Business-IT
19.12.2019
Vorbild Schweiz
1. Teil: „Der Kampf um die guten Mitarbeiter“

Der Kampf um die guten Mitarbeiter

WorkplaceWorkplaceWorkplace
GoodStudio / shutterstock.com
Fachkräfte sind schwer zu finden. Mit den richtigen Ideen lockt und hält man sie. Dazu gehört auch, das Arbeitsumfeld möglichst attraktiv zu gestalten.
Fachkräfte sind in der Informatik nach wie vor sehr gesucht. Mit der zunehmenden Digitalisierung von Unternehmen fällt es der IKT-Wirtschaft schwer, an die begehrten Spezialistinnen und Spezialisten zu kommen. Der Mangel an geschultem Personal bremst die Branche - und zwar deutlich mehr als alle anderen Faktoren. Nach einer Umfrage unseres Schwestermagazins „Computerworld“ erachten sieben von zehn befragten Entscheiderinnen und Entscheider in der Schweiz den Fachkräftemangel als den Bremsklotz für das Business schlechthin. Der Anteil stieg im Vergleich zum vergangenen Jahr sogar noch um einige Prozentpunkte.
Interessant ist: Obwohl man in der Branche über eine Abkühlung des Marktes diskutiert, scheint das Geld bei den Kunden wieder lockerer zu sitzen. Den Anbietern sollte es an Aufträgen also nicht mangeln. Sehr wohl aber an den personellen Ressourcen, um diese auszuführen.

Mitarbeiter bei der Stange halten

Unternehmen müssen sich also etwas einfallen lassen, um an die besten Leute zu kommen. So schraubt etwa der Großteil der Schweizer Firmen an den hauseigenen Konditionen. Man sorgt unter anderem für angenehme Arbeitsplätze oder nutzt ein transparentes und faires Lohnmodell. Gefördert wird oft auch die innerbetriebliche Aus- und Weiterbildung.
Bei solchen Maßnahmen gehe es nicht nur um das Rekrutieren von Fachkräften, sagt Matthias Keller, CEO und Inhaber des IT-Dienstleisters UMB. „Viel wichtiger ist es, dass Kolleginnen und Kollegen langfristig im Team bleiben. Sie sollen sich begeistert engagieren können und die Möglichkeit haben, sich im Unternehmen laufend weiterzuent­wickeln.“ Er bemängelt, dass man stets primär davon spreche, wie schwierig es sei, neue Mitarbeiter zu rekrutieren. „In erster Linie sollte man ein Umfeld schaffen, in dem alle eine motivierende Zeit haben und mit dem die Fluktuationsrate möglichst niedrig gehalten werden kann.“ Diese bewegte sich bei UMB in den vergangenen Jahren stets zwischen
5 und 7 Prozent.
2. Teil: „Unternehmen auf dem Prüfstand“

Unternehmen auf dem Prüfstand

  • Fragestellung: "Welche Faktoren sehen Sie in den nächsten zwei Jahren als Bremsklötze im IKR-Sektor?"
    Ohne qualifizierte Mitarbeiter geht nichts: Für die Mehrheit der Unternehmen ist der Fachkräftemangel die größte Bremse.
    Quelle:
    ICT Analytics, n = 316 (2019), n = 301 (2018), bis zu fünf Mehrfachnennungen
Wie gut die Bedingungen bei einem Arbeitgeber wirklich sind, das lässt sich heute ziemlich einfach mit Portalen wie Kununu oder Glassdoor herausfinden. Solche Firmenbewertungsplattformen bieten aktuellen oder ehemaligen Mitarbeitern die Möglichkeit, den Arbeitgeber anhand diverser Kriterien zu bewerten. Wer sich also bei einem Unternehmen bewerben will, der bekommt dank dieser Plattformen ungeschminkte Informationen über den potenziellen Arbeitgeber. Die Auszeichnung „Great Place to Work“ erhalten qualifizierte Arbeitgeber vom gleichnamigen Institut. Organisationen ab 20 Personen können dort mitmachen. Für das Ranking werden die Mitarbeiter der teilnehmenden Firmen anonym zu ihrer Meinung über den Arbeitgeber befragt.
Das Team von UMB wurde bereits dreimal hintereinander vom „Great Place to Work“-Institut als bester Arbeitgeber der Schweiz in der Kategorie der mittelgroßen Unternehmen ausgezeichnet (50 bis 249 Mitarbeiter). 2020 wird sich das UMB-Team in der Kategorie der Firmen mit mehr als 250 Angestellten erstmals mit den Großunternehmen messen. Denn das Unternehmen ist mitlerweile gewachsen. Laut Matthias Keller arbeiten an den acht Standorten der IT-Firma inzwischen insgesamt über 360 Kolleginnen und Kollegen. Auf die Begriffe „Angestellte“ oder „Mitarbeiter“ verzichtet der UMB-Chef übrigens bewusst.
Außerdem erreichte UMB 2018 im Ranking der besten Arbeitgeber Europas - ebenfalls erstellt vom „Great Place to Work“-Institut - aus 2.800 geprüften Unternehmen den sechsten Rang. Für Keller ist klar, dass solche Auszeichnungen und positiven Bewertungen beispielsweise auf Kununu dabei helfen, potenzielle Kolleginnen und Kollegen vom Unternehmen zu überzeugen. „In Bezug auf die Strahlkraft des Unternehmens hilft uns das natürlich enorm“, sagt der Unternehmer. Denn in der IKT-Branche werde nicht nur um die Kunden, sondern auch um die guten Talente gekämpft.

Langjähriger Prozess

Solche Auszeichnungen gibt es laut Keller nicht von heute auf morgen. „Vor zehn Jahren haben wir uns zum Ziel gesetzt, bis 2020 vom ‚Great Place to Work’-Institut zum besten Arbeitgeber Europas gekürt zu werden“, erklärt der CEO. Da ist er mit UMB noch nicht ganz angekommen. „Aber es hat dazu geführt, dass wir uns Jahr für Jahr in Workshops, Führungstrainings und Teamzufriedenheitsumfragen laufend hinterfragt haben. Die guten Resultate, die wir dabei erzielt haben, haben wir als Motivationsspritze genommen, um uns weiter zu verbessern.“
Sein Team kann zudem über ein Innovationsportal jederzeit Verbesserungsvorschläge einreichen. Mehrere davon werden jedes Jahr umgesetzt - beispielsweise ein neues Arbeitszeitmodell, nachdem Anpassungen und Verbesserungen gewünscht wurden. „Aufgrund des Feedbacks aus dem
Team haben wir dieses vor zwei Jahren komplett überarbeitet. Das neue Modell bietet nun deutlich mehr Flexibilität und unternehmerische Eigenverantwortung“, berichtet Keller.
Wie viele andere Firmen setzt auch der UMB-Chef zur Mitarbeiterbindung auf Aus- und Weiterbildung. Die eigene UMB Academy werde intensiv zum internen Austausch von Know-how genutzt. Die Firma engagiert aber auch externe Referenten und bietet für das Team Kurse an, die über das Technische hinausgehen - von Persönlichkeitsentwicklung über Präsentations-Skills bis zur Ernährungslehre. Eine weitere Änderung betraf das Ausbildungsbudget. Es wurde gänzlich abgeschafft. Keller zufolge hat jeder Teamleader nun ohne Budgetrestriktion freie Hand, mit jeder Kollegin und jedem Kollegen individuell zu entscheiden, wie viel Zeit in die Ausbildung investiert werden soll. „Dadurch sind unsere Ausgaben für die Aus- und Weiterbildung zwar deutlich gestiegen, aber das kommt dem Unternehmen schließlich wieder zugute.“
3. Teil: „Soziale Verantwortung“

Soziale Verantwortung

Im Frühjahr haben Kununu und Pro Familia Schweiz, der Dachverband der Familienorganisationen, ausgewertet, welche Schweizer Arbeitgeber im Hinblick auf Familienfreundlichkeit mit Vorbildfunktion vorangehen. An die Spitze des Rankings schaffte es die Web- und App-Agentur Liip, die 2007 aus der Fusion von Mediagonal aus Freiburg und Bitflux aus Zürich hervorging. In die Auswertung wurden Arbeitgeber einbezogen, die innerhalb eines Jahres mindestens eine Bewertung auf Kununu bekamen und insgesamt mindestens 80 Bewertungen erhielten. „Wir sehen uns als soziale Unternehmer, die etwas für die Gesellschaft tun wollen“, betont Nadja Perroulaz. Sie gründete Liip gemeinsam mit Christian Stocker, Gerhard Andrey und Hannes Gasser.
Einen Beitrag zum Thema Gleichstellung leistet die Web- und App-Agentur etwa, indem sie Vätern einen bezahlten Vaterschaftsurlaub von vier Wochen zuspricht. „Damit beabsichtigen wir auch, den jeweiligen Partnerinnen den Einstieg in das Berufsleben zu erleichtern. Väter können den Urlaub beispielsweise genau dann nehmen, wenn die Frauen wieder anfangen zu arbeiten“, erklärt Perroulaz.
Liip bemüht sich insgesamt um stimmige Konditionen für die Arbeitnehmer. Der Co-Founderin zufolge will die Firma ein Gesamtpaket bieten - unter anderem mit der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit, Jahresarbeitszeit, internen Weiterbildungsangeboten oder einem transparenten Gehaltssystem. Die Web- und App-Agentur mit Niederlassungen in der Deutsch- und Westschweiz gehört zudem zu 100 Prozent den Mitarbeitern und den Verwaltungsräten. Die Firma habe knapp 80 Aktionäre, die Nachfrage nach Liip-Papieren sei ungebrochen, freut sich Perroulaz. „Sobald jemand geht und die Aktien frei werden, gehen sie weg wie warme Milchbrötchen.“ Indem man Mitarbeiter zu Aktionären macht, will man bei Liip Verantwortungsbewusstsein und unternehmerisches Denken fördern.

Moderne Organisation

Zum Gesamtpaket gehört auch, dass im Unternehmen nach dem holokratischen Modell gearbeitet wird - einer Methodik für Selbstorganisation. Grundsätzlich geht es bei diesem Modell darum, Kompetenzen anders zu organisieren. Entscheidungen werden dort gefällt, wo die Kompetenz liegt. „Man will wegkommen vom Denken, dass die Person, die am längsten dabei ist, immer alles besser weiß“, erklärt Perroulaz.
Gleichzeitig finde auch ein Umdenken von Jobs zu Rollen statt. Teammitglieder haben nicht einfach einen Job, sondern füllen verschiedene Rollen aus. Dabei verfügt jede Rolle über Entscheidungskompetenz und übernimmt die maximale Verantwortung. „Man muss keine Vorgesetzten im ‚Lustigen Leiterspiel‘ überzeugen, dass es eine gute Idee ist, etwas zu ändern“, erläutert die Liip-Mitgründerin.
Das sei ausschlaggebend gewesen für die Wahl von Holokratie als Organisa­tionsform. „Liip hatte schon von Anfang an eine flache Hie­rarchie. Wir haben aber bemerkt, dass es Bedarf an Struktur gibt, und nach einem Modell gesucht, das nicht den klassischen Prinzipien von Hierarchie und Macht entspricht.“ Vorteilhaft am holokratischen Modell sei beispielsweise, dass die klassische Karriereleiter nicht mehr existiere. So riskiert man zum Beispiel mit einer Babypause oder einer längeren Auszeit keinen Karriereknick.
Organisiert ist Liip seit 2016 nach diesem System. Der Mitgründerin zufolge hat das Team dies befürwortet. Bereits zuvor sei dafür eine Basis gelegt worden, da man mit agilen Projektmethoden wie Scrum gearbeitet und Erfahrungen mit Cross-functional-Teams und -Gilden gesammelt habe. „Klar gab es, wie bei jedem Change, auch Befürchtungen und Zurückhaltung. Grundsätzlich herrschte aber eine sehr positive Einstellung.“ Der Knackpunkt bei der Einführung solcher Systeme sei vielmehr das Führungsteam, ist Perroulaz überzeugt. „Grundvoraussetzung dafür ist, dass es bereit ist, die ‚Kontrolle‘ oder ‚Macht‘ abzugeben. Wenn man dazu nicht bereit ist, dann funktionieren solche Modelle nicht.“
4. Teil: „Rücksicht auf Work-Life-Balance“

Rücksicht auf Work-Life-Balance

  • Attraktives Umfeld: Auf diese Weise versuchen die meisten Unternehmen, Fachkräfte anzulocken.
    Quelle:
    ICT Analytics, n = 135 (2019), bis zu fünf Mehrfachnennungen
Der ERP-Spezialist Opacc war das erste „Friendly Work Space“-zertifizierte IT-Unternehmen der Schweiz. 2016 erhielt Opacc das Label erstmals von der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz. Laut Stiftung engagieren sich Friendly-Work-Space-Betriebe systematisch für gute Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiter. Die Vergabe des Zertifikats basiert auf einem Assessment, das von externen Experten durchgeführt wird. Bei Opacc baute man dazu ein betriebliches Gesundheitsmanagement auf und verankerte dieses in der Unternehmensführung. Seit Jahren pflegt der Software-Hersteller außerdem eine Work-Life-Balance-Strategie.
Im Herbst letzten Jahres bezog Opacc seinen Campus in Rothenburg im Kanton Luzern. Im Neubau arbeitet man seither unter einem Dach, zuvor war die Firma auf fünf Standorte verteilt. Der Opacc-Campus ist zunächst für rund 220 Mitarbeiter ausgelegt, bietet aber auf dem eigenen Gelände ein Ausbaupotenzial für weitere 400 Personen.
Beat Bussmann, der CEO von Opacc, kann sich gut vorstellen, dass der Bezug der neuen Räumlichkeiten zu mehr Bewerbungen geführt hat. „Der Campus kommt eigenständig daher und adressiert mit dem Raum- und Arbeitskonzept die aktuellen Vorstellungen vom optimalen Arbeitsplatz.“ Nebst dem Standort und dem Arbeitsumfeld im neuen Campus bietet Bussmann seinen Leuten unter anderem flexible Arbeitszeiten, bezahlte Sabbaticals, unbezahlten Urlaub, Jahresarbeitszeit oder Homeoffice. Seiner Meinung nach sind jedoch fordernde und abwechslungsreiche Aufgaben nach wie vor die Grundlage, um langfristig als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben. Deshalb stelle Opacc auch gleichwertige Modelle für Führungs- und Fachkarrieren zur Verfügung.

Investition in die Zukunft

Laut Opacc-Gründer Bussmann bildet der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens die Grundlage dafür, die eigenen Vorstellungen eines Arbeitsplatzes und eines erfolgreichen Unternehmens leben zu können. „Insofern sind solche Investitionen auch Zukunftsprojekte, die den langfristigen Erfolg ebenso absichern wie die langfristige Selbstbestimmung als Unternehmen.“ Matthias Keller von UMB sieht das ähnlich und stellt hierbei auch eine andere Ausrichtung inhabergeführter Firmen fest. „Personalentscheide oder Investitionen werden womöglich im Bewusstsein getätigt, dass die Bestrebungen nicht das nächste Quartal besser machen, sich aber mittel- bis langfristig auszahlen werden.“ Keller resümiert: „Jeder Franken ist gut angelegt, den wir bei UMB in unseren ‚Great Place to Work‘ investieren.“
Die beschriebenen Konzepte scheinen bei den drei Unternehmen in puncto Fachkräfte-Rekrutierung jedenfalls aufzugehen: Opacc konnte in den letzten zwölf Monaten 18 offene Stellen besetzen. Liip rekrutierte im vergan­genen Geschäftsjahr 21 neue Mitarbeiter. Und bei UMB waren es sogar über 80.
Holacracy
Holacracy ist ein System, in dem man Arbeit auf dezen­trale Weise steuern kann.
Die Arbeit wird im holokratischen System in sogenannten Kreisen selbst organisiert. Mitarbeiter können in den verschiedenen Kreisen Rollen innehaben und entsprechend Arbeit verrichten. Im Holacracy-Konzept führen Personen keine Mitarbeiter, sondern Rollen. Eine Verfassung definiert die wichtigsten Regeln für die Organisation. Jedes Unternehmen muss auf Basis dieser Verfassung eine eigene Governance schaffen, nach der Rollen und Richtlinien beschrieben werden. Wer Holacracy einführen will, muss einen langen Atem haben. Bis alle Mitarbeiter in der neuen Struktur angekommen sind, können Jahre vergehen.
Eine Reorganisation nach dem Holacracy-Modell erfordert daher das absolute Commitment der Geschäftsleitung. Schließlich geht es um einen tief greifenden Transformationsprozess. Der Rahmen, wie man mit anderen zusammenarbeitet, wie Entscheidungen getroffen werden, ändert sich, was Probleme im Arbeitsalltag nach sich ziehen kann. Konflikte ergeben sich etwa durch alte Muster, die sich in der Zusammenarbeit festgesetzt haben. Das können beispielsweise alte Machtstrukturen sein, die als Schattensysteme weiterbestehen. Führungskräfte müssen daher loslassen und ihren Mitarbeitern vertrauen können. Diese wiederum müssen eine hohe Eigenmotivation mitbringen. Das kann zu hohem Druck führen und mitunter die Leute überfordern, warnen Fachleute.
Wegen der hohen Komplexität lässt man die Reorganisation zu einem Holacracy-Modell am besten von externen Coaches begleiten. Übrigens gibt es die Idee der sich selbst organisierenden Teams schon länger, sie wird in unterschied­lichen Formen angewandt.

mehr zum Thema