Digitalisierung
20.08.2019
Legal Tech
1. Teil: „Algorithmen pflegen statt Mandanten betreuen?“

Algorithmen pflegen statt Mandanten betreuen?

Roboterhand mit WaageRoboterhand mit WaageRoboterhand mit Waage
Alexander Limbach / shutterstock.com
Automatisierung und Künstliche Intelligenz verändern Rechtswesen und Anwaltsberuf. Viele Prozesse und Prüfungen der Rechtslage können von Algorithmen vorgenommen werden.
Die Digitalisierung hat in vielen Branchen Prozesse verändert oder sogar Geschäftsmodelle pulverisiert: Medien, Handel, Banken, Versicherungen und Industrie können ein Lied davon singen. Mittlerweile trifft es auch das Rechtswesen und den Job des Anwalts. Sehr aufschlussreich ist hier eine Studie von Boston Consulting und der Bucerius Law School. Demnach könnten 30 bis 50 Prozent der Arbeitsschritte, die derzeit Junior-Anwälte erledigen, durch Automatisierung und KI-Techniken wie maschinelles Lernen überflüssig werden. Eine bemerkenswerte Zahl.
Algorithmen arbeiten bei der Prüfung von Verträgen auch genauer und schneller als Anwälte. Das zeigte ein Test, bei dem sich letztes Jahr eine speziell trainierte KI der Plattform Lawgeex gegenüber 20 US-amerikanischen Top-Anwälten als haushoch überlegen erwies. Die Probanden sollten binnen vier Stunden fünf Verträge zur Geheimhaltung (Non-Disclosure Agreement, NDA) überprüfen und 30 rechtliche Probleme identifizieren. Das Ergebnis war eindeutig: Während die Anwälte im Schnitt 92 Minuten brauchten und eine Genauigkeit von 85 Prozent erreichten, benötigte der spezialisierte Algorithmus für die gleiche Aufgabe nur 26 Sekunden bei einer Genauigkeit von 94 Prozent.
Zudem gibt es bereits in vielen Bereichen des Zivilrechts Start-ups wie Flightright.de, das sich um Flugverspätungen kümmert, Geblitzt.de für Verkehrsrecht, Wenigermiete.de für das Mietrecht oder Rightmart.de für Hartz-IV-Klagen. Sie alle treten mit ihren Legal-Tech-Angeboten in Konkurrenz zu kleinen und mittleren Anwaltskanzleien.
Grund genug also, sich mit dem Phänomen Legal Tech näher zu beschäftigen. Was verbirgt sich dahinter, welche Folgen haben neue Technologien für das Rechtswesen und seine Akteure? Wie können sich Anwälte, Richter und Staatsanwälte oder die Rechtsabteilungen von Unternehmen für die Digitalisierung wappnen? Und wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Ausbildung der Juristen aus? Fragen über Fragen.

Breites Spektrum

Beginnen wir mit einer Begriffsklärung und fragen Christian Solmecke, Rechtsanwalt für Medien- und IT-Recht sowie Partner der Kanzlei Wilde Beuger Solmecke in Köln. Er ist Co-Autor des Buchs „Legal Tech - Die digitale Transformation in der Anwaltskanzlei“.
Solmecke teilt das Thema Legal Tech in drei Bereiche ein. Den ersten bildet die digitale Akquise, sprich die Frage, wie Anwälte mit Hilfe von Technologie mehr Geschäft generieren. „In unserer Kanzlei setzen wir neben Google AdWords und Facebook Marketing auch kleine Software-Tools ein, die uns dabei helfen, unsere Webseite attraktiver zu machen und damit an noch mehr Mandatsgeschäft zu kommen“, erklärt Christian Solmecke.
Das zweite Einsatzfeld von Legal Tech sieht er im Rahmen der Abarbeitung von Mandatsgeschäft. „Anwälte können moderne Technologien einsetzen, um Fälle schneller zu bearbeiten. Das ist ein Bereich, der bislang noch stiefmütterlich behandelt worden ist und den wir gerade mit unserer eigenen Kanzlei-Management-Software Legalvisio.de angehen“, so Solmecke. Seine Kanzlei bietet die komplett cloudbasierte Software auch anderen Anwälten am Markt an, um Teile der anwaltlichen Tätigkeit und typische Workflows zu automatisieren.
Drittens spielt Legal Tech laut Solmecke auch noch eine Rolle, wenn Computer juristische Probleme vollautomatisch lösen sollen. „Hier setzen oftmals Unternehmen die Technologien ein, um den Anwalt komplett zu ersetzen. Das könnte in Zukunft der interessanteste Bereich werden, auch wenn ich kurzfristig Legal Tech als Unterstützung für Rechtsanwälte sehr spannend finde.“
Tabelle:

2. Teil: „Roboter-Anwalt“

Roboter-Anwalt

  • Leverton: Mit Hilfe von KI analysiert das Programm Dokumente und filtert relevante Informationen heraus.
    Quelle:
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Eine Kanzlei, die ihr Geschäftsmodell auf Legal Tech umgestellt hat, ist Ratis aus Passau. Ursprünglich bearbeitete Inhaber Sven Galla als Anwalt einzelne Fälle aus dem Zivilrecht, meist mit Mandanten aus einem Umkreis von etwa 100 Kilometern. Mittlerweile agiert seine Kanzlei bundesweit und hat sich auf Fälle mit großem Volumen wie Flugverspätungen oder Kündigungsschutzklagen spezialisiert, die ähnlich aufgebaut sind und in gleichen Schritten ablaufen.
Einer seiner wichtigsten Mitarbeiter ist sein Schwager Martin Bartenberger, der als Technischer Direktor von Ratis fungiert und die technische Basis für die Legal-Tech-Aktivitäten der Kanzlei geschaffen hat.
So baute er einen Algorithmus für Entschädigungen bei Flugverspätungen und dann mit Ratis-Bot den ersten juristischen Chatbot in Deutschland, der automatisch bei rechtlichen Problemen unterstützt. Der Roboter-Anwalt kommuniziert als virtueller Assistent mit den Mandanten, beantwortet Fragen und hilft ihnen dabei, etwa ihre Kündigung zu überprüfen oder bei Flugverspätungen ihre Entschädigung einfach und unkompliziert einzufordern.

Informatiker in der Kanzlei

„Wir konzentrieren uns auf Lebenslagen, die oft vorkommen, etwa Kündigungen und Flugverspätungen. Über den Ratis-Bot kann ein Mandant zunächst prüfen, ob er nach einer Kündigung Chancen auf eine Abfindung hat, und falls ja, in welcher Höhe“, erklärt Martin Bartenberger.
Wünscht der Mandant eine weitere Beratung, gibt er seine Daten ein. Diese werden von einem Algorithmus geprüft, der dann bei Bedarf weitere Unterlagen anfordert. Erst dann kommt ein Anwalt ins Spiel. Er kontaktiert den Mandanten und greift bei Bedarf erneut auf den Algorithmus zurück, der dann binnen Sekunden ein Schreiben an den Arbeitgeber oder eine Kündigungsschutzklage erstellt.
„Früher dauerte das Tage. Die Maschine entlastet unsere Anwälte von Routinearbeiten und durch die Automatisierung können wir viel höhere Fallzahlen bearbeiten und weiter wachsen. Die Zukunft der Rechtsberatung liegt meiner Meinung nach im Massengeschäft“, ist Bartenberger überzeugt. Mittlerweile beschäftigt Ratis 35 Leute und verdient laut Bartenberger so gut wie nie.
Um für die Zukunft gerüstet zu sein, sucht Ratis neben Juristen auch die in vielen Branchen und vielen Gebieten heiß begehrten Informatiker, um die Algorithmen zu verfeinern und auf andere Rechtsthemen wie Verkehrsrecht auszuweiten. Juristischen Nachwuchs zu finden, ist nicht das Problem: „Da das Thema komplexer wird, benötigen wir technische und juristische Expertise - und damit verbunden eine Abkehr vom traditionellen Berufsbild und Standesdenken der Anwälte. Bei uns stehen die Jurastudenten für Aushilfsjobs Schlange. Die junge Generation setzt sich mit dem Thema Legal Tech auseinander.“

Studenten ergreifen Initiative

Dazu gehören Leah Becker und Maria Petrat, die beiden Vorsitzenden der Munich Legal Tech Student Association, einer studentischen Initiative an den Münchener Universitäten im Bereich Legal Technology. Sieben junge Studentinnen und Studenten, da­runter Maria Petrat, gründeten den Verein 2017, nachdem sie an einer Konferenz in Mannheim teilgenommen hatten. Kurz nach der Gründung stieg Leah Becker ein.
„Unser Ziel ist es, die Lücken des Lehrangebots an der Uni zu schließen und bei Juristen das Bewusstsein für die Bedeutung von Legal Tech zu wecken. Wir wollen zudem eine interdisziplinäre Diskussion zwischen Juristen, Informatikern sowie interessierten Studenten aus anderen Fachbereichen ermöglichen“, erklärt Leah Becker.
Zu diesem Zweck organisiert der Verein Diskussionen, Vorträge oder Workshops zu verschiedenen Themen im Bereich Legal Tech, besucht einschlägige Messen oder Konferenzen und vernetzt sich auch international mit Persönlichkeiten aus der Branche. Derzeit hat der Verein 70 Mitglieder, Tendenz steigend. „Wir wollen über den Tellerrand schauen und den Jurastudenten zeigen, dass sich die juristische Arbeitswelt durch Legal Tech verändert und sich völlig neue Perspektiven ergeben. Abgesehen von den vielfältiger werdenden klassischen Möglichkeiten im Gericht, in der Kanzlei oder in der Rechtsabteilung eines großen Unternehmens, tun sich ganz neue Berufsmöglichkeiten auf. Zum Beispiel ist auch die Gründung eines Legal-Tech-Start-ups eine aussichtsreiche Alternative“, führt Maria Petrat aus.
Für die beiden Vorsitzenden der studentischen Initiative verändert Legal Tech die juristische Arbeits- und Denkweise durch technischen Fortschritt. Dazu gehören wiederkehrende automatisierbare Abläufe, die von Maschinen übernommen werden. Zu nennen sind hier zum Beispiel Software zum automatisierten Erstellen von Verträgen, die automatisierte Analyse von Verträgen und Dokumenten etwa nach Klauseln, die gegen Recht verstoßen, oder die automatisierte Durchsetzung von Verbraucherrechten.
In perfekter Symbiose dazu sehen sie den Denkansatz Legal Design. „Dahinter verbergen sich Methoden, wie man kreativ nutzerorientierte Lösungsansätze finden kann, etwa um Verträge besser darzustellen und zu visualisieren, wobei Legal Tech eine große Hilfe sein kann“, wie Leah Becker erläutert.
3. Teil: „Nachholbedarf bei Kanzleien“

Nachholbedarf bei Kanzleien

Die Realität sieht noch anders aus. Das Gros der Kanzleien steht beim Thema Legal Tech noch ganz am Anfang. Insbesondere bei kleineren und mittleren Kanzleien besteht Nachbesserungsbedarf. „Viele Anwälte haben nicht begriffen, wie viel Arbeit ihnen moderne Technologie ersparen kann. In Deutschland setzen nur 50 Prozent aller Kanzleien überhaupt eine Kanzlei-Management-Software ein. Alle anderen Kanzleien arbeiten noch mit Word, dem Windows Explorer und Outlook. Das halte ich gelinde gesagt für eine Katastrophe und ziemlich unwirtschaftlich“, konstatiert Christian Solmecke ernüchtert.  
Seine Kanzlei Wilde Beuger Solmecke dagegen geht hier voran. Sie mahnt beispielsweise säumige Mandanten automatisch per Software, generiert auf Knopfdruck Standardschreiben und leitet sie automatisch an Rechtsschutzversicherungen, Mandanten und Gegner weiter. „Wir machen das schon seit Jahren so, die meisten Kanzleien werden aber gerade erst wach und bekommen ein Gespür dafür, dass hier großer Handlungsbedarf besteht“, so Solmecke.
Martin Bartenberger von Ratis bestätigt das. „Das Interesse an Legal Tech ist da, es hapert allerdings bei der konkreten Umsetzung. Abgesehen von einzelnen Vorreitern und Vordenkern ahnen die anderen Kanzleien allenfalls, dass sie etwas tun müssen, wissen aber nicht, was und wie.“ Seiner Meinung nach senken Chatbots und Online-Tools für die Rechtsberatung die Hemmschwellen für Mandanten beim Gang zum Anwalt. „Viele Menschen empfinden den Weg zum Anwalt fast wie einen Zahnarztbesuch, sie fühlen sich als Bittsteller. Legal Tech vereinfacht den Weg, zu seinem Recht zu kommen“, meint Bartenberger.

Ein Berufsbild ändert sich

Legal Tech bietet nicht nur Vorteile für den Bürger, sondern auch für Anwälte. Sie können viel effizienter, transparenter und kostengünstiger arbeiten. „Der Einsatz von Software ist eine Mega-Chance, da sie immer wiederkehrende Prozesse automatisiert und damit den Anwalt von Routineaufgaben entlastet. Diesem bleibt dann mehr Zeit für die Beratung und komplexe Abwägungsentscheidungen, die sich nicht mit KI lösen lassen“, betont Maria Petrat von der Munich Legal Tech Student Association.
Zudem entstehen neue Vergütungsmodelle. Christian Solmecke beispielsweise glaubt nicht, dass Anwälte künftig noch Stunden verkaufen können. „Der Wettbewerb verlangt immer häufiger Pauschalpreise. Hier wird der Einsatz moderner Technologien große Vorteile bringen. Wenn ich durch schnellere Recherche und kostengünstigere Erstellung von Schriftsätzen ein Mandat innerhalb von fünf Stunden statt wie bisher innerhalb von zehn Stunden abarbeiten kann, dann verschaffe ich mir als Kanzlei einen Wettbewerbsvorteil. Ich kann mit Pauschalpreisen günstiger am Markt agieren und so mehr Mandate gewinnen.“
Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Legal Tech hat natürlich auch Nachteile - und großes Potenzial, die Berufswelt und das Berufsbild von Anwälten erheblich zu verändern. Und das in einer Branche, die als sehr konservativ, traditionsbewusst und statusorientiert gilt. Die Bundesrechtsanwaltskammer vertritt die Interessen von rund 165.000 Anwälten, die meisten davon dürften als Einzelkämpfer oder in kleineren Sozietäten tätig sein. Sie verdienen ihr Geld meist als kleine Regionalkanzlei mit Erbstreitigkeiten, Scheidungen, Mietsachen oder anderen Rechtsstreiten. Meist läuft die Tätigkeit im persönlichen Kontakt mit den Schritten Zuhören, Bewerten und Beraten ab.
Legal-Tech-Angebote wie Flightright.de & Co. nehmen diesen kleinen Anwaltskanzleien tatsächlich in manchen Bereichen Mandate weg und gefährden deren Existenz. „Ich denke, die Nische für die klassischen Regionalkanzleien, die ihre Mandanten in einem Umkreis von 100 Kilometern finden, wird sich ausdünnen“, sagt Martin Bartenberger. Er geht davon aus, dass Legal Tech auch das Berufsbild und das Selbstverständnis von Juristen verändern wird. Sie seien mehr für individuelle Rechtsfragen zuständig, statt für standardisierte Dienstleistungen wie das Erstellen von wiederkehrenden Schriftsätzen oder die Analyse von Dokumenten.
„Letzteres übernehmen Software und Algorithmen. Denn es bietet sich an, den rechtlichen Code in Computercode zu übersetzen. Schließlich ist er in großen Teilen logisch in Wenn-dann-Konstruktionen strukturiert“, so Bartenberger. Das meiste von dem, was technisch zum Einsatz komme, sei regelbasierte Informatik. Es gebe aber auch juristische Fälle, etwa im Presserecht oder im Wettbewerbsrecht, die komplex und nicht eindeutig seien. „Hier greifen keine Algorithmen und es ist die Beratungskompetenz von Anwälten gefragt. Der menschliche Kontakt wird auch künftig wichtig sein“, ist sich der Technische Direktor von Ratis sicher.
Einsatzgebiete für Legal Tech
Legal Tech meint die Digitalisierung der juristischen Arbeit mit dem Ziel, Arbeitsprozesse und Services zu automatisieren und somit effizienter zu gestalten. Hier einige ausgewählte Einsatzgebiete von Legal Tech:
Digitale Akquise und (Online-)Marketing: Wie werde ich mit meiner Kanzlei von meiner Zielgruppe gefunden?
Kanzlei-Software: Anwendungen, die den Anwalt bei seiner Arbeit unterstützen (zum Beispiel Kanzleiverwaltung, und Abrechnung).
KI-gestützte Analyse-Software: Automatisierte Analyse von Dokumenten und Verträgen nach Klauseln, die gegen Recht verstoßen.
Software zur Erstellung von Dokumenten und Verträgen: Textbausteine werden fortlaufend aktualisiert und dem geltenden Recht angepasst.
Chatbot: Virtueller Assistent zur Kommunikation mit dem Kunden, zur Beantwortung einfacher Fragen und zum Erfassen von Daten. 
Plattformen: Vernetzung von Anwälten untereinander oder mit Mandanten wie Anwaltsmarktplätze (zum Beispiel Anwalt.de oder Jurato.de).
Smart Contracts: Programme auf Blockchain-Basis unterstützen die Abwicklung von Verträgen und lösen Aktionen automatisch in Form einer Wenn-dann-Bedingung aus. Sie könnten irgendwann Anwälte oder Notare ersetzen. Bislang gibt es lediglich Prototypen, zudem fehlen Standards und Gesetze.
4. Teil: „Eine Frage der Generationen“

Eine Frage der Generationen

  • Kampf dem Knöllchen: Geblitzt.de checkt teilautomatisiert, ob ein Bußgeldbescheid zu Recht ergangen ist.
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    com! professional / shutterstock.com
Doch einfach weitermachen wie bisher können Anwälte nicht. Sie müssen sich mit Legal Tech, seinen Chancen und Risiken auseinandersetzen, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein. Auch die Mitarbeiter müssen bei der Digitalisierung mitziehen. Bremser sind oft die mittelalten bis älteren Führungskräfte, die nur noch zehn bis 15 Jahre bis zur Rente haben und sich fragen, ob sie sich noch vertieft mit Legal Tech beschäftigen sollen. Christian Solmecke formuliert es etwas drastischer: „Anwälte stehen ohnehin seit jeher auf Kriegsfuß mit moderner Technologie. Auch hier muss erst das Denken verändert werden.“
Auf der anderen Seite steht die junge Generation, die wie Leah Becker und Maria Petrat erst in den Beruf einsteigt. Sie sieht Technik als wichtigen Teil des Berufs. „Legal Tech verändert die Arbeitsweise von Juristen und erfordert ein neues Mindset. Wir wissen, dass wir künftig interdisziplinär mit Informatikern zusammenarbeiten müssen und dies auch wollen. Es geht darum, Dinge auszuprobieren, mitzugestalten, und die Digitalisierung als Chance zu sehen, nicht als Risiko“, resümiert Leah Becker.
Das Problem: Legal Tech steht noch nicht im Lehrplan der Jura-Ausbildung und ist noch nicht ausreichend in den Köpfen der Studierenden angekommen. „Der Apparat ist schwerfällig, die gängigen Strukturen bremsen. Wir bräuchten eine eigene Professur für das Thema und interdisziplinäre Gruppenarbeiten. Das dauert allerdings noch“, bedauert Maria Petrat. Um diese Lücke zu schließen, investieren die beiden Frauen viel Zeit und Energie in die Munich Legal Tech Student Association. Beim Start in das Berufsleben würden sie sich eher für eine Kanzlei entscheiden, die Legal Tech bereits umsetzt. Dazu Maria Petrat: „Legal Tech ist ein wichtiges Entscheidungskriterium für mich. Es sagt aus, wie offen für Neues eine Kanzlei ist, wie dynamisch und zukunftsorientiert sie arbeitet.“
Ungeklärte Regulierung
Das Rechtswesen ist besonders stark reguliert. Relevant für Legal-Tech-Anwendungen sind vor allem das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG), das nur zugelassenen Anwälten das Ausüben von Rechtsdienstleistungen erlaubt, und das anwaltliche Berufsrecht. Letzteres verbietet Anwälten, sich von Investoren finanzieren zu lassen (Fremdbesitzverbot) und Erfolgshonorare zu vereinbaren. Legal-Tech-Konzepte kommen mit beiden Regeln in Konflikt. Dienste wie Flightright.de sind keine klassischen Anwaltskanzleien oder Inkassounternehmen, und Legal-Tech-Firmen werden oft durch Wagniskapital finanziert.
Für Anpassungen im Berufsrecht, die Anwälten das Feld der Legal Techs eröffnen, zeigen sich die Justizminister und die Bundesrechtsanwaltskammer offen. Nicht antasten wollen sie aber den Status quo des RDG. So hatte beispielsweise die Bundestagsfraktion der FDP einen Gesetzentwurf für eine Öffnung des RDG vorgelegt, der auch eine automatisierte Erbringung von Rechtsdienstleistungen erlaubt, um Legal Techs mehr Handlungsspielraum einzuräumen.
Der Vorschlag stieß auf heftige Kritik der Bundesrechtsanwaltskammer und auch der Justizministerkonferenz im Juni 2019. Sie erklärten, es sei keine Regulierung von Legal Tech notwendig. Entweder sei eine sogenannte Inkassolizenz nach § 2 Abs. 2 RDG ausreichend oder die Rechtsdienstleistung dürfe nur durch einen Rechtsanwalt erbracht werden. Das heißt: Legal Tech geht nur mit anwaltlicher Beteiligung und Beratung.
Vor dem Hintergrund der aufkommenden Legal-Tech-Dienste haben die Länder-Justizminister bei ihrem Treffen beschlossen, um die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zu „bitten“, die sich mit den rechtspolitischen Fragestellungen auseinandersetzen und an der sich auch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz beteiligen soll. Der 119-seitige Abschlussbericht der Ländergruppe mit dem Titel „Legal Tech: Herausforderungen für die Justiz“ ist als Download verfügbar.
Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer, bringt die Problematik Anwalt versus Algorithmus in einem Statement für die Presse auf den Punkt: „Sich im Bereich von Rechtsdienstleistungen allein auf Algorithmen zu verlassen, scheint uns im Sinne des Mandanten- und Verbraucherschutzes kein gangbarer Weg zu sein. Oder vereinfacht gesagt: Wo Legal Tech draufsteht, muss immer auch Anwalt drinstecken.“
Hintergrund: Nur Anwälte unterliegen dem anwaltlichen Berufsrecht, vor allem der Verschwiegenheitspflicht und dem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, und beraten ihre Mandanten unabhängig und frei.
5. Teil: „Im Gespräch mit Dr. Hariolf Wenzler von Schnittker Möllmann Partners“

Im Gespräch mit Dr. Hariolf Wenzler von Schnittker Möllmann Partners

  • Dr. Hariolf Wenzler: CEO von Schnittker Möllmann Partners
    Quelle:
    Hariolf Wenzler
Hariolf Wenzler ist CEO bei Schnittker Möllmann Partners, einer Spezialkanzlei für Steuer- und Wirtschaftsrecht, und Gründungspräsident der European Legal Tech Association (ELTA). Im Interview mit com! professional erklärt er, wie Anwaltskanzleien und Unternehmen von Legal Tech profitieren und welche Hürden es noch zu überwinden gilt - auch bei der Jura-Ausbildung.
com! professional: Herr Wenzler, die Digitalisierung verändert auch das Rechtswesen und die Arbeit von Anwälten. Das Stichwort lautet Legal Tech. Wie bei vielen Begriffen kursieren auch hier verschiedene Definitionen. Was verstehen Sie unter Legal Tech?  
Hariolf Wenzler: Ganz allgemein betrifft Legal Tech alle Aufgaben von Juristen, die sich digitalisieren lassen. Konkreter sehe ich bei Legal Tech drei Ebenen. Die erste Ebene ist die Office-Digitalisierung, das machen alle Unternehmen. Die zweite Ebene betrifft spezifisch den Anwaltsberuf mit Software zu Themen wie Case-Management, Übersetzungen von Texten oder KI-gestützten Vorschlägen zum Erstellen von Verträgen. Als dritte Ebene verstehe ich Legal Tech im engeren Sinn als Rechtsberatung zur Analyse von Verträgen oder zur Vorbereitung von Entscheidungen. So lassen sich Fragen beantworten wie „Wie wahrscheinlich ist es, dass ich einen Fall vor Gericht gewinne?“
com! professional: Wie sieht es konkret in Ihrer Kanzlei aus? Inwieweit nutzt Schnittker Möllmann Partners bereits Digitalisierungstechnologien?
Wenzler: Da unsere Kanzlei erst vor zwei Jahren gegründet wurde, ist unsere IT natürlich sehr modern. Wir betreiben beispielsweise unser Projektmanagement und die Dokumentation in der Cloud und verfügen im Unterschied zu vielen anderen Kanzleien über standardisierte, dokumentierte Prozesse. Zudem verwalten wir unsere Anwaltskanzlei agil. Es gibt Kanban-Boards zum Management der Projekte sowie regelmäßige Scrum-Meetings.
Zu den Standards zählt auch Software mit maschinellem Lernen zur Analyse von großen Daten- und Textmengen, etwa zur Suche nach bestimmten Mustern. Beispiele sind Due Diligences bei Unternehmensübernahmen mit Prüfung von Verträgen oder Datenbanken mit wichtigen Urteilen und Fällen. Für Standard-Geschäftsvorfälle gibt es Vertragsgeneratoren, in einem Webportal werden Mandanten für wiederkehrende Geschäftsvorfälle durch einen intelligenten Assistenten oder einen Chatbot geführt. Damit lassen sich Prozesse beschleunigen und Kosten senken.
com! professional: Legal Tech birgt aber auch einige Risiken und verändert das Rechtswesen. Eine Studie von Boston Consulting und der Bucerius Law School, deren Geschäftsführer Sie lange Jahre waren, kommt zu einem krassen Ergebnis: 30 bis 50 Prozent der Arbeitsschritte, die derzeit Junior-Anwälte erledigen, könnten überflüssig werden.
Wenzler: Ja, das kann durchaus sein. In großen Anwaltskanzleien herrschen pyramidale Strukturen vor. Die Junior-Anwälte spezialisieren sich auf bestimmte Rechtsgebiete und müssen am Anfang als Teil der Ausbildung sehr viele Verträge lesen, um zu lernen. Diese Aufgabe übernimmt jetzt immer stärker die Software. Doch man könnte auch sagen: Wenn die Technik es kann, hätte es kein Anwalt tun müssen. Technik nimmt nichts weg, sondern unterstützt.
Anwälte können komplexe Probleme analysieren und brauchen einen kühlen Kopf in schwierigen Situationen. Sie beraten ihre Mandanten bei rechtlichen Schwierigkeiten und nehmen sie an die Hand. Wenn Technik sie von Routineaufgaben entlastet oder Prozesse beschleunigt, können sie sich auf ihre Kerntätigkeit konzen­trieren. Anwaltskanzleien, die auf Legal Tech setzen, sind attraktiv für junge Juristen.
com! professional: Apropos junge Juristen. Wie sieht es bei Ausbildung und Jura-Studium aus? Findet Legal Tech an den Universitäten statt?
Wenzler: Legal Tech ist leider noch kein examensrelevantes Thema an den Universitäten, da das Ausbildungsprogramm für Juristen zu 80 Prozent gesetzlich geregelt ist und Legal Tech darin nicht vorkommt. An den Universitäten in München, Münster, Mannheim oder der Hamburger Bucerius Law School ist der Impuls der Studenten zu Legal Tech groß. Sie werden selbst aktiv und organisieren Vorträge mit Experten. Sie finden aber oft keinen Professor oder kein Fach, das dieses Thema unterrichtet. Wir haben es gleichzeitig mit jungen Leuten zu tun, die sich schnell in Legal Tech einarbeiten wollen, und einem Hochschulsystem, das sich nicht oder nur langsam bewegt. Das ist sehr ernüchternd. Juraprofessoren, Richter und Staatsanwälte sind oft veränderungsresistent. Das ist ähnlich wie bei den Taxiverbänden mit Uber …
com! professional: Worin liegt die Parallele zu den Taxiverbänden und Uber genau?
Wenzler: In den regionalen Rechtsanwaltskammern stellen die kleinen und mittleren Anwaltskanzleien oft die Mehrheit. Diese sind aber in ihrer Ausbildung und ihrem Mindset nicht auf die Veränderungen durch Legal Tech vorbereitet oder sogar überfordert. Die Rechtsanwaltskammern schützen als Sprachrohr ihre Zielgruppe und treten nicht als Innovator auf. Ihr Ziel ist es, den Status quo zu bewahren. Sie unterstützen die Anwaltskanzleien nicht dabei, sich in der neuen Legal-Tech-Welt zurechtzufinden. Kluge Anwaltskanzleien hingegen probieren digitale Geschäftsmodelle aus.
com! professional: Sind die Rechtsabteilungen von Unternehmen hier schon weiter?
Wenzler: Das hängt von der Größe und der Branche ab. Grundsätzlich gilt: Unternehmen, die sich mit ihren Prozessen und ihrer Organisation dem digitalen Wandel stellen, sollten immer ihre Rechtsabteilung mit einbeziehen. Die Herausforderung besteht zunächst darin, die eigenen Prozesse zu kennen, dann die richtigen Technologien einzusetzen und so die Prozesse zu beschleunigen. Wenn das Unternehmen den rechtlichen Rat bei neuen Produkten oder Services schneller bekommt, hat es einen Wettbewerbsvorteil. Natürlich sinken dadurch auch die Kosten. Unsere Kanzlei berät auch Start-ups. Die neue Generation geht hier voran.
com! professional: Wie sieht Legal Tech in drei Jahren aus? Welche Trends sehen Sie?
Wenzler: Anwaltskanzleien werden beispielsweise Chatbots nutzen, mit denen sie entlang einer Menüführung für standardisierte Fälle intelligente Verträge automatisiert erstellen können. Weitere wichtige Entwicklungen sind die Themen Prediction für die Vorhersage von möglichen Urteilen aus der Analyse großer Datenmengen mit Fällen aus der Vergangenheit sowie die Visualisierung von Daten. Vieles von dem, was heute noch in Wort und Text vorliegt, wird künftig in Dashboards grafisch dargestellt. So werden etwa Fragen zur Compliance (Wie halten wir mit unseren Verträgen Gesetze und Regularien weltweit ein?) anschaulicher und leichter verständlich beantwortet. Beim Einsatz der Blockchain etwa für Grundbucheinträge bin ich skeptisch. Sie wird in drei Jahren noch kaum im Einsatz sein. Grundsätzlich rate ich allen Personen, die mit juristischen Tätigkeiten ihr Leben verdienen und länger als drei Jahre unterwegs sein wollen, sich mit Legal Tech zu beschäftigen.

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