dem Kunden und seinen Daten, weniger auf dem Produkt.
Diese Aufteilung bedeutet nicht, dass es ein Entweder-oder zwischen digitaler und analoger Welt gibt. „Geschäftsmodelle kommen heute meist als Hybride vor. Das heißt, Produkte werden durch Smart Services ergänzt“, so Oliver Fuhrmann, Head of Business Development des Nürnberger Beratungshauses Trevisto in einem Vortrag. Maschinenbau-Unternehmen, Automobilhersteller sowie Banken und Versicherungen erweiterten herkömmliche Angebote um digitale Komponenten. Beispiele sind Smart-Maintenance-Dienste in der Fer­tigung, die nutzungsbezogen abgerechnet werden (Pay per Use).
Allerdings bringen Hybrid-Modelle einen erhöhten Aufwand mit sich: „Mischunternehmen mit analogen und digitalen Geschäftsmodellen werden nicht umhinkommen, zwei Steuerungssysteme in ihrer Organisation zu etablieren und zu integrieren“, erklärt Christian Huck, Controlling-Experte bei Horváth & Partners. Das liegt vor allem daran, dass analoge Geschäftsmodelle meist produktbasiert sind. Die Unternehmen haben vergleichsweise hohe Herstellungskosten und generieren mit ihren Produkten direkte Umsätze.
Auch digitale Geschäftsmodelle zielen laut Huck auf den Vertrieb eines Produkts beziehungsweise zugehöriger Services ab. Die Produktkosten sind im Schnitt jedoch um mindestens 15 Prozent geringer, wie die Studie von Horváth zeigt. „Viele Entscheider aus digitalen Unternehmen rechnen in die Produktkosten auch die Entwicklungskosten mit ein, weil die reine ,Herstellung‘ eines einzelnen digitalen Produkts, welches im Prinzip aus daten-, nutzungs- und standortbasierten Informationen basiert, auf der Kostenseite kaum eine Rolle spielt“, so Huck. Diese Unschärfe ist dem Experten zufolge ein ideales Beispiel für die Grenzen traditioneller Kostenrechnungen, mit denen sich Unternehmen konfrontiert sehen, die auf digitale Produkte setzen.
3. Teil: „Vorreiter des digitalen Business“

Vorreiter des digitalen Business

  • Großer Sprung: In aller Welt machen die Unternehmen immer mehr Umsatz mit digitalen Produkten und Dienstleistungen.
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Nicht alle Branchen setzen gleichermaßen auf digitale Ser­vices und Einnahmequellen: „Eine Vorreiterfunktion bei der Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen übernimmt die global aufgestellte Automobilindustrie“, konstatiert Oliver Koeth, Chief Technology Officer von NTT Data Deutschland. „Ein weiteres Beispiel ist die Versicherungsbranche. Wie unsere Studie zur Digitalisierung in der Branche zeigt, haben viele Versicherungsunternehmen aber noch keine Organisationseinheiten geschaffen, die sich gezielt mit der Digitalisierung beschäftigen.“
Am Beispiel des Automobilsektors lässt sich besonders gut nachvollziehen, wie die Digitalisierung Umsatz- und Gewinnmodelle verändert. „Das Produkt Auto steht nicht länger im Fokus, schon gar nicht als Statussymbol. Es geht vielmehr um die Entwicklung neuer Mobilitätsangebote“, erläutert Köth. Solche Services sind etwa Carsharing-Modelle, zudem multimodale Mobilitäts-Ökosysteme, die unterschiedliche Fahrzeuge vom E-Roller bis zum Flugzeug anbieten.
„Eines der jüngsten Beispiele ist das Mobilitäts-Joint-Venture von BMW und Daimler“, berichtet Koeth. Schon heute lasse sich beobachten, dass sich im Automotive-Ökosystem neue Wertschöpfungsketten, Allianzen und vernetzte Geschäftsmodelle bilden. „Jetzt kommt es für alle Beteiligten darauf an, sich hier zu positionieren und mit den richtigen Partnern zu vernetzen.“
Im Versicherungsbereich wiederum etablieren sich digitale Services wie Mikro-Versicherungen und -Kredite sowie Ansätze wie Insurance on Demand. Dabei schließen Kunden per App mit dem Anbieter einen Vertrag, um kurzfristig ein Smartphone oder ein teures E-Bike vor Schäden oder Diebstahl zu schützen. Häufig werden die versicherten Gegenstände fotografiert und die Bilder per App zum Versicherungsunternehmen übermittelt. Das heißt, statt eines langfristigen Vertrages schließen Kunden eine Versicherung mit begrenzter Laufzeit ab, die sich zudem auf einen bestimmten Anwendungsfall beschränkt.
4. Teil: „Beispiel: Reifen as a Service“

Beispiel: Reifen as a Service

Welche digitalen Geschäftsmodelle im Rahmen der vernetzten Fertigung entstehen können, zeigt die Initiative Plattform Industrie 4.0 im Ergebnispapier „Digitale Geschäftsmodelle für die Indus­trie 4.0“ auf.
Als ein Beispiel wird darin das Szenario„Tire as a Service“ für Logistikunternehmen und Betreiber von Fahrzeugflotten beschrieben: Ein Reifenhersteller verkauft Reifen an einen Service-Provider. Dieser überträgt die Nutzungsrechte an die Betreiber von Fuhrparks. Der Provider baut dazu ein Reifenmanagement auf, das die Nutzer (Kunden) und den Lieferanten (Reifenhersteller) mit einbezieht. Der Service-Provider übernimmt somit Aufgaben wie Bestellung, Montage und Zustandsüberwachung der Reifen. Um die Werkstattleistungen auszuführen, greift er auf ein Wartungsnetzwerk zurück. Ob ein Reifensatz ausgetauscht werden muss, ermittelt der Service-Anbieter mit Hilfe einer IoT-Plattform. Damit lässt sich der Zustand der Reifen aus der Ferne überprüfen. Die IoT-Daten werden in der Cloud analysiert und für die Rechnungsstellung sowie die Koordination der Service-Leistungen verwendet.

IoT als Türöffner

Eine ganze Reihe vergleichbarer Ansätze und damit neuartiger Wertschöpfungsketten ist im produzierenden Gewerbe zu beobachten. Statt Reifen könnte ein Service-Provider Werkzeugmaschinen ordern und sie zur Nutzung einem Industrieunternehmen überlassen. Abgerechnet wird beispielsweise nach dem Pay-per-Use-Modell, etwa auf Basis der Betriebsstunden. Wie lange eine Maschine genutzt wird, ermittelt eine IoT-Plattform. Über sie lassen sich weitere Services bereitstellen, etwa im Bereich Predictive Maintenance (proaktive Wartung).
Immerhin 44 Prozent der deutschen Firmen sind der Auffassung, dass sie mit Hilfe des IoT neue Geschäftschancen erschließen können. Das ergab eine Umfrage von Avanade, einem Anbieter von digitalen Services und Cloud-Lösungen. Ernüchternd ist dagegen, dass nur 21 Prozent der Unternehmen in Deutschland das Internet der Dinge als Option betrachten, Services wie Predictive Maintenance anzubieten. In den USA sind es 30 Prozent der Unternehmen, in Großbritannien sogar 39 Prozent. Als Hindernisse führen deutsche Firmen den Mangel an IoT-Fachkräften und das Fehlen passender Daten an.
5. Teil: „Daten erschließen Einnahmen“

Daten erschließen Einnahmen

Eine zentrale Rolle beim Erschließen digitaler Einnahmequellen spielen naturgemäß Daten. Allerdings gibt es unterschiedliche Arten, Daten zu Geld zu machen: „Die Bereitstellung von Analyseergebnissen ist eine der einfachsten und die häufigste realisierte Form der Monetarisierung von Daten. Rund 40 Prozent der Unternehmen nutzen einen Ansatz, der auf der Analyse von Informationen basiert, “, erklärt Henrik Jorgensen, Country Manager Deutschland, Österreich und Schweiz bei Tableau Software, einem Spezialisten für Datenvisualisierungs-Programme.
Ähnlich weit verbreitet sind laut einer Studie von Tableau Tools für Reporting und Benchmarking. „Seltener nennen die Befragten den Aufbau digitaler Plattformen, den Ausbau bestehender Produkte und die Bereitstellung neuer Dienst­leistungen.“
Als Beispiel für das Erschließen neuer Geschäftsfelder durch Heranziehen von Daten führt Jorgensen Jonny Fresh aus Berlin an. Der Dienstleister offeriert einen „mobilen Reinigungsservice“ für Kleidungsstücke, vom Hemd bis zum Hochzeitskleid. Der Kunde ordert den Service per App auf dem Smartphone. Jonny Fresh holt die Kleidungsstücke ab und bringt sie nach der Reinigung wieder zurück, auf Wunsch auch zu einem anderen Zielort.
Eine wichtige Rolle spielt dabei – speziell im Logistikbereich – eine Datenanalyse-Software von Tableau. Früher schloss Jonny Fresh bestimmte Postleitzahlbereiche mit zu wenigen Aufträgen aus, weil das Abholen und Zurückbringen der Kleidungsstücke nicht rentabel war. Durch die detaillierten Kartendarstellungen der Datenanalyse-Lösung lassen sich Postleitzahlgebiete heute in mehrere Quadranten aufteilen. Sind dort viele Kunden auf einer kleinen Fläche vorhanden, fallen die Fahrstrecken kürzer aus. Dadurch lohnt sich der Service von Jonny Fresh auch in Regionen, die bislang außen vor waren.
Der Aufbau neuer Geschäftsmodelle auf Basis von Daten steckt insgesamt allerdings noch in den Kinderschuhen: Nur 6 Prozent der Unternehmen haben Tableau zufolge bereits Projekte umgesetzt. Die Hälfte der Unternehmen ist noch in der Planungsphase. Ein Hemmklotz ist die mangelnde Datenqualität, ein weiterer die Integration von datenbasierten Angeboten in die bestehende IT-Systemlandschaft.
Schlüsseltechnologien digitaler Geschäftsmodelle
Nach Einschätzung des IT-Dienstleisters NTT Data spielen bei der Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle folgende Technologien eine Schlüsselrolle:
Data & Intelligence: Unternehmen, die es jetzt schaffen, Data Analytics in Kombination mit dem Einsatz Künstlicher Intelligenz für sich wirtschaftlich sinnvoll zu nutzen, werden auch morgen noch wettbewerbsfähig sein.
Intelligent Automation: Gerade in der Automatisierung sich wiederholender Prozesse liegen große Chancen zur Effizienzerhöhung, um so Freiraum für Innovation zu schaffen und langfristig in einer digital-dynamischen Umgebung erfolgreich zu sein.
Customer Experience (CX): Wer seine Kunden einbezieht und fähig ist, deren Erwartung zu übertreffen, der wird diese emotional und langfristig an sich binden.
Internet of Things (IoT): Immer mehr Unternehmen starten IoT-Projekte. In der Vernetzung und der Kommunikation von Geräten bieten sich Chancen, Prozesse zu verbessern und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Dabei reicht die Bandbreite der verwendbaren Produkte von komplexen Geräten bis hin zum kleinsten Bauteil.
Darüber hinaus ist das IoT die Schlüsseltechnologie für vernetzte Produkte, in denen Produkteigenschaften zunehmend durch Software definiert werden.
IT Optimization: Die IT-Umgebung sollte laut NTT Data so umgestaltet werden, dass sie genügend Flexibilität ermöglicht und gleichzeitig kosteneffizient betrieben werden kann. Wer die digitale Transformation vorantreiben will, sollte auch vorhandene Systeme in die Analyse aufnehmen und anpassen. Nötigenfalls müssten solche Legacy-Infrastrukturen durch neue Plattformen ersetzt werden.
6. Teil: „Vorsicht Datenfalle“

Vorsicht Datenfalle

Auf einen besonderen Aspekt digitaler Geschäftsmodelle macht das Beratungshaus EY aufmerksam: die rechtliche Seite der Nutzung von Daten. Als Beispiel führt EY einen Hersteller von Anlagen für die Industrie an. Dieser bietet seinen Kunden einen Predictive-Maintenance-Service, die vorausschauende Wartung und Instandhaltung von Bearbeitungszentren. Zu diesem Zweck erfasst und analysiert er die Betriebsdaten der Anlagen, die bei seinen Kunden im Einsatz sind.
Auf Basis der Resultate liefert der Hersteller bereits Ersatzteile oder Verbrauchsmaterial in die jeweilige Fabrik, noch bevor es zu einem Stillstand der Maschine kommt. Außerdem lassen sich die erfassten Daten dazu nutzen, die optimalen Betriebsparameter einer Maschine oder Anlage zu ermitteln. Dieses Know-how wiederum kann der Hersteller an den Nutzer, sprich Kunden, weiterverkaufen.
Doch damit solche digitalen Geschäftsmodelle in juristischer und wirtschaftlicher Hinsicht „wasserdicht“ sind, sollten Unternehmen im Vorfeld mehrere Punkte klären, raten die Experten von EY. So gelte es etwa zu ermitteln, ob sich das Modell auch dann noch rechnet, wenn die erfassten Informationen Eigentum des Nutzers der Maschinen bleiben.
Eine vergleichbare Diskussion ist über die Frage entbrannt, wem die Daten gehören, die von smarten Autos erfasst und verarbeitet werden: dem Fahrzeughersteller, dem Käufer eines Fahrzeugs oder Dritten, etwa Versicherungen oder Behörden.
Außerdem müssen Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen prüfen, wie der Zugang zu Daten vor Missbrauch und Cyberangriffen geschützt werden kann. Das betrifft nicht nur die Übertragungswege, etwa Internet-Links, sondern auch die Mitarbeiter des Unternehmens, die auf die Daten zugreifen. Denn Produktionsdaten können Fachleuten von Mitbewerbern unter Umständen Hinweise auf Herstellungsverfahren sowie Art und Menge der produzierten Güter geben.
Ein Business-Modell muss zudem berücksichtigen, dass ein Kunde die Anlage weiterverkauft oder von einem anderen Unternehmen übernommen wird. Bislang in der Praxis noch nicht vorgekommen ist das Szenario, dass das Bundeskartellamt aus kartellrechtlichen Gründen die Herausgabe von Daten an weitere Serviceanbieter gefordert hätte. Doch kann auch dies eine Rolle spielen, vor allem, wenn ein Service-Provider eine starke Position in einem Marktsegment einnimmt. 
7. Teil: „Tipps für Digitalisierer“

Tipps für Digitalisierer

Schließlich müssen Unternehmen, die digitale Geschäftsprozesse entwickeln wollen, dafür Sorge tragen, dass die internen Rahmenbedingungen stimmen, so Nils Vieth, Chief Innovation Architect bei SAP: „Digitale Labs und Units zeigen oft nicht den erhofften Erfolg, denn sie werden immer wieder von bestehenden Einheiten als Bedrohung des Status quo angesehen und behindert“, spricht er einen neuralgischen Punkt an. Das heißt, Mitarbeiter und Fachbereichsleiter lassen neuartige Ansätze bewusst an die Wand fahren, um ihre eigene Position abzusichern.
Vieth rät: „Kein Plan B, keine Politik, dafür eine ausgeprägte Fehlerkultur und optimale Prozesse, bei denen bestehende Strukturen keine Rolle spielen.“
Eine solche stringente Vorgehensweise setze jedoch voraus, dass Geschäftsführung und Abteilungsleiter die Entwicklung digitaler Ansätze zur Chefsache erklären und unterstützen. Ein Konzept à la „Wir digitalisieren jetzt mal ein bisschen und sehen zu, was dabei herauskommt“ sei nicht förderlich.
Eine ähnliche Sichtweise vertritt Raid Naim, Head of Digital Transformation beim Software-Haus Futurice: „Wollen Unternehmen digital erfolgreich sein, dürfen sie sich heute nicht mehr auf Schätzungen verlassen“, so der Manager. „Datengetriebene Ansätze helfen dabei, neue Modelle zu validieren und weiterzuentwickeln. Wichtig ist jedoch bei aller Experimentierlust auch, dass die Geschäftsführung geschlossen hinter dem Digitalisierungsvorhaben steht.“
Formen digitaler Geschäftsmodelle
In der Praxis haben sich mehrere Ansätze etabliert, mit denen Unternehmen digitale Geschäfte aufbauen und betreiben können. Gennaro Cuofano, Betreiber der Weiterbildungsplattform FourWeekMBA, skizziert die wichtigsten Modelle und ihre wesentlichen Eigenschaften.
Kostenlose Angebote (Free): Diese Strategie ist so alt wie das Internet selbst. Bereits die ersten Anbieter von Internetbrowsern wie Netscape verwendeten es. Auch Facebook und Google setzen auf kostenlose Services. Es gibt mehrere Spielarten. Eine Variante ist das asymmetrische Modell: Nutzer erhalten einen Service kostenlos, der Anbieter bezahlt dafür einen Dienstleister. Auch Open-Source-Software wie Linux-Distributionen und Office-Pakete wie Libreoffice sind frei verfügbar.
Freemium-Offerten: Die Basisversion eines digitalen Produkts ist kostenlos, eine Premium-Ausgabe mit erweiterten Funktionen kostet Geld. Diesen Weg gehen viele Anbieter von Apps für Mobilsysteme und Gaming-Plattformen. Auch Services wie die Cloud-Speicherplattform Dropbox, Job-Boards wie LinkedIn und Xing sowie Musik-Streaming-Dienste wie Spotify setzen auf Freemium. Wichtig ist dabei, dass der Anbieter über eine große Nutzerbasis und eine tragfähige technologische Infrastruktur verfügt. Zudem sind effektive Konversionsprozesse notwendig, um Nutzer zu zahlenden Kunden zu machen.
Subskriptionsbasierte Modelle: Der Abo-Ansatz ist nicht nur Konsumenten bekannt, etwa über Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon Prime sowie Online-Dating-Plattformen wie Parship. Auch Unternehmen nutzen solche Modelle, etwa wenn sie Office als Service von einem Cloud-Service-Provider wie Microsoft beziehen. Zu den Vorteilen eines Abo-Modells zählen konstante, berechenbare Einkünfte durch die Abonnementzahlungen und ein überschaubarer Marketingaufwand. Allerdings können die Initialkosten beträchtlich sein, etwa für den Aufbau der IT-Infrastruktur und eines Verkaufskanals. Zudem ist es wichtig, die Nutzererfahrung (Customer Experience) permanent zu optimieren. Sonst wandern Kunden schnell zu Mitbewerbern ab.
On-Demand- und Pay-per-Use-Services: Sie etablieren sich nicht nur im Konsumbereich, sondern zunehmend auch in Handel und Industrie. Ein Beispiel: Ein Anbieter von Werkzeugmaschinen berechnet dem Kunden die Nutzung und Wartung der Systeme auf Basis der Stückzahlen, die dieser damit produziert. Auch das Geschäftsmodell von Transportdienstleistern wie Uber und Lyft basiert auf On-Demand. In diesem Fall wird über eine Online-Plattform eine Verbindung zwischen dem Anbieter und dem Nutzer der Transportmöglichkeit hergestellt. Beim On-Demand-Modell sind mehrere Abrechnungsverfahren denkbar, etwa als Abo oder in Form einer individuellen Bezahlung pro Transaktion.
Peer-to-Peer-Online-Plattformen: Das sind Plattformen, über die zwei Geschäftspartner eine Transaktion abwickeln, die Produkte betreffen kann, aber auch Dienstleistungen. Ein Beispiel aus dem Konsumsektor ist Etsy. Der Marktplatz vermittelt Kontakte zwischen den Anbietern und Käufern von „einzigartigen und kreativen Waren“. Es gibt kein Warenlager wie bei Amazon. Vielmehr forciert Etsy den Gedanken einer Community. Ein ähn­liches Modell verfolgt Airbnb beim Vermitteln von Privatunterkünften. Peer-to-Peer-Plattformen verwenden häufig dynamische Preismodelle. Sie orientieren sich an der aktuellen Nachfrage und den adressierten Zielgruppen.
E-Commerce-Plattformen: Vereinfacht gesagt ist dies der elek­tronische Handel mit physischen Waren. Ein Vorreiter war Amazon.com. In Deutschland kaufen nach Angaben des Digitalverbands Bitkom 80 Prozent der Bundesbürger über 14 Jahre online ein. Unternehmen wie der Modehändler Zalando setzen komplett auf Online-Vermarktung, andere, etwa der Elektronik-Spezialist Conrad, auf einen Mix aus Ladengeschäften und E-Commerce. Teils kommen dabei eigene Plattformen zum Zuge, teils werden Shops von Drittanbietern wie Amazon und Ebay genutzt.
Eine Herausforderung für den stationären Handel besteht da­rin, angepasste Geschäftsmodelle für die Online-Welt zu finden. Ein Beispiel dafür ist der Online-Handel mit Lebensmitteln: Ihm wird großes Potenzial zugetraut, doch stagnierte er laut Bitkom in den vergangenen Jahren, unter anderem weil Verbraucher Bedenken bezüglich der Frische der Waren haben und die Liefermodalitäten zu kompliziert sind.
Vermarktung von Daten: Vorreiter sind Facebook, Google und Amazon. Sie vermarkten zielgruppengerechte Anzeigen und stellen ihren Geschäftspartnern teilweise Daten von Nutzern zur Verfügung. Speziell Facebook ist deswegen mehrfach mit Datenschutzbehörden in Konflikt geraten und wurde jüngst von der Federal Trade Commission (FTC) mit einer Strafzahlung von 5 Milliarden Dollar belegt.
Auch im B2B-Bereich ist eine Datenvermarktung denkbar, etwa durch die Hersteller von Produktionssystemen oder die Betreiber von IoT-Plattformen. Sie können Daten der Systeme, die bei ihren Kunden im Einsatz sind, analysieren und daraus Optimierungsoptionen ableiten. Diese Informationen lassen sich gegen Bezahlung allen Nutzern zur Verfügung stellen, die solche Systeme in vergleichbaren Szenarien verwenden.
8. Teil: „Plattformen zur Integration“

Plattformen zur Integration

Für Kay Müller-Jones von TCS spielt zudem ein technischer Gesichtspunkt eine wesentliche Rolle: „Ein entscheidender Erfolgsfaktor für datenbasierte Geschäftsmodelle ist die Nutzung von Plattformen, mit denen ein Hersteller sein Produkt in eine vorhandene Umgebung integrieren kann.“ Durch diese Anbindung profitierten Unternehmen von der Speicherung und Analyse von Daten in der Cloud sowie von Apps, mit denen sie ihren Kunden digitale und datenbasierte Lösungen anbieten könnten.
Müller-Jones betont noch einen anderen Aspekt: „Die Time-to-Market, also die zeitnahe und anforderungsgerechte Umsetzung von digitalen Geschäftsmodellen, benötigt außerdem eine enge und kontinuierliche Abstimmung von Fachabteilungen und der IT. Unternehmen sollten hier insbesondere den Nutzen agiler Methoden prüfen.“
Einig sind sich alle Digitalisierungs­experten in einem weiteren Punkt: Zu den wichtigsten Faktoren, die über den Erfolg digitaler Geschäftsmodelle entscheiden, zählt die Fokussierung auf die Anforderungen von Kunden. Das ist eine Abkehr von dem bislang gültigen Paradigma, das die Produkte in den Mittelpunkt stellte. Für so manche altgedienten Geschäftsführer, Vertriebsprofis und Produktdesigner bedeutet dies sicher eine Art Kulturschock.
Doch eine Alternative gibt es einfach nicht, es sei denn, ein Unternehmen möchte das Risiko in Kauf nehmen, von seinen Mitbewerbern abgehängt und vom Markt verdrängt zu werden.
9. Teil: „Im Gespräch mit Raid Naim von Futurice“

Im Gespräch mit Raid Naim von Futurice

  • Raid Naim, Head of Digital Transformation bei Futurice
    Quelle:
    Futurice
Erfolgreiche digitale Geschäftsmodelle können nur die Firmen aufbauen, die ihre Kunden in den Mittelpunkt stellen, erläutert Raid Naim, Head of Digital Transformation bei Futurice.
Allerdings, so Naim, müssen Firmen auch die eigenen Beschäftigten mit auf die Digitalisierungsreise nehmen.
com! professional: Welche Branchen trifft die Digitalisierung am stärksten? Gibt es Sektoren, nicht davon betroffen sind?
Raid Naim: Keine Branche lässt sich komplett ausklammern. Einige Industriezweige sind allerdings stärker betroffen als andere, so zum Beispiel die Medienbranche, in der sich die Angebote stark gewandelt haben. Kaum ein Verlag oder Musiklabel kommt heute noch ohne digitale Produkte aus. Auch in der Automobilbranche, dem Finanzsektor oder im Energiebereich greift die Digitalisierung besonders stark. Das Kundenverhalten sowie rechtliche Rahmenbedingungen haben sich in diesen Branchen deutlich verändert. Globale Trends sowie Personalisierungswünsche der Nutzer verstärken die Wichtigkeit von gut funktionierenden digitalen Services.
com! professional: Wie sollten Unternehmen die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle und Produkte angehen?
Naim: Es geht darum, immer den Kunden in den Fokus zu stellen. Das Zauberwort heißt Empathie. Um den gewünschten Mehrwert zu schaffen, müssen alle Prozesse darauf ausgerichtet sein, mit dem Kunden und für den Kunden zu arbeiten. Wollen Unternehmen digital erfolgreich sein, dürfen sie sich zudem nicht mehr auf Schätzungen verlassen. Datengetriebene Ansätze helfen dabei, neue Modelle zu validieren und weiterzuentwickeln. Wichtig ist bei aller Experimentierlust auch, dass die Geschäftsführung geschlossen hinter dem Digitalisierungsvorhaben steht. Nur wenn neue Ansätze ganzheitlich mitgetragen werden, lassen sie sich erfolgreich umsetzen.
com! professional: Welche Faktoren spielen bei der Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle eine wichtige Rolle?
Naim: In der Arbeit mit Konzernen sehen wir, dass zunächst Key Performance Indicators und Reportings angepasst werden müssen. Wichtig ist, den Mehrwert in einer kontinuierlichen Wertschöpfung zu messen und die bestehende Führungskultur zu einer Innovationskultur weiterzuentwickeln. Das bedeutet vielfach, dass neue Kenntnisse erlernt und neue Werte etabliert werden müssen. Für den nachhaltigen Erfolg gilt, trotz aller digitalen Möglichkeiten das Kernprodukt nicht aus den Augen zu verlieren, um bestehende Kompetenzen und Markenwerte weiter zu nutzen. Zur kontinuierlichen Fortentwicklung der digitalen Lösungen empfehlen wir, langfristige Datenströme und Analysen zu etablieren, um das digitale Geschäftsmodell immer wieder validieren zu können.
com! professional: Wie erhöht man bei solchen Projekten die Motivation der Mitarbeiter?
Naim: Bei der Arbeit an innovativen Geschäftsmodellen wird von den Mitarbeitern viel Kreativität erwartet. Das stellt das Management vor eine nicht gerade triviale Aufgabe: Es gilt die digitale Vision klar und transparent zu kommunizieren und sich bei der Entwicklung der Geschäftsmodelle selbst etwas zurückzunehmen. Denn Letzteres sollte autonom und selbstorganisiert von den Mitarbeitern übernommen werden. Die klare Ownership für das „Was“ und das „Wie“ ist mitunter das wichtigste Element der Mitarbeitermotivation. Das Management kümmert sich in einer transformierten Organisation dagegen mehr um das „Warum“. Um dies zu erreichen, müssen auf beiden Ebenen neue Fähigkeiten aufgebaut und ein neues Mindset etabliert werden.
com! professional: Warum scheitern nach Ihren Erfahrungen Initiativen mit dem Ziel, digitale Geschäftsmodelle zu erarbeiten?
Naim: Viele Unternehmen schaffen es, schnell erste Ideen und Konzepte voranzutreiben, ohne darauf zu achten, wie sie sich umsetzen lassen. Das Ergebnis ist oft ein Koffer voller – teils großartiger – Ideen. Ein konkreter Umsetzungsplan fehlt jedoch häufig. Lassen sich Innovationen nicht umsetzen, ist das aber eher schädlich: Mitarbeiter werden demoralisiert und fallen in alte Muster zurück. Empfehlenswert ist es, gerade zu Beginn eher auf kleinere, erfolgreiche Innovationsprojekte zu setzen, um den Mehrwert und den Erfolg besser und schneller sichtbar zu machen.
com! professional: Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem ein digitales Geschäftsmodell erfolgreich implementiert worden ist?
Naim: Ein gutes Beispiel ist unser Kunde Friday, den wir in enger Zusammenarbeit beim Unternehmensaufbau unterstützt haben. Friday ist als erste „Usage-Based“ Kfz-Versicherung heute das europaweit am schnellsten wachsende Insurtech-Unternehmen. Wir unterstützen Friday bei der Etablierung einer Innovationskultur, dem Sicherstellen eines effektiven Wissenstransfers sowie bei der Einführung neuer Arbeitsweisen. Zudem haben wir die erfolgreiche Vernetzung des Unternehmens mit der Berliner Digitalszene vorangetrieben – ein ganz zentraler Aspekt für den Erfolg von Friday. Beim Design und im Entwicklungsprozess der digitalen Lösung stand natürlich der Kundennutzen klar im Fokus.

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