Internet
10.06.2015
Ringen um Netzneutralität
1. Teil: „Kommt das Zweiklassen-Internet?“

Kommt das Zweiklassen-Internet?

Ladebalken Geschwindigkeit Schnecke und GepardLadebalken Geschwindigkeit Schnecke und GepardLadebalken Geschwindigkeit Schnecke und Gepard
iStock / Apatsara
Wenn es nach den Netzbetreibern geht, dann gibt es bald eine Internet-Maut. com! professional geht dem Thema Netzneutralität auf den Grund und beleuchtet das Für und Wider.
  • Thorsten Dirks, CEO Telefónica Deutschland: „Denken Sie an das selbstfahrende Auto! Welche Daten haben Vorrang: die, die das Auto steuern oder die der Tochter, die auf dem Rücksitz Musik streamt? Wir müssen bestimmten Daten Vorrang geben können.“
Den freien Zugang zum Internet finden die meisten Nutzer längst selbstverständlich. Doch die Ära des World Wide Web ist bedroht und wird womöglich durch eine Art Provider-Web abgelöst. Entsprechende Gesetze und Verordnungen werden derzeit in der EU diskutiert. Die USA hingegen haben jüngst Regeln pro Netzneutralität verabschiedet.
Die Vision einiger Netzbetreiber besteht in voneinander unabhängigen Datennetzen mit unterschiedlichen Inhalten, die von wenigen Anbietern kontrolliert werden. Eine Motivation dafür sind technische Engpässe. Im Zeitalter von Netflix, Youtube und IPTV gelangt die technische Infrastruktur des Internets zunehmend an ihre Grenzen. Netzbetreiber wie die Deutsche Telekom müssen viel Geld in die Hand nehmen, um ihre Netze entsprechend auszubauen.
  • Quelle:
    Mediarise
Zur Refinanzierung bieten sich drei Strategien an. Die erste: eine deutliche Preisanhebung für Internetzugänge und Flatrates. Die zweite: unterschiedliche, vom Datenvolumen abhängige Tarife, wie sie bei Mobilfunkbetreibern schon lange gängig sind. Die dritte:  Die Netzbetreiber beteiligen Unternehmen wie Google an den Kosten und befördern im Gegenzug deren Dienste bevorzugt oder verlangsamen gar die Angebote der Konkurrenz.
Dieser dritten Strategie hätte eine EU-Verordnung den Weg geebnet, wäre sie nicht vom Europäischen Parlament zurückgewiesen worden. Derzeit versuchen Rat und Parlament, eine Einigung zu erzielen.
2. Teil: „Was heißt Netzneutralität?

Was heißt Netzneutralität?

  • Nico Lumma, Co-Vorsitzender D64
Den Begriff Netzneutralität hat der amerikanische Programmierer Tim Wu bereits 2002 geprägt. Es gibt jedoch unterschiedliche Definitionen, was Netzneutralität eigentlich bedeutet. Bei Wikipedia heißt es nüchtern: „Netzneutralität bezeichnet die Gleichbehandlung von Daten bei der Übertragung im Internet und den diskriminierungsfreien Zugang bei der Nutzung von Datennetzen.“
Barbara van Schewick, Informatikerin und Rechtswissenschaftlerin an der Stanford Law School, schreibt: „Das Internet stellt aufgrund des End-to-End-Prinzips ein neutrales Netzwerk dar, das nicht in der Lage ist, Anwendungen an seinen Rändern auszuschließen oder ihre Ausführung zu behindern. Gegenläufig dazu wird es Netzbetreibern im Zuge neuer technologischer Entwicklungen möglich, bestimmte Anwendungen unter der Verletzung der End-to-End-Architektur des Internets zu diskriminieren.“
Sie definiert die Netzneutralität also über das Ende-zu-Ende-Prinzips des Internets. Zu den neuen Techniken gehört etwa Deep Packet Inspection, mit der sich auslesen lässt, welche Art von Daten in einem Netzpaket stecken.
Tabelle:

La Quadrature du Net, eine französische Nichtregierungs­organisation, die sich für Bürgerrechte im Internet einsetzt, meint: „Netzneutralität bedeutet, dass das Internet keine Torwächter hat. Das umfasst alle Bereiche, die mit dem Informationsfluss im Internet zu tun haben, wie freie Rede, Zugang zu Wissen, Copyright und Innovation. Dank dieses Prinzips behält jeder die Freiheit, beliebige Informationen abzurufen oder zu produzieren.“
Hier geht es also darum, dass es keine Instanz geben darf, die bestimmt, welche Daten im Netz übertragen werden und welche nicht, dass also die Netzbetreiber lediglich als Weiterleiter von Informationen fungieren.
3. Teil: „Nicht schlüssige Argumente

Nicht schlüssige Argumente

  • Helmut Heinen, Präsident des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV): „Es darf keine Mehrklassengesellschaft etwa nach Größe oder Finanzkraft der Inhalte-Anbieter geben.“
Die Diskussion verläuft nicht immer sachlich. So stellte Günther Oettinger, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft, im Bezug auf die Netzneutralität „Taliban-ähnliche Entwicklungen“ in Deutschland fest.
In der öffentlichen Diskussion um die Netzneutralität werden immer wieder Argumente vorgebracht, die sich bei näherem Hinsehen als nicht schlüssig erweisen.
  • Gleichbehandlung aller Datenpakete: Häufig wird Netzneu­tralität gleichgesetzt mit der Forderung, alle IP-Pakete gleichberechtigt zu behandeln. Diese generelle Gleichberechtigung ist allerdings weder gegeben noch erwünscht. Unternehmen nutzen nämlich Techniken zum Monitoring, zur Lastverteilung oder zur Abwehr von Gefahren wie Denial-of-Service-Angriffen, indem sie die Datenpakete gerade nicht gleichbehandeln. Auch VoIP-Pakete werden bevorzugt behandelt, anders wäre eine störungsfreie Telefonie gar nicht möglich.
  • Das Zweiklassen-Internet gibt es schon: Argumentiert wird, in den Internet-Protokollen IPv4 und IPv6 seien unterschied­liche Geschwindigkeiten ausdrücklich vorgesehen. Ausschlaggebend für Netzneutralität ist aber, dass der Kunde entscheidet, was priorisiert wird, nicht der Netzbetreiber.
  • Netzneutralität verhindert den Netzausbau: Netzriesen wie die Telekom führen gern ins Feld, durch das erhöhte Datenaufkommen seien ungeheure Investitionen nötig, die es zu refinanzieren gelte. Doch hat die Telekom das Netz aus Kupferleitungen einst zum Nulltarif erhalten und hätte genug Zeit und Geld gehabt, diese nach und nach durch leistungsfähige Glasfaseranbindungen zu ersetzen. 
  • Netzneutralität verhindert neue Geschäftsmodelle: Das Gegenargument lautet schlicht: Bislang war das Internet weitgehend neutral, was Geschäftsmodellen von Amazon bis Zattoo offenbar nicht im Weg stand.
4. Teil: „Pro und contra Netzneutralität “

Pro und contra Netzneutralität

  • Philipp Blank, Corporate Communications, Deutsche Telekom AG
Die Befürworter einer Netzneutralität im engen Sinn wollen die Netzwerke auf den bloßen Datentransfer beschränken. Das Netz soll transparent sein. Es soll die Daten, die es transportiert, nicht beobachten, filtern oder transformieren, sondern blind sein gegenüber dem Inhalt der Pakete.
Netzneutralität garantiert, dass sich neue Inhalte, Angebote und Dienste auch kleiner Anbieter im Internet durchsetzen können, und begegnet der Gefahr einer Zersplitterung des Internets. Nicht das Netz an sich erschafft Werte, sondern seine Nutzer und deren Anwendungen.
Angesichts der massiven wirtschaftlichen Interessen der Netzbetreiber kann nur eine gesetzliche Verpflichtung zur Netzneutralität die Wahrung des Prinzips gewährleisten. Andernfalls droht die Diskriminierung von Inhalte-Anbietern oder der Ausschluss vor allem kleinerer Wettbewerber auf Content-Märkten. Für die Nutzer wäre dann nicht erkennbar, ob eine Webseite vielleicht nur deswegen nicht mehr aufgerufen werden kann, weil der Anbieter keinen Vertrag mit dem eigenen Provider hat.
  • Datenvolumen in deutschen Mobilfunknetzen: Das Datenvolumen soll sich innerhalb von fünf Jahren nahezu verzehnfachen.
Für Netzneutralität treten auch große Unternehmen wie Google und Microsoft ein, die bislang einen signifikanten Anteil des weltweiten Datenverkehrs verursachen, ohne für die Kosten aufzukommen.
Nicht eingeschränkt werden muss die Netzneutralität auch für neue Dienste, etwa im medizinischen Sektor, bei denen ein bevorzugter Datentransport sinnvoll erscheint – sofern diese neuen Dienste nicht über das Internet, sondern in einem eigenen Netzwerk laufen.
Tabelle:

5. Teil: „Netzneutralität soll Fortschritt bremsen“

Netzneutralität soll Fortschritt bremsen

  • Joe McNamee, Executive Director, European Digital Rights (EDRi)
Die Gegenauffassung wird in erster Linie von den Netzbetreibern vertreten, die ihre Investitionen in die Bereitstellung der Netze amortisieren oder eigene Angebote bevorzugt transportieren wollen. Sie führen an, eine Verpflichtung zur Netzneutralität verhindere den weiteren Ausbau der Breitbandnetze und führe bei den Verbrauchern zu höheren Anschlussgebühren.
Wirtschaftspolitiker in Europa halten mehrheitlich eine gesetzliche Verpflichtung zur Wahrung der Netzneutralität für entbehrlich, die bisherigen Regeln seien ausreichend. Die Befugnisse, gegen Preisabsprachen und Monopole vorzugehen, seien längst vorhanden. Vom Netzwerkmanagement, etwa in Form der Qualitätsdifferenzierung, werden vielmehr positive ökonomische Effekte erwartet. Es wird davon ausgegangen, dass der Wettbewerb unter den Netz­betreibern für eine Aufrechterhaltung des offenen Internets sorgen wird.
Ein weiteres Argument: Empfindliche Dienste wie etwa Videokonferenzen oder Sicherheitssysteme müssten bevorzugt werden, um reibungslos zu funktionieren. Bei E-Mails hingegen sei es egal, wenn sie etwas später ankommen.
Immer wieder hört man auch, dass sich mit der Regulierung eigentlich ja gar nichts ändern würde – dann wäre sie aber auch nicht nötig.
Tabelle:

6. Teil: „Lösungen zur Netzneutralität im Vergleich“

Lösungen zur Netzneutralität im Vergleich

  • Netzneutralität in Europa: Nur in zwei Ländern gibt es bislang gesetzliche Regelungen.
In den USA hat die zuständige Federal Communications Commission (FCC) am 26. Februar 2015 ein Regelwerk verabschiedet, das die Netzneutralität weitgehend festschreibt. Den Providern wird es darin untersagt, legale Inhalte, Anwendungen oder Dienste zu blockieren oder zu verlangsamen. Zudem dürfen sie keine Mautstellen einrichten, die zahlenden Nutzern den Zugang zu einer Überholspur gewähren.
Zum Thema Spezialdienste heißt es, dass Datendienste, die nicht über das öffentliche Internet laufen und somit nicht als Angebote von Breitbandanbietern verstanden werden können, von dem Regelwerk nicht erfasst werden. Eine Hintertür bleibt also offen.
Erstmals werden Breitbandanbieter wie Telekommunikationsanbieter eingestuft und unterliegen damit strengeren Rechtsnormen. Mehrere Unternehmen wie AT&T und Verizon haben bereits Klage gegen das Regelwerk angekündigt.

Netzneutralität in der EU

  • Schnelles Internet: Bei der durchschnittlichen Internet-Geschwindigkeit liegt Deutschland weit hinten.
In den Niederlanden und in Slowenien ist die Netzneutralität gesetzlich verankert, in Frankreich ist eine entsprechende Gesetzgebung auf den Weg gebracht.
Auf EU-Ebene herrscht ein zähes Ringen zwischen Europäischem Rat, der die Netzneutralität aufweichen will, und Europäischem Parlament, das mehrheitlich eine strikte Netzneutralität verankern will.
In der Beschlussvorlage des Europäischen Rats von Anfang März 2015 heißt es, dass es Providern gestattet werden soll, „Spezialdienste zu verkaufen, die eine besondere Qualitätsstufe benötigen“.
Im Entwurf des EU-Parlaments steht, dass „der gesamte Internetverkehr gleich und ohne Diskriminierung, Einschränkung oder Störung unabhängig von Absender, Empfänger, Art, Inhalt Gerät, Dienst oder Anwendung behandelt“ wird.  Wie die Verhandlungen ausgehen werden, ist offen. Als weltweit erstes Land hat übrigens Chile bereits im Juli 2010 ein Gesetz zur Wahrung der Netzneutralität verabschiedet.

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